Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Kielblock, S. & Gaiser, J. M. (2016). Mitarbeit von Lehrerinnen und Lehrern im Ganztagsbetrieb und ihre subjektiven Theorien zum pädagogischen Potenzial ihres ‚Mehr an Zeit‘. In N. Fischer, H. P. Kuhn & C. Tilack (Hrsg.), Was sind gute Schulen? Teil 4: Theorie, Forschung und Praxis zur Qualität von Ganztagsschulen (S. 122–137). Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag.FIS BildungAngesichts des Ganztagsausbaus der letzten Jahre untersuchen Kielblock und Gaiser, in welchem Umfang Lehrkräfte an Ganztagsschulen im Ganztag mitarbeiten und welche besonderen pädagogischen Potenziale sie aus ihrer Mitarbeit im Ganztag ableiten.
Der Umfang der Ganztagsmitarbeit wird anhand von Daten einer bundesweiten Fragebogenerhebung von 6.172 Lehrkräften aus dem Jahr 2009 ermittelt, wobei zusätzlich Längsschnittdaten eines Teils dieser Lehrkräfte (n = 2.598) aus den Jahren 2005 und 2007 analysiert werden. Die Untersuchung des pädagogischen Potenzials des Ganztags basiert auf Interviews mit vier Grundschullehrerinnen.
Während im Primarbereich drei Viertel der befragten Lehrkräfte im Ganztag mitarbeiten, sind es im Sekundarbereich mit knapp zwei Drittel etwas weniger. Im Primarbereich sind die Lehrkräfte jenseits der Durchführung außerunterrichtlicher Angebote tendenziell häufiger als im Sekundarbereich noch in anderen Bereichen des Ganztags aktiv (z. B. Organisation und Verwaltung). Insgesamt führen im Primarbereich 44 % und im Sekundarbereich 47 % der befragten Lehrkräfte außerunterrichtliche Ganztagsangebote durch, wobei die Mehrheit hierfür ein bis zwei Wochenstunden aufwendet.
Gemäß der interviewten Lehrerinnen ermöglicht die Mitarbeit im Ganztag eine thematische Vertiefung der Unterrichtsinhalte und gewährleistet eine Berücksichtigung der individuellen Interessen und Neigungen der Schülerinnen und Schüler. Ferner verbessern sich durch das spezifische Potenzial des Ganztags sowohl die Beziehungen unter den Lernenden als auch zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern. Dies wird zudem durch die Kooperation mit dem weiteren pädagogisch tätigen Personal im Ganztag unterstützt.
Kielblock und Gaiser weisen bezüglich der ermittelten „außergewöhnlich hohen“ Beteiligungsquoten am Ganztag auf Einschränkungen bei der Datenauswertung hin, sodass die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar sind. Die qualitativen Daten sind wenig umfangreich und beziehen sich nur auf den Primarbereich, dennoch bestätigen die Ergebnisse mögliche positive Aspekte des Lernens und Lehrens an Ganztagsschulen.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen einer Lehrkraft:
Reflexionsfragen einer Schulleitung:
Ganztagsschulen – also Schulen, die an mindestens drei Werktagen verpflichtende unterrichtliche sowie außerunterrichtliche Angebote über sieben Stunden im Primar- bzw. ersten Sekundarbereich bereitstellen – werden bundesweit seit Jahren ausgebaut. In Anbetracht dessen, dass über die Hälfte der allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen sind (KMK 2015), stellt sich die Frage, wie dieses Mehr an Zeit pädagogisch gestaltet wird.
Die vom BMBF geförderte Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen 2012/2013 (StEG-Konsortium 2013) belegt, dass neben weiterem pädagogischem Personal maßgeblich auch Lehrkräfte im Ganztag mitarbeiten. Diese Tätigkeitserweiterung bewirkt Änderungen im Aufgabenprofil und Rollenverständnis von Lehrkräften. Um diese Änderungen angemessen in den Blick zu nehmen, fragen Kielblock und Gaiser in einem quantitativen Zugriff, inwieweit Lehrkräfte an Ganztagsschulen tatsächlich im Ganztag mitarbeiten. Aus einer qualitativen Perspektive heraus untersucht das Autorenduo anschließend die subjektiven Einschätzungen von Ganztagslehrkräften hinsichtlich des pädagogischen Potenzials ihres Handelns im Ganztag. Damit werden subjektive Theorien dieser Lehrkräfte herausgearbeitet, welche im weiteren wissenschaftlichen Diskurs über die zu erwartenden Änderungen im Rollenverständnis und Berufsbild von Lehrkräften an Ganztagsschulen von Relevanz sein dürften.
