Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Feldhoff, T. & Wurster, S. (2017). Ein Angebot, das sie nicht ablehnen können? Schulische Reaktionsweisen auf das Deutungsangebot der Schulinspektion. Empirische Pädagogik, 31(2), 158–172.FIS BildungIm Rahmen der rezensierten qualitativen Studie wurde an 15 Schulen anhand von Interviews mit den Schulleitungen die Funktionalität des sogenannten Deutungsangebots untersucht: Dabei handelt es sich um ein Reflexionsgespräch zwischen Schulinspektorat und Schulleitung zu den Inspektionsergebnissen, welches erstmals im zweiten Zyklus der Hamburger Schulinspektion eingesetzt wurde.
Die zentrale Fragestellung der Studie ist, wie Schulleitungen auf dieses Instrument reagieren und ob sich diese Reaktionen typisieren lassen. Dabei interessiert vor allem, inwiefern die Schulleitungen die Ergebnisse der Schulinspektion als Angebot für die qualitätsorientierte Schulentwicklungsarbeit aufnehmen. Als Ergebnis wurden aus den 15 Interviews zwei grundsätzliche Typen, nämlich Befürwortende und Ablehnende des Deutungsangebots, identifiziert. Unter den Ablehnenden konnten vier weitere Typen entsprechend den Gründen ihrer Ablehnung unterschieden werden: 1. Schulleitungen, welche die hierarchische Überlegenheit der Schulinspektoren hindert, 2. Schulleitungen, welche die Inspektionsergebnisse als absolut bewerten, 3. Schulleitungen, welche den Unterschied ihrer Wahrnehmung und jener der Schulinspektoren für unüberwindbar halten, und 4. Schulleitungen, deren Wahrnehmung sich mit jener der Schulinspektoren deckt. Als zentrales Resultat leiten die Autoren her, dass das Deutungsangebot im Rahmen dieses Reflexionsgesprächs grundsätzlich geeignet sei für das kommunikative Aufgreifen der Schulinspektionsergebnisse. Es zeigt sich, dass unterschiedliche Bedarfe und Erwartungen von Schulleitungen an die Schulinspektion bestehen, woraus die Autoren schlussfolgern, dass es zur gelingenden Unterstützung der verschiedenen „Reaktionstypen“ im Rückmeldegespräch noch weiterer Analysen dieser Gespräche bedarf. Darüber hinaus ergibt sich für die Autoren die Implikation, den Schulleitungen ein weitergehendes Angebot zu machen, wodurch allerdings die Kontrollfunktion der Schulinspektion berührt werden könne. Die Annahme eines kausalen Zusammenhangs zwischen Art der Schulinspektion und der Art der Verarbeitung ihrer Ergebnisse durch die Schule begründe aus Sicht der Autoren, dass das Erwirken von Verständnis für die Evaluationsergebnisse durch das Instrument des Deutungsangebots als Voraussetzung für die Funktion der Schulevaluation, nämlich die Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht, gesehen werde.
