Fragestellungen der Studie:

  • Ist eher ein optimistisches oder ein pessimistisches Selbstkonzept leistungsförderlich?

Rezension zur Studie

Praetorius, A.-K., Kastens, C., Hartig, J. & Lipowsky, F. (2016). Haben Schüler mit optimistischen Selbsteinschätzungen die Nase vorn? Zusammenhänge zwischen optimistischen, realistischen und pessimistischen Selbstkonzepten und der Leistungsentwicklung von Grundschulkindern. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 48(1), 14–26.FIS Bildung

Wenngleich das Fähigkeitsselbstkonzept von Schülerinnen und Schülern als motivational bedeutsam gilt, ist umstritten, ob eher ein optimistisches, realistisches oder pessimistisches Selbstkonzept lernförderlich ist. Jedoch mangelt es an Langzeitstudien zu den Effekten von Selbstkonzeptausprägungen auf die Leistungsentwicklung.

Praetorius et al. gehen daher drei Fragen nach: Anhand des Fähigkeitsselbstkonzepts von 964 Grundschülerinnen und -schülern wurde in einer Längsschnittstudie über vier Jahre hinweg untersucht, wie stabil Selbstüber- bzw. -unterschätzungen der eigenen mathematischen Fähigkeiten sind, ob sich mathematische Leistungen durch Ausprägungen des Selbstkonzepts vorhersagen lassen und ob ein moderat optimistisches Selbstkonzept, also eine leichte Selbstüberschätzung, positive Auswirkungen hat.

Das mathematische Fähigkeitsselbstkonzept wurde während der Grundschulzeit 5-mal erfragt. Jeweils zeitgleich wurden Mathematikleistungen mit standardisierten Schulleistungstests erhoben. Das Ausmaß an Selbstüber- und -unterschätzung zum jeweiligen Zeitpunkt wurde ermittelt anhand der Residualscores von Regressionen der Selbstkonzepte auf die parallel erhobenen Mathematikleistungen. Anschließend wurden die Residualscores mit der Leistungsentwicklung über die vier Grundschuljahre hinweg in Beziehung gesetzt (Cross-Lagged-Panel-Analysen).

Die Auswertungen ergeben, dass Selbstunter- bzw. -überschätzungen gering bis mäßig stabil sind. Lediglich zu Beginn der Grundschulzeit zeigen sich geringe Effekte der Selbstkonzepte auf nachfolgende Leistungen, danach ist eher von einer umgekehrten Beeinflussung der Leistungsrückmeldungen auf das Selbstkonzept auszugehen. Die Annahme eines positiven Effektes einer moderaten Selbstüberschätzung auf die Leistungsentwicklung bestätigt sich nicht.