Die in StEG und StEG-Q zwischen den Jahren 2005 bis 2015 erhobenen Daten (genaueres hierzu im Folgeabschnitt) werten Kielblock und Gaiser so aus, dass Bandbreite, Intensität, Dauerhaftigkeit und Kooperation der Mitarbeit von Ganztagslehrkräften und deren subjektive Theorien über ihr pädagogisches Handeln im Ganztag deutlich werden.
Hierbei wird davon ausgegangen, dass sich die Mitarbeit im Ganztag inklusive der Intensität, Bandbreite und Dauerhaftigkeit auf die alltägliche Ganztagspraxis auswirkt. Die subjektiven Theorien über das pädagogische Potenzial der Mitarbeit im Ganztag wiederum sollten Hinweise über die Zusammenhänge zwischen der Mitarbeit im Ganztag und der tagtäglich realisierten Ganztagspraxis von Lehrkräften im Ganztag liefern.
Kielblock und Gaiser nutzen einen Mixed-Methods-Ansatz (Caracelli & Green 1997): Die Beantwortung von Fragestellung 1 (Inwieweit arbeiten Lehrerinnen und Lehrer im Ganztag mit?) erfolgte quantitativ-empirisch, von Forschungsfrage 2 (Welche besonderen pädagogischen Potenziale leiten Lehrerinnen und Lehrer aus der Mitarbeit im Ganztag ab?) qualitativ.
Für die quantitative Untersuchung wurde der StEG-Fragebogendatensatz des Jahres 2009 herangezogen (n = 6.172 Lehrkräfte, davon 69,6 % weiblich). Um Aussagen zur Dauerhaftigkeit der Ganztagsmitarbeit (Kontinuität) tätigen zu können, wurden zusätzlich Längsschnittdaten der StEG-Befragungen aus den Jahren 2005 und 2007 analysiert. Allerdings wurden dabei nur jene Lehrkräfte berücksichtigt, die an allen drei Erhebungen teilgenommen hatten (n = 2.598, davon 68,5 % weiblich). Die verwendeten Datensätze der Jahre 2005, 2007 und 2009 speisten sich aus Fragebögen, die neben der allgemeinen Mitarbeit im Ganztag auch die Beteiligung an Organisation und Management, an der Durchführung von Ganztagsangeboten, an der Kooperation mit weiterem pädagogisch tätigem Personal im Ganztag sowie an der Auswertung und Reflexion im Ganztag erhoben. In der Beantwortung der Fragen mussten sich die Befragten zu jeweils einem der vier Skalenwerte gar nicht – kaum – teilweise – sehr positionieren.
Für die qualitative Untersuchung (zu Forschungsfrage 2) nutzten die Autoren Interviews, die an zwei Primarschulen mit jeweils zwei Lehrerinnen im Rahmen des Gießener Teilprojekts StEG-Q durchgeführt wurden. Alle vier Lehrerinnen wurden zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 2013 und 2014 interviewt. Die zirka zwanzigminütigen StEG-Q-Feldphaseninterviews waren problemzentriert angelegt (Kielblock & Lange 2013).
Bezüglich der absoluten Mitarbeit aber auch hinsichtlich der Bandbreite, Intensität und Dauerhaftigkeit der Mitarbeit stellen Kielblock und Gaiser Unterschiede zwischen Primar- und Sekundarbereich fest: Von den Lehrkräften an Ganztagsschulen arbeiten im Primarbereich 76 % und im Sekundarbereich 63 % im Ganztag mit.
In qualitativer Hinsicht beleuchten Kielblock und Gaiser subjektive Einschätzungen hinsichtlich des pädagogischen Potenzials von Ganztag. Hierzu greifen sie auf problemzentrierte, zirka zwanzigminütige StEG-Q-Feldphaseninterviews mit vier Primarschullehrerinnen zurück.
Hintergrund: Den Diskurs um das Für und Wider von Ganztagsschulen prägt maßgeblich das Argument, dass durch den Ganztag Schülerinnen und Schüler individualisierter und umfassender in fachlicher sowie pädagogischer Hinsicht in den Blick genommen werden können. Dieser Hoffnung gegenüber steht die Sorge, dass der außerunterrichtliche Einsatz von Lehrkräften im Ganztag eine Entprofessionalisierung von Lehrkräften zur Folge haben könnte.
Die Zusammenschau der quantitativen und qualitativen Daten durch Kielblock und Gaiser belegt, dass sich Lehrkräften an Ganztagsschulen mehr Chancen bieten, ihrem Auftrag nach Wissensvermittlung und Erziehung nachzukommen, als Lehrkräften an Schulen ohne Ganztag. Dies resultiert aus dem Umstand, dass Lehrkräfte an Ganztagsschulen auch in außerunterrichtliche Tätigkeiten involviert sind und darin ein besonderes pädagogisches Potenzial erkennen.