Die eher geringe Repräsentativität der Stichprobe bietet z. B. Anlass zur Kritik am Design der Studie, ihre auch organisationstheoretisch fundierte Aussage jedoch stiftet einen Beitrag zur datenbasierten Schulentwicklung, der operationalisiert und damit nutzbar gemacht werden kann.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte:
Reflexionsfragen für Schulleitungen:
Die vorliegende Studie bildet die Datengrundlage des Projekts „Evaluation der Hamburger Schulinspektion“, durchgeführt vom Erziehungswissenschaftlichen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz: In dem entsprechenden Ergebnisbericht sollen Hinweise für den dritten Zyklus der Schulevaluation bezüglich ihrer Funktion, nämlich die Schulentwicklung steuernd anzuregen, gegeben werden (Feldhoff, Wurster, Rettinger & Hausen, 2017). Bildungspolitischer Hintergrund für das Steuerungsinstrument der Schulinspektion ist folgender:
Der „Konstanzer Beschluss“ (1997) als Antwort auf die TIMSS-Studie (1995) und die „Gesamtstrategie Bildung“ (2006) der KMK als Reaktion auf die OECD-Studien „Education at a glance“ (1998) resp. „Bildung auf einen Blick“ und PISA (2000) greifen als bildungspolitische Entscheidungen über eine evidenzbasierte Steuerung des Bildungssystems Initiativen der Länder auf, welche diese seit den 1990ern zur Qualitätsentwicklung und -sicherung ergriffen hatten. Die staatlichen Maßnahmen weisen über die staatshoheitlich gesetzte Befugnis der Schulaufsicht (GG, Art. 7, Abs. 1) und ihr Instrumentarium (KMK, 2019; 237) hinaus: Die Schulinspektion als kulturelle Erfindung zur Steuerung von Mehrebenensystemen wie dem Schulsystem (Makroebene: ministerielle Schulaufsicht, Mesoebene: Einzelschule, Mikroebene: Unterricht) diene der Überwindung von Distanzen zwischen den Akteuren auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems, wie Schulinspektorat, Schulleitung, Lehrkräften (Clarke, 2011, 12), und der ‚Rekontextualisierung‘, der Auffassung von Schul- und Unterrichtsqualität der verschiedenen Systemebenen.
„Mit dem Konzept der Rekontextualisierung wird der Mehrebenenansatz präzisiert. Das Handeln auf der jeweiligen Ebene impliziert immer, dass die übergeordnete Ebene für die untergeordneten als Kontext präsent ist, aber im Rahmen der ebenenspezifischen Umweltbedingungen und Handlungsressourcen reinterpretiert und handlungspraktisch transformiert wird.“ (Fend, 2008a, 181)
Dem liege das erweiterte soziologische Handlungsmodell Essers (1999) zugrunde (Magnus, 2019, 100), demzufolge das Handeln von Bildungsinstitutionen und ihren Akteuren nicht allein den Maßgaben der „rational choice“ noch des Auftrags, noch der Rolle, sondern darüber hinaus vielmehr dem Zusammenspiel individueller und institutioneller Vorgaben folge, was sich nicht aus den Gegebenheiten herleiten lasse und daher nur empirisch erforschbar sei. Ein weiteres Modell, das „konzeptionelle Modell der Schulinspektion“ von Ehren et al. (2013), auf welches sich Feldhoff und Wurster beziehen, weist drei sog. vermittelnde Mechanismen zur Stimulierung von Schulentwicklung auf, wovon einer, nämlich die „Akzeptanz des Feedbacks“, also die Wahrnehmung, Akzeptanz und Weiterverarbeitung der Inspektionsergebnisse, von Feldhoff und Wurster auf das Instrument des Deutungsangebots bezogen wird. An bestehenden Rezeptionsmodellen bemängeln die Autoren, dass diese allein von Vernunft als Grundlage von Entscheidungen, ausgelöst von Inspektionsergebnissen, ausgehen. Als Faktoren für die Wirksamkeit von Schulinspektionen erwiesen sich hingegen die Innovationskapazität von Schulen und die Kommunikationsform des Feedbacks, basierend auf Reziprozität und Vertrauen zwischen Inspektorinnen und Inspektoren und Schulleitung. Eine der wenigen empirischen Analysen der Aufnahme und Verarbeitung des Feedbacks durch die schulischen Akteure verdeutliche, dass die Mitteilung von Schulinspektionsergebnissen nicht unmittelbar Einsicht hervorrufe, sondern die Sinnstiftung erst durch das In-Beziehung-Setzen der Ergebnisse mit dem Urteil der Schulleitung herbeigeführt werde.
