Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Huebener, M. & Marcus, J. (2015). Moving up a Gear: The Impact of Compressing Instructional Time into Fewer Years of Schooling. DIW Berlin, Discussion Paper Series, No. 1450, 1–37.FIS BildungDie Verkürzung der gymnasialen Schulzeitdauer (G8) wird in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, die Schaffung einer verlässlichen empirischen Befundlage zu den Reformwirkungen befindet sich noch in den Anfängen. Ergebnisse darüber, inwiefern die Schulzeitverkürzung Auswirkungen auf die Klassenwiederholungen, das Abiturientenalter und die Abiturientenquote haben, liegen bislang nicht vor. Die Autoren des rezensierten Beitrags untersuchen diese Aspekte, indem sie amtliche Daten aller Schülerinnen und Schüler der Abiturjahrgänge 2002 bis 2013 auswerten. Sie analysieren, inwiefern sich die G8-Reform auf das durchschnittliche Absolventenalter, die Klassenwiederholung und die Abiturientenquote auswirkt.
Dabei zeigt sich: Das Alter der Absolventinnen und Absolventen sinkt durch die Einführung von G8 um durchschnittlich 10 Monate. Zudem erhöht sich durch die Reform die Wahrscheinlichkeit einer Klassenwiederholung um 3,1 Prozentpunkte. Jungen sind dabei stärker betroffen als Mädchen. Die Reform wirkt sich jedoch nicht negativ auf die Abiturientenquote aus. Aufgrund der Studienanlage haben die Ergebnisse eine hohe Aussagekraft.
Ein Großteil der Bundesländer hat im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. Ein primäres Ziel dabei war die Senkung des im internationalen Vergleich hohen Absolventenalters zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Absolventinnen und Absolventen und die Ermöglichung ihres früheren Eintritts in den Arbeitsmarkt. Dies sollte zugleich eine Maßnahme angesichts des demografischen Wandels darstellen, da ein früherer Arbeitsmarkteintritt eine Erhöhung der Anzahl der Beitragsjahre im Sozialversicherungssystem nach sich ziehe. Zur Frage, inwiefern durch die Einführung der G8-Reform tatsächlich das durchschnittliche Abiturientenalter gesenkt werden konnte sowie die Klassenwiederholungs- und Abiturientenquote beeinflusst wird, existieren bislang keine Befunde. Der Beitrag von Huebener und Marcus (2015) beschäftigt sich mit diesen Fragestellungen auf der Basis der Auswertung von amtlichen Daten des Statistischen Bundesamts.
In der Einleitung greifen die Autoren den in diesem Kontext bedeutsamen Diskurs zur verkürzten Schulzeitdauer auf. Sie stellen heraus, dass zwischen den Jahren 2001 und 2007 insgesamt 13 der 16 Bundesländer gesetzliche Änderungen zur Verkürzung der gymnasialen Schulzeitdauer vorgenom-men haben.
Im zweiten Kapitel werden Informationen über das deutsche Bildungssystem und zur Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien in den einzelnen Bundesländern gegeben. Die Autoren zeigen, dass trotz der verkürzten Schulzeit von 13 auf 12 Jahre die Anzahl der Schulwochenstunden gleich geblieben ist. Außerdem stellen sie dar, dass die Unterrichtszeit besonders in den Jahrgängen 8-10 zugenommen hat. Weiterhin streifen sie den öffentlichen Diskurs zur G8-Reform, in welchem unter anderem durch die Verdichtung der Schulzeit Nachteile im Hinblick auf das Freizeitverhalten der Schülerinnen und Schüler befürchtet werden.
Im dritten Kapitel erläutern die beiden Autoren zunächst mit Hilfe mathematischer Formeln das Prinzip der gymnasialen Schulzeitverkürzung: Ziel ist die Senkung des Absolventinnen- und Absolventenalters durch die Verkürzung der Schulzeit um ein Jahr bei gleichbleibender Anzahl an Schulwochenstunden und der damit verbundenen Zunahme der durchschnittlichen Unterrichtszeit. Hieran anknüpfend rezipieren sie verschiedene bildungspolitisch zu initiierende Möglichkeiten zur Senkung des Absolventinnen- und Absolventenalters (z.B. Senkung der Dauer der Schulpflicht) und diskutieren damit verbundene Vor- und Nachteile, welche teilweise argumentativ und teilweise unter Bezugnahme auf Studienergebnisse abgeleitet werden. Weiterhin rekurrieren sie auf bisherige Forschungsbefunde zur G8-Reform, in welchen datengestützte Aussagen über die Abschlussnoten, die Einschreibungsquote an Hochschulen und Persönlichkeitsmerkmale der Abiturientinnen und Abiturienten getroffen werden: demnach gibt es Hinweise auf schlechtere Abschlussnoten im Fach Mathematik (Büttner und Thomsen 2015), eine niedrigere Einschreibungsquote bei weiblichen Studierenden (Meyer und Thomsen 2012) und Persönlichkeitsmerkmale (Big Five), Kontrollüberzeugungen und Selbstkontrolle (Thiel et al. 2014). In diesem Zusammenhang diskutieren sie die limitierte Aussagekraft dieser Studien, wonach aufgrund des jeweiligen Studiendesigns viele weitere und potenzielle ergebnisverzerrende Einflussfaktoren möglich seien (z. B. generelle Veränderungen über die Geburtskohorten hinweg, Einfluss anderer Bildungsreformen). Davon leiten sie auf ihr eigenes Studiendesign im sog. Difference-in-Difference-Ansatz über (Näheres hierzu unter “Design“), welches aufgrund der Betrachtung mehrerer Abiturjahrgänge und mehrerer Bundesländer viele mögliche Ein-flussfaktoren kontrolliere.