Einerseits relativieren die Befunde die motivationale Bedeutung des Fähigkeitsselbstkonzepts und bestätigen eine Beobachtung aus der Praxis: Leistungsrückmeldungen in Form von Noten und Lehrerhandeln beeinflussen maßgeblich das Selbstkonzept der Lernenden. Andererseits wird die Selbstkonzeptausprägung rechnerisch unter Bezug auf die Gesamtstichprobe ermittelt, was nicht dem individuellen Empfinden, das auch vom Niveau der eigenen Klasse abhängen dürfte, entsprechen muss. Daher erscheint es trotz der Befunde nicht ausgeschlossen, dass subjektiver Optimismus lernförderlich ist.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Nehme ich wahr, wie das Fähigkeitsselbstkonzept meiner Schülerinnen und Schüler in den einzelnen Fächern ausgeprägt ist? Neigen einige zu Selbstüber- oder -unterschätzungen? Kann ich dieses Selbstkonzept in geeigneter Form testen? Habe ich andere Diagnosemöglichkeiten?
  • Welchen Einfluss kann ich bezüglich des Fähigkeitsselbstkonzeptes in einzelnen Fächern auf die Leistungsfähigkeit, -bereitschaft und -entwicklung diagnostizieren?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, das Fähigkeitsselbstkonzept meiner Schülerinnen und Schüler positiv zu beeinflussen bzw. besteht die Notwendigkeit einer Einwirkung in Hinblick auf mehr Realismus?
  • Wie stark beeinflusse ich durch meinen Umgang mit den Antworten bzw. Fragen oder Bemerkungen meiner Schülerinnen und Schüler deren Fähigkeitsselbstkonzept? Gelingt es mir, neutral oder grundsätzlich positiv verstärkend zu agieren, in manchen Fällen aber auch notwendige Rückmeldungen bezüglich der Fehlerhaftigkeit zu geben und dabei nur auf die sachliche Ebene zu rekurrieren und nicht die Person selbst bloßzustellen oder zu kritisieren?
  • Wie stark orientiere ich mich in meinen Rückmeldungen und meinem Verhalten im Unterrichtsgespräch an der Bezugsnorm innerhalb der Klasse und lasse eher leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler als besonders schwach bzw. leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler als besonders stark erscheinen? Bin ich möglicherweise ungerecht einigen Schülerinnen und Schülern gegenüber, die sich große Mühe geben, im Vergleich zu anderen aber nicht so leistungsstark sind? Achte ich darauf, auch denjenigen positiv verstärkende Rückmeldungen zu geben?
  • Wie gehe ich mit den ersten Benotungen um? Als wie stark stelle ich deren Bedeutung dar? Lasse ich zu, dass meine Schülerinnen und Schüler in einen starken sozialen Vergleich geraten oder versuche ich, dies durch Gespräche mit der Klasse zu relativieren? Verdeutliche ich evtl., dass Benotungen immer nur mit einer konkreten Aufgabe und der diesbezüglich erbrachten Leistung zusammenhängen und keine Bewertung der grundsätzlichen Leistungsfähigkeit oder gar des ganzen Menschen sind?

 

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Sollte ich den Bereich des Fähigkeitsselbstkonzeptes zu einem Thema in Lehrerkonferenzen oder zu einem Thema eines pädagogischen Tages machen?
  • Wie agieren meine Kolleginnen und Kollegen im Unterrichtsgespräch mit ihren Schülerinnen und Schülern? Sehe ich die Notwendigkeit zur Einwirkung auf die Kommunikationsstrategien einiger?
  • Erscheint es sinnvoll, ein Konzept zum Umgang mit der Selbsteinschätzung der Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und darüber nachzudenken, welche motivationalen Maßnahmen ergriffen werden könnten, um dieses grundsätzlich von Noten unabhängiger zu gestalten?
  • Wie sollte an meiner Schule grundsätzlich mit Benotungen umgegangen werden? Gibt es bestimmte Freiräume, die genutzt werden könnten, um die Beeinflussung des Fähigkeitsselbstkonzeptes durch Noten und andere Rückmeldungen zu reduzieren?

Einleitend referiert das Autorenteam um Anna-Katharina Praetorius, dass sich in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Hypothesen zum Einfluss des Fähigkeitsselbstkonzeptes auf die Leistungsentwicklung von Lernenden finden. Die Annahmen reichen von der häufigsten Position, dass ein optimistisches Selbstkonzept einen positiven Einfluss hat, über solche, dass ein realistisches Selbstkonzept die beste Voraussetzung für eine positive Leistungsentwicklung sei, bis hin zu jenen, die gar ein pessimistisches Selbstkonzept als Motor für eine größere Anstrengung und somit für bessere Leistungsprognosen sehen, wobei diese Annahmen empirisch bislang nur vereinzelt überprüft wurden.

Praetorius et al. identifizieren in der pädagogisch-psychologischen Forschungsliteratur drei Grundannahmen zur Bedeutsamkeit des Fähigkeitsselbstkonzepts:

  1. Ein positives Selbstkonzept hat einen pädagogischen Eigenwert.
  2. Das Fähigkeitsselbstkonzept bedingt unterschiedliche motivationale und emotionale lernrelevante Merkmale.
  3. Fähigkeitsselbstkonzept und Leistung sind positiv korreliert.