Ausgangspunkt der Studie ist daher die Vermutung, dass die statistisch erzeugten Qualitätsbewertungen einer Schulinspektion nicht unmittelbar rational erschlossen und operativ umgesetzt werden (Altrichter & Kemethofer, 2016). Vielmehr werde das Verständnis der empirischen Daten vor dem Hintergrund eigener Erfahrung und Erkenntnisbedingungen hergestellt. Das organisationspsychologische Konzept des Sensemaking, also die retrospektiv und dialogisch entwickelte Sinnstiftung zu Erfahrenem, wird an dieser Stelle als Modell in die Studie eingeführt, um zu erklären, wie die Schulleitung selbst den Sinn der Inspektionsergebnisse erschließt: Die neuen Daten würden gedanklich aufgenommen und durch sie würden Erwartungen geweckt, wodurch Gefühle, also emotionale Reaktionen, entstünden. Diese im Dialog, daher sozial entwickelte Deutung, diene der Konsolidierung der kognitiven und emotionalen Anteile des Verstehens z. B. von Schulinspektionsdaten. Dieser Funktion des Sensemaking entspreche das Instrument des Deutungsangebots.
Vor diesem Forschungshintergrund ergeben sich die Forschungsfragen nach der Reaktionsweise von Schulleitung auf das sog. Deutungsangebot und der daraus abzuleitenden Identifizierung von Reaktionstypen. Bereits 2013 wiesen Wurster und Gärtner fünf Typen der Reaktion auf die Schulinspektion und ihre Verteilung auf die verschiedenen Schularten nach. Die Fragestellung der hier rezensierten Studie geht insofern darüber hinaus, als sie insbesondere die Reaktion auf das Instrument des Deutungsangebots zum Gegenstand hat.
Die dieser qualitativen Studie zugrundeliegenden Daten wurden aus einer stratifizierten, d. h. geschichteten, Zufallsstichprobe, gewonnen. Unterschieden wurde nach den Kriterien der Schulart, der sozialen Belastung und dem Inspektionsergebnis aus allen öffentlichen, allgemeinbildenden Hamburger Schulen (N=15), die in dem der Studie vorausgehenden Zeitraum von zwei Jahren inspiziert wurden. Die Zusammensetzung der Stichprobe (N15: n=10 Grundschulen, n=4 Gymnasien, n=1 Stadtteilschule) spiegele annähernd die prozentuale Verteilung der Schichtungs-merkmale in der Population, also hier der Hamburger Bevölkerung, wider. Es wurde angenommen, dass strukturelle (Schulart) und soziale Voraussetzungen (Hamburger Sozialindex) als unabhängige Variable den Sinnstiftungsprozess beeinflussen, während das Inspektionsergebnis als Indikator für die Schulentwicklungskapazität gesetzt wurde. Ausgehend von einem konditionalen Zusammenhang zwischen der Schulentwicklungskapazität und der Kompetenz von Schulleitungen, mit dem Deutungsangebot umzugehen, wurden Typen von Reaktionen der interviewten Schulleitungen festgestellt.
Als Instrument qualitativer Statistik wurde ein semistrukturiertes (teils offene, teils geschlossene Fragen) (Bortz & Döring, 2006, 239), leitfadengestütztes Interview mit Schulleitungen eingesetzt, das ungefähr ein halbes bis ganzes Jahr nach der Inspektion stattfand. Zur Analyse der so gewonnenen Daten wurde die Methode der sog. ‚qualitativen Inhaltsanalyse‘ nach Mayring (2000) angewandt:
Aufbauend auf dem Verfahren der kommunikationswissenschaftlichen, quantitativen Inhaltsanalyse (Content Analysis, 1930er) zum Nachweis manifester, oberflächlicher Sinnstrukturen strebe die qualitative Inhaltsanalyse (ab 1952) darüber hinaus die Aufdeckung latenter, d. h. nicht offensichtlicher, Sinnstrukturen an. Ihre Gütekriterien sind Nachvollziehbarkeit bzw. Transparenz durch regelgeleitetes Verfahren (induktive und deduktive Kategorienbildung), Vergleichbarkeit durch Triangulation (qualitative Verfahren, quantitative Verfahren: z. B. quantitative Inhaltsanalyse auf der Grundlage qualitativ gewonnener Kategorien) und die Intercoder-Reliabilität, also die Verlässlichkeit der Ergebnisse durch reliable Intersubjektivität von mindestens zwei Forschern.