Zur Beantwortung ihrer Fragestellungen rekurrieren die Autoren auf amtliche Daten des Statistischen Bundesamts mit Informationen über alle Schülerinnen und Schüler der Abiturjahrgänge 2002 bis 2013 aus den einzelnen Bundesländern. Sie betonen an dieser Stelle drei Vorteile ihres Designs: 1) es handelt sich um eine Populationsstudie, 2) die Informationen über den erfolgreichen Abschluss der Gymnasialschulzeit und die Klassenwiederholung beruhen nicht auf Berichten der Absolventinnen und Absolventen, sodass dieser verzerrende Einfluss ausgeklammert werden kann und 3) die Datenqualität ist als hoch einzuschätzen, da die Schulen per Gesetz zur Informationsweitergabe an die zuständigen Behörden verpflichtet sind. Daten der Bundesländer Hessen und Niedersachsen bleiben jedoch aufgrund von Datenrestriktionen unberücksichtigt.
Im Rahmen ihrer Analysen können sie auf einen Datenpool von 2,2 Millionen bis 2,35 Millionen An-gaben zu den jeweils untersuchten Variablen zurückgreifen. Für die Auswertung benutzen sie einen regressionsbasierten Difference-in-Difference-Ansatz, um die Reformwirkungen in den einzelnen Bundesländern zu schätzen. Der Difference-in-Difference-Ansatz wird vor allem in der (Bildungs-)Ökonomie gebraucht, um kausale Effekte einer Intervention (z. B. einer Reform) zu schätzen. Es handelt sich um ein Verfahren, das insbesondere dann genutzt wird, wenn eine zufällige Verteilung von Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmern auf eine Versuchs- und Kontrollgruppe nicht möglich ist. Bei diesem Verfahren wird eine bereits definierte Personengruppe (z. B. Abiturientinnen und Abiturienten eines Bundeslandes X) als Versuchs- und eine andere bereits definierte Personengruppe (z. B. Abiturientinnen und Abiturienten eines Bundeslandes Y) als Kontrollgruppe bestimmt. Anschließend wird der Trend für das interessierende Merkmal (hier: z. B. Klassenwiederholungsquote) innerhalb der Gruppe mit Intervention (hier: Bundesländer mit/nach G8-Reform) mit dem Trend innerhalb einer Gruppe ohne Intervention (hier: Bundesländer ohne/vor G8-Reform) unter der Annahme gleicher Entwicklung in beiden Gruppen verglichen. Zur Überprüfung der Gültigkeit der Reformeffekte führen die Autoren mehrere Robustheitsprüfungen durch.
Zu den in die Analyse einfließenden Variablen zählen das Geburtsjahr der Absolventinnen und Absolventen, die Klassenwiederholungsquote pro Jahrgang und die Absolventinnen- und Absolventenquote. Sie werten diese auch unter Berücksichtigung anzunehmender Geschlechtsunterschiede aus.
Im Hinblick auf Entwicklung des Abiturientenalters ist zu beobachten, dass im Zusammenhang mit der Einführung von G8 in den einzelnen Bundesländern das Alter der Absolventinnen und Absolventen im Durchschnitt um 10,3 Monate auf 18,74 Jahre gesunken ist. Die Autoren diskutieren, warum dieser Effekt statistisch bedeutsam unterhalb der möglichen Reduktion des Alters um zwölf Monate liegt. Sie nehmen an, dass eine größere Anzahl an Schülerinnen und Schülern die Klasse wiederholt hat.
Diese Annahme bestätigt sich in den Daten: die Schulzeitzeitverkürzung hat in den Reformländern zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Klassenwiederholungen um 3,1 Prozentpunkte geführt. Dabei zeigen sich unterschiedliche Wirkungen für die einzelnen Bundesländer, die auf verschiedene Implementationsweisen der Reform, politische Rahmenbedingungen oder Schätzungenauigkeiten zurückgeführt werden können. Als allgemeine Tendenz zeigt sich jedoch über die Bundesländer hinweg, dass vor allem in der Oberstufe Klassenwiederholungen zugenommen haben. Die Wiederholungsquoten der Klassenstufen 7 bis 9 haben sich kaum verändert. Jungen sind davon allgemein häufiger betroffen als Mädchen. Die Autoren liefern für diese Unterschiede zwei Gründe: Zum einen weisen Ergebnisse vielfältiger Forschung auf bedeutsame Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen hin. Jungen schneiden demnach schlechter ab, sodass für sie die Wahrscheinlichkeit des Wiederholens höher ist. Zum anderen erscheinen Mädchen angesichts bestimmter, im Geschlechtervergleich günstiger ausgeprägter Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Selbstdisziplin) eher auf die Anforderungen der Schulzeitverkürzung vorbereitet zu sein. Trotz des Anstiegs der Klassenwiederholungen hat sich die Absolventinnen- und Absolventenquote durch die G8-Reform nicht bedeutsam geändert. Die beobachteten Effekte sind zudem über den Zeitverlauf stabil.