Da ein Fähigkeitsselbstkonzept hinsichtlich schulischer Leistungen in einzelnen Fächern erst mit Beginn der Schulzeit ausgeprägt werden kann und die anfängliche Lern- und Leistungsentwicklung das Fundament für die weitere Schullaufbahn legt, gilt die Grundschulzeit als besonders wichtig.

Die Ergebnisse der bisher durchgeführten empirischen Querschnittsstudien deuten auf eine schwache bis mittlere Bestätigung der These hin, dass positive Selbstkonzepte Leistungen positiv beeinflussen. Zieht man ergänzend zu den Ausführungen von Praetorius et al. Ergebnisse der Metastudie von Valentine, DuBois und Cooper (2004) heran, ist dies insgesamt stärker der Fall bezüglich einzelner Fächer als bezüglich der schulischen Leistungen im Allgemeinen.

Praetorius et al. resümieren, dass die bisher vorliegenden wenigen Langzeitstudien keine eindeutigen Ergebnisse erbracht hätten und eher in der Sekundarstufe oder im Tertiärbereich durchgeführt wurden. Daraus leiten sie die Notwendigkeit weiterer Forschung ab und verweisen darauf, dass besonders der Grundschulbereich, dem – wie oben gesagt – eine besondere Bedeutung in der Entwicklung von Lernenden zukommt, dafür prädestiniert sei.

Das Autorenteam setzt „positives oder optimistisches Fähigkeitsselbstkonzept“ mit dem Begriff „Selbstüberschätzung“ synonym, weil sie in der Studie jeweils die Selbsteinschätzung der Lernenden im Fach Mathematik mit zeitgleich getesteten Leistungen in diesem Fach abgleichen. Lernende, die sich positiv einschätzen und auch entsprechende Leistungen aufweisen, werden in die Gruppe der sich realistisch einschätzenden Schülerinnen und Schüler eingeordnet. Somit befinden sie sich in einer Gruppe mit anderen Schülerinnen und Schülern, die sich ebenfalls realistisch einschätzen, deren Leistungen aber möglicherweise schlechter sind. Nur Schülerinnen und Schüler, die sich positiv einschätzen, aber in den Tests nicht die entsprechenden Leistungen erzielen, werden in die Gruppe der Lernenden mit optimistischem Fähigkeitsselbstkonzept eingeordnet, was dann mit Selbstüberschätzung gleichgesetzt werden kann.

Das Autorenteam referiert querschnittliche Forschung aus dem Primarbereich, nach der (junge) Kinder eher zu einer Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten neigen, weil sie

  1. Anstrengung und Fähigkeit noch gleichsetzen und ihre Leistungen gemäß der aufgewendeten Anstrengung erleben,
  2. kaum soziale Vergleiche nutzen, um zu einer Selbsteinschätzung zu gelangen,
  3. erst mit steigendem Alter lernen, Erfolge und Misserfolge in ihre Selbsteinschätzung einzubeziehen und
  4. dazu tendieren, ihre Fähigkeiten in Einklang mit ihren Wünschen einzuschätzen.

Hinsichtlich der Frage, wie stabil diese Fähigkeitsselbstkonzepte sind, beziehen sich Praetorius et al. auf eine Untersuchung von Bouffard et al. (2011). In einer Längsschnittstudie mit Grundschulkindern ab der dritten bzw. vierten Klasse untersuchte diese Autorengruppe Fähigkeitsselbstkonzepte und Intelligenzwerte mittels Residualwerten über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg. Sie konnten fünf Gruppen von Kindern ermitteln, drei Gruppen wurden als stabil in ihrer Selbsteinschätzung bezeichnet (stabil optimistisch 15 %, stabil moderat optimistisch 49 %, stabil pessimistisch 27 %), zwei Gruppen wiesen Veränderungen auf (über die Zeit deutlich pessimistischer werdend 6 % und sehr pessimistisch beginnend und über die Zeit weniger pessimistisch werdend 4 %). Ein großer Anteil der Kinder zeigte sich also als insgesamt stabil in der Selbsteinschätzung. Weiterhin wurden pessimistische Selbsteinschätzungen als bedeutsamer Risikofaktor für niedrige Leistungen ermittelt.