Die Regelgeleitetheit bildet sich in der Studie von Feldhoff und Wurster in einem zweischrittigen Verfahren ab: Erstens wurden drei sog. „Vergleichsdimensionen“ (ebd., 164) aus Aspekten des Deutungsangebots deduktiv ermittelt und durch Kategorisierung der 15 Fälle die Vergleichsdimension der Akzeptanz bzw. Ablehnung bestätigt. Zur Unterscheidung der Motive der Schulleitungen wurden aus den Interviews induktiv drei weitere Vergleichsdimensionen nachgewiesen, denen insgesamt vier Reaktionstypen zugeordnet wurden. Methodologisch wurde zur Bestimmung der Typen das Primat ihrer maximalen Ähnlichkeit und auf der Ebene der Typologie jenes der maximalen Differenz zur Feststellung der Idealtypen beachtet. Danach wurden die Typen auf ihre Sinnzusammenhänge hin untersucht und die Typen wurden charakterisiert.
Der erste Schritt der Typisierung wurde mittels dreier deduktiver Vergleichsdimensionen, wovon nur jene des Sich-nicht-Einlassens für die eindimensionale Typisierung relevant war, durchgeführt. Demnach ergeben sich als die beiden ersten eruierten Typen erstens jene Schulleitungen, die sich auf das Deutungsangebot einlassen, und zweitens jene, die sich nicht einlassen. Im zweiten Schritt der Typisierung mittels induktiver Vergleichsdimensionen wurde der zweite in drei weitere unterschieden, nämlich in jene Schulleitungen, die aufgrund der hierarchischen Rahmenbe-dingungen das Deutungsangebot ablehnen, jene, welche die Notwendigkeit des Deutungs-angebots wegen der für sie verlässlichen Inspektionsergebnisse verneinen, und jene, welche das Deutungsangebot ausschlagen. Diese letzte Kategorie wird entsprechend den Gründen der Ablehnung – sei es Kongruenz oder Differenz zwischen Wahrnehmung der Schulleitung und jener der Schulinspektion – in zwei weitere untergliedert, so dass insgesamt fünf Kategorien identifiziert werden.
Die qualitative Methode der Forschertriangulation, also das Einsetzen von zwei Forschern, die unabhängig voneinander analysiert haben und so zwei Perspektiven des Analysegegenstands abbildeten, gewährt Objektivität. Das Konstrukt der fünf Typen wurde abschließend von den beiden Forschern konsensuell im Dialog validiert und damit ein weiteres Gütekriterium qualitativer Forschung erfüllt, nämlich die Validität des Ergebnisses. Die Auswertungs- und Interpretationsobjektivität kann mit dem Übereinstimmungskoeffizienten quantifiziert werden (Bortz & Döring, 2006, 327), was im rezensierten Text nicht expliziert wird.