Die Autoren kommen zu dem Fazit, dass die Einführung der gymnasialen Schulzeitverkürzung auf der Grundlage der analysierten Aspekte weder als eindeutiger Erfolg nach als Misserfolg anzusehen ist. Die Reform habe keinen Einfluss auf die Anzahl der Siebtklässlerinnen und Siebtklässler, die ein Gymnasium besuchen, und auf die Anzahl an Absolventinnen und Absolventen. Letztere sind deutlich jünger als Absolventinnen und Absolventen vor der Reform. Die Reform führt demnach schneller zum Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. Dieses trifft jedoch nicht auf alle Schülerinnen und Schüler zu, da die Häufigkeit der Klassenwiederholungen zugenommen hat, insbesondere bei den Jungen.
Abschließend betonen die beiden Autoren die Dringlichkeit von Studien zur G8-Reform zu anderen Untersuchungsdimensionen (z.B. das tatsächliche Alter der G8-Schüler und G8-Schülerinneninnen bei Eintritt in den Arbeitsmarkt oder ihr Arbeitsmarkterfolg). Hierdurch könne ein umfassendes und verlässliches datengestütztes Bild auf die Reformwirkungen gezeichnet werden.
Zum Hintergrund: Die Studie greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es wird untersucht, inwiefern die Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien einen Einfluss auf das Alter der Absolventinnen und Absolventen, die Klassenwiederholungs- und Abiturientenquote besitzt. Die Autoren diskutieren die Relevanz dieser Fragestellungen vor dem Hintergrund des Diskurses zur verkürzten gymnasialen Schulzeitdauer. Dabei werden insbesondere ökonomische und demografische Aspekte thematisiert. Andere Diskursaspekte (z. B. Nachteile für das Freizeitverhalten) und damit verbundene Studienergebnisse werden (teilweise) beiläufig aufgegriffen, jedoch liegt ein starker Fokus auf der Rezeption bildungsökonomischer Studienergebnisse, ohne dass weitere, u. a. erziehungswissenschaftliche Untersuchungen im Kontext der G8/G9-Debatte Berücksichtigung finden. Dies erscheint jedoch aufgrund der Schwerpunktlegung der Arbeit auch nicht zwingend erforderlich zu sein, hätte der Leserschaft aber einen ganzheitlicheren Blick auf den derzeit noch überschaubaren Diskurs und damit zusammenhängende Befunde verschafft. Der erziehungswissenschaftliche Diskurs zur Klassenwiederholung und die damit verbundene differenzierte Forschungslage bleiben unberücksichtigt. Unter dem Gesichtspunkt der Fragestellungen kann die Darstellung des Forschungsstands als angemessen eingeschätzt werden. In diesem Teil überzeugt insbesondere die Forderung nach Forschungsarbeiten, die durch anspruchsvolle methodische Designs den G8-Reformeffekt angemessen modellieren. Für die eigene Untersuchung wird jedoch kein theoreti-sches Rahmenmodell zugrunde gelegt, wenngleich teilweise theoretische Bezüge hergestellt werden.
Zum Design: Die Instrumente werden ausführlich beschrieben. Die Datenaufbereitung wird angemessen und begründet berichtet. Die methodische Vorgehensweise ist sachgerecht und überzeugend angelegt. Die berücksichtigten Variablen erscheinen als geeignet.
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Geschlechterspezifische Ergebnisse werden diskutiert. Aufgrund fehlender Erkenntnisse über die Wirkung der Einführung des achtjährigen gymnasialen Bildungsgangs auf das Alter der Abiturientinnen und Abiturienten, die Klassenwiederholungs- und Absolventinnen- und Absolventenquote besitzen die Ergebnisse einen Erkenntnisgewinn mit praktischem Wert für den aktuellen bildungspolitischen Diskurs. Aufgrund der Datenqualität (Repräsentativität für Deutschland und die einzelnen Bundesländer) haben die Ergebnisse eine große Aussagekraft. Die Autoren diskutieren jedoch nicht, dass die Zunahme der Wiederholungsquoten in der gymnasialen Oberstufe auch durch die Abschaffung der Klassenwiederholung in der Sekundarstufe I mitbedingt sein könnte. Zudem wäre für zukünftige Studien eine bundeslandspezifische Analyse wün-schenswert.
Kultusministerium BW
Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW
Schulentwicklung NRW
Sie haben Fragen oder Anregungen?