Praetorius et al. kommen zu dem Schluss, dass es durch die bisherige Forschung einige Anhaltspunkte gebe, aber noch keine gesicherte Evidenz hinsichtlich der Stabilität von Selbsteinschätzungen und zum Zusammenhang zwischen diesen und der Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern. Daraus leiten sie drei Fragestellungen ab:

  1. Wie stabil sind Selbstüber- bzw. -unterschätzung der eigenen mathematischen Fähigkeiten über die Grundschulzeit?
  2. Lassen sich mathematische Fähigkeiten – unter Kontrolle vorheriger Leistungen – durch die Selbstüber- und -unterschätzungen zu einem früheren Zeitpunkt vorhersagen?
  3. Lässt sich die häufig geäußerte Vermutung, (moderat) positive Selbsteinschätzungen beeinflussten die Leistungsentwicklung positiv, verifizieren?

Hypothesen werden nicht explizit formuliert.

Stichprobe

Die Studie situiert sich innerhalb des Projektes „Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern“ (PERLE), das in zwei Phasen von 2006-2009 und von 2009-2011 durchgeführt wurde und in dessen Rahmen unterschiedlichste Forschungsprojekte angesiedelt waren.

Über den gesamten Zeitraum von vier Jahren hinweg wurden Daten aus 42 Klassen an 25 Grundschulen in Sachsen, Thüringen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern erfasst, dabei wurden insgesamt 964 Schülerinnen und Schüler befragt bzw. getestet (52 % weiblich). Die Zahl der befragten Schülerinnen und Schüler zu den fünf Erhebungszeitpunkten variierte stark:

 

   Schuljahr  Monat und Jahr  Teilnehmende
 1  Beginn 1. Schuljahr  Sept.-Nov. 2006  735
 2  Ende 1. Schuljahr  Juni 2007  740
 3  Ende 2. Schuljahr  Juni 2008  832
 4  Ende 3. Schuljahr  Juni 2009  573
 5  Ende 4. Schuljahr  Juni 2010  595

Zum ersten Erhebungszeitpunkt waren die Schülerinnen und Schüler im Mittel 6 Jahre und 6 Monate alt (SD = 4 Monate). Alle entstammten überwiegend Familien mit mittlerem bis hohem ökonomischen Status, sodass das Autorenteam die Stichprobe als sozial selektiv bezeichnet.

Außer beim ersten Messzeitpunkt wurde das Fähigkeitsselbstkonzept im Fach Mathematik zeitgleich mit den tatsächlichen Leistungen erhoben. Zu Beginn des ersten Schuljahres war die Messung des Selbstkonzepts – so das Autorenteam – aufgrund der geringen Aufmerksamkeitsspanne erst sechs bis acht Wochen später möglich.

Instrumente

Zur Messung des mathematischen Fähigkeitsselbstkonzepts wurde eine eigens entwickelte 3-stufige Skala mit sechs Items eingesetzt. In den beiden ersten Schuljahren enthielt diese Piktogramme und wurde den Schülerinnen und Schülern vorgelesen, damit fehlende Lesefähigkeiten nicht zu einer Verzerrung führten. Im ersten Schuljahr wurden die Kinder einzeln, im zweiten Schuljahr in Kleingruppen getestet. Dabei hatten die Testleiterinnen und -leiter darauf zu achten, dass sich die Kinder beim Ankreuzen der Piktogramme nicht gegenseitig beeinflussen. Der höchste Wert 3 entsprach jeweils dem höheren Fähigkeitsselbstkonzept. Praetorius et al. berichten eine zufriedenstellende interne Konsistenz der Skala zu allen Messzeitpunkten (α = .82 bis .90). Invarianzanalysen zeigten, dass die Invarianz über die Zeit hinreichend gesichert war, die Faktorwerte wurden ausgelesen und für die nachfolgenden Analysen verwendet.