Die Autoren beschreiben zunächst die verschiedenen Reaktionstypen und belegen dann ihre Charakteristik mit Zitaten, ohne diese allerdings analytisch auf die Eigenschaften der Typen im Einzelnen zu beziehen. Der Übersichtlichkeit halber und zur ggf. besseren Anwendbarkeit der Typologie zur Diagnostik werden die Ergebnisse in nachstehender Übersicht zusammengefasst und anschließend kurz vorgestellt:
- Typ A: Akzeptanz des Deutungsangebots: 5 Schulen
- Typ B: Ablehnung wegen Rahmenbedingung: Hierarchie von Schulinspektoren und Schulleitung: 3
- Typ C: Ablehnung aus Achtung der Absolutheit und Zweifellosigkeit der Inspektionsergebnisse: 3
- Typ D: Ablehnung wegen unüberwindbarer Differenz der Wahrnehmung von Schulinspektion und Schulleitung: 1
- Typ E: Ablehnung wegen der Deckung der Wahrnehmung von Schulinspektion und Schulleitung: 3
Typ A: Schulleitungen, die dem Typ A entsprächen, ließen sich auf das Deutungsangebot ein, weil sie es als „offen“ und „kommunikativ“ wahrnähmen. Denn, so wird vermutet, werde ihnen gegenüber die Sicht des Schulinspektorats als eine mögliche relativiert und sie fassten die Haltung der Inspektorinnen und Inspektoren als motivierend auf, da diese sie zum Kommentar des Ergebnisses, also zum Sensemaking, aufforderten. Aus jenem, dem Typ A zugeordneten Zitat gehe hervor, dass die Schulleitung einen Deutungsspielraum sehe, denn ihr werde explizit die Möglichkeit gegeben, das Inspektionsergebnis ins Verhältnis zu ihrer eigenen Evidenz zu setzen. Dadurch entstehe erst die Bereitschaft, das Inspektionsergebnis zum Anlass für Veränderungen zu nehmen.
Typ B: Schulleitungen, die dem Typ B entsprächen, würden eine Diskrepanz zwischen der Offenheit eines Sensemaking und der Gegebenheit der Inspektionsergebnisse und der Unumgänglichkeit, dass diese vom Deutungsangebot unbeeinflusst im Anschluss präsentiert werden, erkennen. So lehnten diese Schulleitungen das Deutungsangebot ab, obwohl sie das Instrument an sich ohne seine Rahmenbedingungen befürworteten.
Typ C: Schulleitungen, die dem Typ C entsprächen, sähen die Inspektionsergebnisse als objektiv an und verstünden sie als Rückmeldung über Stärken und Schwächen, insofern als Korrektiv, und stellten sie nicht infrage. Da für sie das Deutungsangebot eine Relativierung der Ergebnisse bedeute, indem man über diese diskutiere, würden sie das Instrument ablehnen.
Typ D: Schulleitungen, die dem Typ D entsprächen, nähmen das Inspektionsergebnis als konträr zu ihrer eigenen Einschätzung der Qualität ihrer Schule und ihres Schulleitungshandelns wahr, so dass sie wegen ihres so entstandenen emotionalen Widerstands kognitiv nicht in der Lage dazu seien, diesen Gegensatz der Qualitätsurteile zu überwinden und das Deutungsangebot für ein Sensemaking zu nutzen.
Typ E: Schulleitungen, die dem Typ E zuzuordnen seien, nähmen ein Sensemaking nicht als nötig an, weil die Inspektionsergebnisse ihrer eigenen Einschätzung entsprochen hätten, das externe und interne Qualitätsurteil also kongruent sind. Das dem Typ E zugeordnete Zitat lässt m. E. eine weitergehende Interpretation zu, wie im folgenden Abschnitt ausgeführt wird.
Hintergrund: Die Notwendigkeit und Wirksamkeit eines Instruments des Bildungsmonitorings wie des Deutungsangebots als Teil des sog. „formale[n] Rechenschaftssystem[s]“ (Altrichter & Maag-Merki, 2015, 403) qualitativ empirisch zu untersuchen, erscheint insofern bedeutsam, als den Studienautoren mit Berufung auf den Forschungsstand zufolge das Ergebnis der Schulinspektion allein keine ausreichende Wirkung entfalten kann. Damit entspricht die Studie einem Desiderat, das dem interdisziplinär angelegten bildungswissenschaftlichen Ansatz der Educational-Governance-Forschung, und hier v. a. der Disziplin der Implementationsforschung, zuzuordnen ist: Deren Ziel entspricht, dass der Outcome-Parameter der Akzeptanz (Petermann, 2014, 122) festgestellt wurde, indem fünf verschiedene Reaktionstypen identifiziert wurden.