Design: Die zugrundeliegenden Daten speisen sich aus StEG, mithin der umfassendsten Langzeit-Untersuchung für deutsche Ganztagsschulen, und werden um qualitative Daten aus StEG-Q angereichert. Das zur Beantwortung beider Forschungsfragen entwickelte Design der Untersuchung ist nachvollziehbar und chronologisch beschrieben. Dabei werden die Daten in kontinuierlichen und diskontinuierlichen Darstellungen anschaulich präsentiert und leserfreundlich erläutert. Hierbei weisen Kielblock und Gaiser die Daten für den Primar- und den Sekundarbereich gesondert aus. Auf den ersten Blick verwirrend ist, dass die Zahl der in die Auswertung einbezogenen Lehrkräfte bei den unterschiedlichen Analysen, vermutlich aufgrund fehlender Werte, anders ausfällt, was bei ähnlichen Fragestellungen zu abweichenden Ergebnissen führt. Beispielsweise beträgt der Anteil an Lehrkräften, die im Ganztag nicht an Angeboten mitarbeiten, gemäß Abbildung 2 in der Primarstufe 66 % (n ≥ 6002), gemäß Tabelle 2 führen jedoch 60 % der Primarschullehrkräfte (n = 4.370) keine außerunterrichtlichen Angebote durch.
Ergebnisse: Im Zuge der Beantwortung der ersten Forschungsfrage werden erhebliche Differenzen in den Ergebnissen zwischen Primar- und Sekundarbereich offensichtlich. Während im Primarbereich drei Viertel der befragten Lehrkräfte im Ganztag mitarbeiten, sind es im Sekundarbereich mit knapp zwei Drittel etwas weniger. Diese Anteile sind größer, als es die im Literaturabschnitt referierte Literatur darstellt. Angesichts dessen weisen Kielblock und Gaiser auf eine erhebliche Einschränkung bei der Datenauswertung hin: Die Angaben wurden nicht an der Zahl der an den einbezogenen Schulen tätigen Lehrkräfte relativiert. Da die StEG-Befragung auf den Ganztag fokussierte, ist anzunehmen, dass vornehmlich diejenigen Lehrkräfte die Fragebögen ausfüllten, die im Ganztag mitarbeiteten, was zu einer Überschätzung des Anteils der am Ganztag mitarbeitenden Lehrkräfte geführt haben kann.
Die interviewten Lehrkräfte leiten aus ihrer Mitarbeit im Ganztag ein erhöhtes pädagogisches Potential ab. Einschränkend ist anzumerken, dass die qualitativ erhobenen Daten, welche in nicht unerheblichem Umfang die Beantwortung der zweiten Forschungsfrage betreffen, ausschließlich von vier Grundschullehrerinnen stammen. Eingedenk der durch die quantitative Teiluntersuchung herausgearbeiteten Unterschiede in der Ganztagsmitarbeit zwischen Primar- und Sekundarbereich ist dieser Umstand bedauerlich. Denn eine Übertragung der aus den qualitativen Daten abgeleiteten Befunde des Primarbereichs auf den Sekundarbereich ist – wie eben ausgeführt – allenfalls eingeschränkt möglich. Neben dem Umstand, dass für die qualitative Teilanalyse nur Lehrkräfte aus dem Primarbereich berücksichtigt wurden, trübt das Bild, dass es sich hierbei lediglich um vier und außerdem ausschließlich weibliche Lehrkräfte handelt.
Auf Grundlage ihrer Befunde betont das Autorenduo, dass Folgeuntersuchungen eine genaue Unterscheidung beider Bereiche anstreben sollten. Dies zeigt sich besonders hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen der kontinuierlichen Mitarbeit im Ganztag einerseits und der multiprofessionellen Kooperation und Reflexion andererseits. Benannte Aspekte liegen im Primarbereich ausgeprägter vor als im Sekundarbereich. Daher sollte gezielt die multiprofessionelle Kooperation in Ganztagsprimarschulen beleuchtet werden (Art und Weise, Umfang, organisatorische Rahmung etc.). Ebenso sind Ursachen für die Unterschiede zwischen Primar- und Sekundarbereich bezüglich der Kooperation von Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigem Personal herauszuarbeiten. Weiterhin ist zu erfragen, inwiefern die multiprofessionelle Kooperation im Ganztag die Qualität des Handelns von Lehrkräften und weiterem pädagogisch tätigem Personal beeinflusst. Zukünftige Untersuchungen sollten darüber hinaus nach möglichen Differenzen im außerunterrichtlichen Engagement zwischen Ganztags- und Halbtagslehrkräften fragen.
Kultusministerium BW
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