Die Messung der mathematischen Leistungen erfolgte mittels standardisierter Schulleistungstests mit arithmetischen Aufgaben zur Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division in Form von Rechen- und Textaufgaben, entsprechend dem Curriculum der einzelnen Schuljahre. Im ersten Schuljahr wurden auch Zählaufgaben, im dritten und vierten zusätzlich einzelne Schätz- bzw. Wahrscheinlichkeitsaufgaben gestellt. Die Anzahl der Items lag zu allen Messzeitpunkten bei 25, lediglich beim 3. (Ende des 2. Schuljahres) bei 27. Zu jedem Messzeitpunkt wurden Ankeritems für die Datenerhebung und Skalierung verwendet.

Gleichzeitig wurde im Rahmen eines mehrdimensionalen Rasch-Modells für jede Schülerin und jeden Schüler ein Personenfähigkeitsparameter (WLE) geschätzt, in dem jede Dimension einen Messzeitpunkt abbildet. Dazu wurde die Software ConQuest verwendet. Da diese aber WLE-Schätzer nur für die Probanden berechnet, zu denen zu allen fünf Messzeitpunkten Daten vorliegen, was ja – wie die Zahlen in der Tabelle oben zeigen – lange nicht für alle zutrifft, ging man zweischrittig vor: Zuerst wurden die Item-Schwierigkeiten über alle Fälle und Messzeitpunkte hinweg geschätzt, sodann wurden die WLE-Personenfähigkeitsschätzer pro Messzeitpunkt unter Vorgabe der vorher ermittelten Item-Schwierigkeiten bestimmt. Die EAP-/PV-Reliabilität betrug zu t1 = .80, zu t2 = .81, zu t3 = .83, zu t4 = .76 und zu t5 =.70.

Anschließend regredierte das Autorenteam für alle Messzeitpunkte die Fähigkeitsselbstkonzepte im Fach Mathematik auf die mathematischen Leistungen und bildete auf diese Weise Residualscores, die es z-standardisierte. Dabei galten Werte über Null als Selbstüber- und Werte unter Null als Selbstunterschätzung.

Unter Verwendung der Software Mplus 7.11 sowie des Restricted-Maximum-Likelihood-Schätzers wurden Cross-Lagged-Panel-Analysen durchgeführt. Dazu wurden neben den autoregressiven Pfaden der mathematischen Leistungen sowie den Residualscores zeitverzögerte Pfade der Leistungen auf die Residualscores modelliert. Alle Variablen gingen als manifest in die Analysen ein.

Die Gesamtzahl von 964 Schülerinnen und Schülern (s. o.) erklärt sich dadurch, dass alle erhobenen Daten für alle Schülerinnen und Schüler zu allen Messzeitpunkten ausgewertet wurden und nicht nur die von denjenigen, zu denen durchgängig zu allen Zeitpunkten Daten erhoben werden konnten.

Es ergeben sich für die drei Forschungsfragen folgende Ergebnisse:

1. Wie stabil sind Selbstüber- bzw. -unterschätzung der eigenen mathematischen Fähigkeiten über die Grundschulzeit?

Die Korrelationen der Residualscores zeigen, dass das Ausmaß an Selbstüber- bzw. -unterschätzungen über die Grundschulzeit hinweg gering bis mäßig stabil ist. Deskriptiv ist festzustellen, dass das Fähigkeitsselbstkonzept im Durchschnitt tendenziell schlechter wird. Daher kann diese Forschungsfrage nicht eindeutig beantwortet werden; das Autorenteam äußert jedoch aufgrund der ansteigenden Zusammenhänge zwischen aufeinander folgenden Residualscores die Vermutung, dass die Stabilität der Fähigkeitsselbstkonzepte über die Grundschulzeit hinweg zunimmt. Hier seien weitere Studien notwendig, um zu konsistenten Befunden zu gelangen.

2. Lassen sich mathematische Fähigkeiten – unter Kontrolle vorheriger Leistungen – durch die Selbstüber- und -unterschätzungen zu einem früheren Zeitpunkt vorhersagen?