Die Untersuchungsgegenstände der Studie werden ihrem Inhalt entsprechend unterschiedlich theoretisch fundiert, womit gleichzeitig verschiedene organisationstheoretische Modelle kurz angerissen werden: Ausgehend von statistischen Untersuchungen als Ausdruck „evidenzbasierter Bildungspolitik“ (Heinrich, 2015, zitiert nach Feldhoff & Wurster, 2017, 158) werden die Wirkung der Schulinspektion und in ihrem Zusammenhang der Sinnstiftungsprozess mit Hilfe des Konzepts des Sensemaking, angewandt auf das Instrument des Deutungsangebots, also dem Gespräch zwischen Inspektorat und Schulleitung, untersucht. Dessen Funktion, das Inspektionsergebnis wirken zu lassen, wird mit Hilfe eines Schulentwicklungsmodells theoretisch fundiert. Dabei wird ein Rezeptionsmodell im Unterschied zu weiteren favorisiert, weil es das Primat der Ratio zu Ungunsten der Emotionen aufhebe und so ermögliche, auch an der Rezeption beteiligte Emotionen in ihrer Wirkung mit zu berücksichtigen. Die Rezeption des Schulinspektionsergebnisses wird als einer ihrer Wirkfaktoren neben der Innovationskapazität von Schulen eingeordnet. Auch wenn Feldhoff und Wurster mit ihren referierten theoretischen Grundlagen den internationalen Hintergrund mit Ausnahme einer finnischen Referenz kaum berühren noch z. B. Bezug auf den Bildungsforschungsbericht (Bd. 43, 2016) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zu „Steuerung im Bildungssystem – Implementation und Wirkung neuer Steuerungselemente im Schulwesen“ nehmen, so erscheint der theoretische Hintergrund dieser Studie für ihren Untersuchungsgegenstand dennoch in Inhalt und Umfang ausreichend, zumal alternative rezeptionstheoretische Ansätze kritisch und theoretisch begründet ausgeschlossen werden. Auf die im Vergleich zu dem hier besprochenen Zeitschriftenartikel breiteren Ausführungen im ‚Ergebnisbericht‘, wie beispielsweise zum Zyklenmodell (Sommer, 2011; Feldhoff, Wurster, Rettinger & Hausen, 2017), sei an dieser Stelle nur verwiesen.
Design: Die explorativen Forschungsfragen nach den Weisen, auf Schulinspektionsergebnisse zu reagieren, und deren Typisierung werden nachvollziehbar aus dem Forschungsstand zur Rezeption von Schulinspektionsergebnissen hergeleitet.
Gewählt wurde ein Design qualitativer Forschung, das Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2000), welches die auf der Grundlage einer stratifizierten Zufallsstichprobe mit dem Anspruch der Repräsentativität und basierend auf einem semistrukturierten Fragebogen, der nicht vorgestellt wird, gewonnenen Daten einer strukturierten Interpretation zugänglich macht. Das eingesetzte Instrument und verwendete Verfahren werden ausführlich und transparent in dem dieser Studie folgenden Ergebnisbericht (Feldhoff, Wurster, Rettinger & Hausen, 2017) beschrieben.
Dem Einwand mangelnder Repräsentativität angesichts von nur 15 Interviews als Abbild aller allgemeinbildenden Schulen begegnet Feldhoff mit dem Hinweis auf die in der qualitativen Forschung übliche geringe „absolute Anzahl von Befragten“ (Feldhoff, Wurster, Rettinger & Hausen, 2017, 7) und die nachgewiesene schulstatistisch belegte Verteilung der Hamburger Schulen gemäß den Schularten (2017, ebd., 8) und dem Hamburger Sozialindex (2017, ebd., 8) allein im Ergebnisbericht.
Auf den Erhebungsplan erfolgt nur ein kurzer Hinweis, nämlich darauf, dass die Interviews ein halbes bis ganzes Jahr nach den Feedbackgesprächen stattfanden. In diesem Zusammenhang wird redlicherweise auf den mit dem zeitlichen Abstand einhergehenden Informations- und Datenverlust hingewiesen (Feldhoff & Wurster, 2017, 170). Die Sachgerechtheit der Datenerhebung kann auf der Grundlage des Studienberichts kaum bewertet werden.
Die Gütekriterien dieses qualitativen Designs, Transparenz durch Regelgeleitetheit, Reliabilität durch Forschertriangulation und Validität durch dialogische Konsensbildung werden zwar beschrieben, Auswertungstabellen sind jedoch weder in der hier besprochenen Zeitschriftenversion noch in dem umfangreicheren Ergebnisbericht enthalten. So wird auch nicht die Verlässlichkeit der beiden Analysen zweier voneinander unabhängiger Forscher durch z.B. den Kappa-Koeffizienten nach Cohen nachgewiesen. Die sog. Intercoder-Reliabilität jedoch ist gerade ein Gütekriterium der inhaltlichen Analysemethode nach Mayring.
Das Design erscheint dem Erkenntnisinteresse insofern gerecht zu werden, als dass es einen womöglich differenzierteren Einblick in die Motive für die Akzeptanz bzw. die Ablehnung des Deutungsangebots zulässt, als diesen vielleicht ein standardisiertes, voll strukturiertes Interview mit vorgegebenem Wortlaut und Abfolge der Fragen (Bortz u. Döring, 2006, 238) zu geben vermag, weil gerade der auch die Akzeptanz behindernde, emotionale Anteil der Rezeption vielleicht nicht so nuanciert erfasst werden könnte und nicht die nötigen Hinweise zur Implementation liefern könnte. Kritisch einwenden lässt sich, dass die dokumentarische Methode als rekonstruktives Verfahren eher als die qualitative Inhaltsanalyse zur Rekonstruktion von Typen geeignet ist. Abgesehen davon, dass dies weder in dem hier rezensierten Text noch in dem Ergebnisbericht kritisch abgewägt wird, können nur die im Allgemeinen geltenden Vorteile der gewählten Methode genannt werden, wie v. a. die kategoriale Strukturierung umfangreichen Textmaterials (Bortz u. Döring, 311-332), welches in der hier rezensierten Studie die 15 transkribierten Interviews darstellen.
Ergebnisse: Die Autoren beantworten die von ihnen theoriebasiert aufgeworfenen Forschungsfragen, indem sie die Unterschiede in den Reaktionen auf das sog. Deutungsangebot der Hamburger Schulinspektion feststellen und fünf Reaktionstypen ableiten. Dieses Ergebnis bestätigt auch die Annahme, dass die dialogische Vermittlung des Inspektionsergebnisses für dessen Wirksamwerden ausschlaggebend sei, weil sie ermöglicht, den emotionalen Anteil der Reaktion, besonders bei Reaktionstyp D, bis dato als unberücksichtigt kritisiert (Hyyryläinen u. Viinamäki, 2008), erstmals sichtbar zu machen.
Angesichts des bei der Stichprobendefinition relevanten Zusammenhangs zwischen Inspektionsergebnis als Indikator für die Schulentwicklungskapazität und deren konditionalem Verhältnis zur Kompetenz von Schulleitungen, mit dem Inspektionsverhältnis umgehen zu können, vermisst man bei der Auswertung z. B. bezüglich des Typs D den Bericht eben jenes konditionalen Kontexts zwischen schwachem Inspektionsergebnis und entsprechend schwacher Schulentwicklungskapazität.