Die Cross-Lagged-Panel-Analysen zeigen, dass Effekte der Residualscores auf die folgenden Mathematikleistungen nur für die ersten beiden Messzeitpunkte, also für das erste Schuljahr, feststellbar sind. Umgekehrt lassen sich jedoch deutliche Effekte der Mathematikleistungen auf die anschließenden Residualscores nachweisen.
Diese Forschungsfrage kann also nur partiell positiv beantwortet werden. Nur im ersten Schuljahr zeigen sich Selbstüberschätzungen mit positiver und Selbstunterschätzungen mit negativer Wirkung.

3. Lässt sich die häufig geäußerte Vermutung, (moderat) positive Selbsteinschätzungen beeinflussten die Leistungsentwicklung positiv, bestätigen?

Um diese Annahme zu überprüfen, wurde jeweils zusätzlich zu dem linearen Effekt ein quadratischer Term der Residualscores auf die darauffolgende Leistung mit aufgenommen. Das Modell weist einen guten Fit auf, es ist jedoch zu keinem Messzeitpunkt ein signifikanter Effekt nachzuweisen. Diese Annahme lässt sich demnach nicht eindeutig bestätigen; die umgekehrte Beeinflussung der Fähigkeitsselbstkonzepte durch die getesteten mathematischen Leistungen wird jedoch deutlich nachgewiesen. Einen möglichen Grund für dieses Ergebnis sieht das Autorenteam in der „oftmals vorherrschenden soziale[n] Bezugsnormorientierung von Lehrkräften“. Die These ist, dass Lehrpersonen durch ihre Art der Rückmeldungen im Klassenverband die Selbstwahrnehmung beeinflussen.

Praetorius et al. diskutieren ihre Ergebnisse abschließend ausführlich und gehen kritisch mit verschiedenen Parametern und Instrumenten ihres Designs um. Diese Kritik wird in das folgende Kapitel integriert und jeweils explizit als eigene Kritik des Autorenteams ausgewiesen.

Zusammenfassend werden als mögliche pädagogische Implikationen aufgeführt, dass eine Selbstüberschätzung zu Beginn der Grundschulzeit nicht besorgniserregend, sondern gar funktional sei, eine Unterschätzung sich allerdings negativ auf die Leistungen auswirke.

Praetorius et al. widmen sich in ihrer Studie einer pädagogisch relevanten Fragestellung, indem sie u. a. untersuchen, ob ein optimistisches oder pessimistisches Fähigkeitsselbstkonzept von Schülerinnen und Schülern mit ihren (nachfolgenden) Lernleistungen zusammenhängt. Da sich fächerbezogene Fähigkeitsselbstkonzepte erst in der Grundschule herausbilden, verspricht die längsschnittlich angelegte Untersuchung interessante Erkenntnisse zur anfänglichen Entwicklung dieses vermutetermaßen wirkmächtigen motivationalen Merkmals.

Hintergrund
Im Artikel wird ausführlich die Forschungslage hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Fähigkeitsselbstkonzepten und Leistungsentwicklung dargestellt, getrennt nach statistischer Vorgehensweise und nach Querschnitt- und Längsschnittstudien. Hingegen werden zentrale theoretische Begriffe, i. e. Selbstkonzept, Fähigkeitsselbstkonzept, Selbsteinschätzung, weder trennscharf verwendet noch klar definiert. Selbstkonzept ist jedoch ein wesentlich umfassenderer Begriff als das auf die schulischen Leistungen begrenzte Fähigkeitsselbstkonzept. Andere alternative Begriffe, die in der Forschung zur Anwendung kommen, wie Selbstschema etc. werden nicht erwähnt. Hier in der Studie wäre der Begriff des Fähigkeitsselbstkonzepts wohl einzig korrekt.

Teilweise wird die Forschungsliteratur begrifflich nicht klar referiert. Die Metastudie von Valentine, DuBois und Cooper aus dem Jahre 2004 fasst Forschung zu positiven Fähigkeitsselbstkonzepten und deren positiven Auswirkungen und nicht – wie hier wiedergegeben – zu Selbstkonzepten und deren positiven Effekten zusammen.