Der Vergleich des referierten Ergebnisses bezüglich einzelner Schulleitungsreaktionstypen und der ihnen zugeordneten Zitate lässt z. T. Diskrepanzen entdecken, wie z. B. bei Typ E:
Aus dem ihm zugeordneten Zitat geht hervor, dass die Kongruenz der Schulinspektionsergebnisse und der Wahrnehmung der Qualität der Schule durch die Schulleitung und die daraus folgende Akzeptanz des Inspektionsergebnisses v. a. in dessen positiver Aussage über die Schule und dem empathischen Umgang des Inspektionsteams mit der Schulleitung begründet ist. Daher stellt sich doch die Frage, ob die Schulleitung das Sensemaking nicht vielleicht angesichts eines schwächeren Inspektionsergebnisses eher ablehnen würde.
Die Autoren sehen die weitere Forschungsperspektive darin, die Sensemaking-Prozesse selbst zu untersuchen, um auch Schulleitungen des Typs C differenzierter zu charakterisieren und die Reaktionsweisen in Relation zu den auf die Inspektion folgenden Entwicklungsschritten in der Schule und deren Entwicklungskapazität zu setzen, um die identifizierten Typen zu validieren.
Dass dieses Ergebnis einen Bezug zum aktuellen Diskurs der Educational-Governance-Forschung aufweist, mag auch das folgende, abschließende Zitat zeigen:
„In a qualitative study conducted with school inspectors and employees of the responsible authority for school inspections (NLQ), Sowada and Dedering (2016, 192-193) showed that the perception among those in charge of inspection lacked effectiveness when it came to school improvement and quality development.“ (Röbken, Schütz, Lehmkuhl, 2019, 5).
Wahrnehmungsinhalt, z. B. auch emotionale Widerstände, mittels empirischer Daten zu objektivieren, kann deren Akzeptanz durch die Zielgruppe, die Schulinspektorate und Schulleitungen, erhöhen und dazu beitragen, die Voraussetzung für die auf die Schulinspektion folgenden Schulentwicklungsschritte zu schaffen.
Eben darum geben Feldhoff, Wurster, Rettinger und Hausen in ihrem Ergebnisbericht (2017, iii-iv) zum zweiten Zyklus der Hamburger Schulinspektion die Empfehlung für deren dritten Zyklus, den Inspektionsbericht den Schulleitungen rechtzeitig vor dem Deutungsangebot zuzusenden und auf die öffentliche Präsentation wegen ihrer für die weiteren Entwicklungsschritte negativen Wirkung zu verzichten.
Inspektionsergebnisse durch einen vermittelnden Dialog zwischen Schulinspektorat und Schulleitung erst wirksam werden zu lassen, indem v. a. irrationale Wahrnehmungen empirisch objektiviert werden, ist für Steuerung von Schule relevant. Damit dieser Vermittlungsakt, das Sensemaking in Form des Deutungsangebots, von Schulleitungen möglichst breit akzeptiert werden kann, sollte der Inspektionsbericht vor dem Dialog der Schulleitung zur Kenntnis gegeben werden.
Das bedeutet nicht, dass die Inspektionsergebnisse nicht der Schulöffentlichkeit, d. h. der Lehrer- und Elternschaft, präsentiert werden. Im Ergebnisbericht zur Studie (Kap. 3.6.1) wird die geringe Tiefe der Rezeption durch Lehrkräfte und Eltern berichtet, weswegen der Schulleitung und der Steuergruppe die Hauptverantwortung für die Übersetzung der Inspektionsergebnisse, und zwar v. a. in der Lehrerkonferenz, zugesprochen wird (ebd., 36). Ob der Informationsweg dann Schulleitung & Steuergruppe → Lehrerkonferenz oder aber Schulleitung → Steuergruppe → Lehrerkonferenz ist, wird in den Schulen unterschiedlich gehandhabt.
Institut für Bildungsanalysen (IBBW)
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