Es wird nicht explizit erläutert, dass „positives Selbstkonzept“ – bzw. korrekter Fähigkeitsselbstkonzept – synonym mit dem Begriff „Selbstüberschätzung“ (und analog „pessimistisches Selbstkonzept“ mit „Selbstunterschätzung“) verwendet wird. Ein positives oder optimistisches Fähigkeitsselbstkonzept wird bei entsprechenden guten Leistungen für die Statistik hier sofort zu einem realistischen, es bleibt eigentlich aber ein genuin positives. Das hieße, dass Optimismus etwas Unrealistisches beinhaltet; so wird der Begriff jedoch sehr verengt. Vor allem erscheint es hier so, als wäre dies ein sekundäres Konzept, weil es erst nach der Korrelation mit der tatsächlichen Leistung zu diagnostizieren ist. Am Anfang steht also ein positives Fähigkeitsselbstkonzept im Fach Mathematik, stimmt dies nicht mit den erbrachten Leistungen in den jeweiligen Tests überein, wird es als Selbstüberschätzung qualifiziert. Nach Ansicht der Rezensentin fehlt hier, wie oben bereits angedeutet, eine gewisse Trennschärfe, denn es erscheint wie eine Nomenklatur ex post.


Design
Das Selbstkonzept eines Individuums ist ein komplexes Geflecht, das aus unterschiedlichen Einflussquellen gespeist wird und daher extrem wandelbar ist. Gerade im Grundschulalter ist es im Werden begriffen und bildet sich erst aus. Daher irritiert die Frage nach dessen Stabilität zunächst. Da im Folgenden aber deutlich wird, dass es um das Fähigkeitsselbstkonzept der Kinder im Fach Mathematik geht, relativiert sich dies wieder etwas. Dennoch bleibt zu fragen, was genau gemessen wird, wenn ein gerade erst eingeschultes Kind im Alter von sechs Jahren, das im Normalfall Mathematik als Fach noch nie unterrichtlich genossen haben kann, mittels sechs dreistufigen Items zu seinem Fähigkeitsselbstkonzept in diesem Fach befragt wird. Dass die Befragung zum Fähigkeitsselbstkonzept beim ersten Messzeitpunkt erst sechs bis acht Wochen nach den Tests zu den mathematischen Fähigkeiten stattfand, mag wohl auch den Grund gehabt haben, dass kein Kind zu Beginn des ersten Schuljahres etwas zu seinen Fähigkeiten in einem Fach sagen kann, das es gerade erst ansatzweise kennengelernt hat. Aber auch nach sechs bis acht Wochen wird dies schwierig gewesen sein. Somit lässt sich bezweifeln, ob die ausschließlich für die ersten Messzeitpunkte festgestellten Signifikanzen tatsächlich Effekte eines fachspezifischen Fähigkeitsselbstkonzepts abbilden. Eine vom Autorenteam zitierte andere Langzeitstudie beginnt mit den Erhebungen erst im dritten Grundschuljahr, was in diesem Zusammenhang mehr einleuchtet.

Darüber hinaus erscheint es fraglich, inwieweit eine dreistufige Skala differenziert eine Fähigkeitsselbsteinschätzung abbilden kann und wie gut jüngere Kinder in der Lage sind, diese Einschätzung vorzunehmen, zumal Praetorius et al. selbst referieren, dass bei jüngeren Kindern Selbstüberschätzungen die Regel sind.

Das Autorenteam beschreibt seine Vorgehensweise und vor allem die Auswertungsmethoden ausführlich. Die eingesetzte Auswertungssoftware erscheint als sinnvoll gewählt und zweckmäßig angewendet. Die durchgeführten Berechnungen sind sinnvoll aus dem Forschungsinteresse abgeleitet, über die Erfüllung der Gütekriterien wird jeweils Auskunft gegeben. Eine Replikation wurde nicht vorgenommen, lediglich als Desiderat formuliert.

Praetorius et al. schränken die Gültigkeit ihrer Befunde selbst ein, indem sie darauf hinweisen, dass es sich um eine sozial selektive Stichprobe handelt.

Nicht erläutert werden die starken Schwankungen bei den Schülerzahlen zu den fünf Messzeitpunkten. Es bleibt ebenfalls unklar, warum Daten von Kindern aufgenommen und mit ausgewertet wurden, von denen nicht zu allen fünf Messzeitpunkten Daten vorlagen.

Ergebnisse
Die drei Forschungsfragen werden geprüft und beantwortet, wobei sich insgesamt unklare Befunde ergeben, die weiter geprüft werden müssen – so das Autorenteam selbst.
Praetorius et al. formulieren eine Reihe weiterer Einschränkungen, die im Folgenden aufgelistet werden:

  • Die Befunde gelten nur für das Fach Mathematik, da andere Fächer nicht einbezogen wurden.
  • Die Operationalisierung der Variable „Selbstkonzept“ müsse hinterfragt werden, weil der Abgleich zwischen Selbstkonzept (eigentlich: Fähigkeitsselbstkonzept!) und Leistung nur dann valide sei, wenn es in einem klaren sozialen Bezugsrahmen erhoben wurde. Hier wurde es als absolutes (Fähigkeits)Selbstkonzept erhoben. Dennoch sollten die Messungen Bestand haben, da deutlich wurde, dass soziale und absolute (Fähigkeits)Selbstkonzepte korrelieren.
  • Die Residualscores seien insofern als kritisch zu betrachten, als Optimisten über die Abweichungen der Individuen von den Regressionsgraden der Gesamtstichprobe bestimmt wurden und somit eine rein statistische Gruppierung darstellten. Die Einstufung sei damit stark von der Stichprobe selbst abhängig.
  • Das Autorenteam räumt ein, dass sein Konzept von Optimismus im Sinne von Selbstüberschätzung nicht mit dem Optimismus-Begriff der pädagogisch-psychologischen Forschung übereinstimmt.

Letzteres schließt sich an die hier bereits formulierte Kritik zur fehlenden Begriffsdefinition und zur synonymen Verwendung von optimistischem bzw. positivem (Fähigkeits)Selbstkonzept und Selbstüberschätzung an.

Vor allem der Nebenbefund, dass die Mathematikleistungen das Fähigkeitsselbstkonzept in dem Fach wesentlich deutlicher beeinflussen als umgekehrt, erscheint pädagogisch interessant, wenn auch nicht überraschend zu sein. Auf dieses Ergebnis gehen Praetorius et al. aber nicht weiter ein, sondern nennen eine Vermutung, wie es dazu kommen kann. Hier könnte man grundsätzlich die Praxis der Leistungsbewertung vor allem in der Grundschule, sei es durch Noten, durch mündliche Rückmeldungen der Lehrpersonen sowie durch den verbalen Umgang mit Schülerantworten im Plenum, diskutieren und in Frage stellen.

Weiterführende Erkenntnisse liefert die Studie daher kaum; es muss ihr aber zu Gute gehalten werden, dass sie eine verbreitete Annahme als nicht uneingeschränkt zutreffend identifizieren kann: Ein positives Selbstkonzept wirkt dieser Studie zufolge nicht per se „wie ein Zusatzmotor“, wie Helmke (1998) mehrfach zitiert wird.

Vielleicht liegt es aber auch am Design, den Instrumenten und der problematischen Operationalisierung einzelner Variablen, dass diese These nicht bestätigt werden konnte, die theoretisch erst einmal Sinn zu ergeben scheint.

Nach Ansicht der Rezensentin stellt sich in pädagogischer und besonders grundschulpädagogischer Hinsicht vor allem die Frage danach, wie das Fähigkeitsselbstkonzept von Schülerinnen und Schülern jenseits der Benotung gestärkt werden könnte.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Suja-Era Merkamp, Lehrerin am Städtischen Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung, Leverkusen

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