Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Leucht, M., Köller, O., Neumann, M. & Baumert, J. (2017). Berufsbezogene Kompetenzen in der gymnasialen Oberstufe: Vergleich wirtschaftlicher und technischer Gymnasien. Unterrichtswissenschaft, 45(1), 36–50.FIS BildungDie Ausbildung berufsbezogener Kompetenzen ist ein wichtiges Ziel beruflicher Gymnasien. Doch inwiefern gelingt eine Förderung berufsbezogener Vorläuferkompetenzen in unterschiedlichen Gymnasialzweigen (Technik, Wirtschaft), und resultieren möglicherweise Kompetenzunterschiede in Abhängigkeit vom jeweiligen Schwerpunktfach (z. B. Elektrotechnik vs. Maschinenbautechnik)?
Leucht et al. untersuchen an beruflichen Gymnasien in Schleswig-Holstein, wie der Besuch berufsvorbereitender Unterrichtsfächer im Verlauf der Jahrgangsstufen 11 bis 13 in Zusammenhang steht mit berufsbezogenen Kompetenzen am Ende der 13. Jahrgangsstufe. Hierzu wurden Kompetenzen von 1.445 Schülerinnen und Schülern aus den Gymnasialzweigen Wirtschaft und Technik mithilfe standardisierter Tests zu den Bereichen Wirtschaft, Technik, Arbeit und Beruf sowie Berufs- und Lebenswegplanung erhoben und mehrebenenanalytisch ausgewertet.
Unter Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten und des Geschlechts sind am Technikzweig die Kompetenzen im Bereich Technik im Durchschnitt höher, in den anderen drei Bereichen sind bessere Leistungen für den Gymnasialzweig Wirtschaft zu verzeichnen, was auf das „Mehr“ an Unterrichtsstunden zurückgeführt wird (nominell 240 Unterrichtsstunden mehr in den berufsvorbereitenden Unterrichtsfächern). Es zeigen sich keine bedeutsamen Kompetenzunterschiede in Abhängigkeit vom gewählten Schwerpunktfach.
Neben den zu erwartenden Ergebnissen, dass mehr Unterrichtszeit mit höheren Leistungen einhergeht und bereichsspezifische Kompetenzen in Abhängigkeit vom besuchten Gymnasialzweig variieren, bleibt der Befund, dass die Wahl eines Schwerpunktfaches innerhalb eines Zweiges keine Vor- oder Nachteile mit sich bringt im Hinblick auf berufsbezogene Kompetenzen, wie sie in dieser Studie getestet wurden.
Allerdings ist die Testvalidität zweifelhaft, u. a. weil nur ein kleiner und wohl kaum repräsentativer Ausschnitt möglicher berufsbezogener Kompetenzen mithilfe von papierbasierten Tests erhoben wurde, die keine realitätsnahen Anforderungen simulieren. Daher sind die Befunde nicht gesichert und nicht verallgemeinerbar.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte:
Reflexionsfragen für Schulleitungen:
Einleitend verweisen die Autoren auf vorliegende Untersuchungsergebnisse, nach denen ca. 20 % der Absolventinnen und Absolventen mit allgemeiner Hochschulzugangsberechtigung in eine berufliche Ausbildung münden oder sie fest einplanen. Demnach erscheint es erforderlich, neben der schon häufiger untersuchten Gleichwertigkeit der an allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien vergebenen Abschlüsse verstärkt berufsbezogene Vorläuferkompetenzen von Schülerinnen und Schülern am Ende ihrer Schullaufbahn an beruflichen Gymnasien in den Blick zu nehmen.
Im Abschnitt zum theoretischen Hintergrund werden einige Informationen zu beruflichen Gymnasien gegeben: mittlerweile seien sie in 13 von 16 Bundesländern vertreten, wobei die Autoren irrtümlicherweise Nordrhein-Westfalen als eines der Länder benennen, an denen es keine beruflichen Gymnasien gebe. Die angebotenen Fachrichtungen bzw. Gymnasialzweige variierten von Bundesland zu Bundesland, allerdings seien die beiden Zweige Wirtschaft und Technik am bedeutsamsten.
Als Voraussetzung für den Besuch eines beruflichen Gymnasiums in Schleswig-Holstein, wo die Studie durchgeführt wurde, muss ein überdurchschnittlicher mittlerer Schulabschluss vorliegen. Die zu belegenden Fächer werden auf grundlegendem und erhöhtem Anforderungsniveau angeboten. Eines der beiden Fächer auf erhöhtem Anforderungsniveau ist das sog. berufsbezogene Schwerpunktfach. Im Gymnasialzweig Wirtschaft wurden zum Zeitpunkt der Datenerhebung die beiden Fächer Betriebswirtschaftslehre mit Rechnungswesen sowie Volkswirtschaftslehre angeboten. Im Gymnasialzweig Technik konnte zwischen den Fächern Bautechnik, Biotechnologie, Datenverarbeitungstechnik, Elektrotechnik, Gestaltungstechnik, Maschinenbautechnik sowie Technik gewählt werden. Im Zweig Wirtschaft konnten zusätzlich vier und im Zweig Technik drei weitere berufsvorbereitende Fächer belegt werden. In allen berufsvorbereitenden Fächern soll der Aufbau von Kompetenzen in den Bereichen Sach-, Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenz anvisiert werden. In der vorliegenden Studie werden allein Aspekte von Sachkompetenz in den Blick genommen.
Gemäß den Autoren zeigen bisherige Studien, dass berufliche Gymnasien eher eine Schülerklientel anziehen, das in der Sekundarstufe I einen nichtgymnasialen Bildungsgang besucht hat. Die kognitiven Grundfähigkeiten der Schülerinnen und Schüler verteilten sich zudem ungleich und lägen im Bereich Technik signifikant höher als im Bereich Wirtschaft. Weiterhin scheine das Interesse männlicher Schüler für den Zweig Technik höher zu sein als für junge Frauen.
Zur Diagnose von berufsvorbereitenden Kompetenzen lägen nur wenige Vorarbeiten vor. Bei den verwendeten Instrumenten handele es sich primär um paper-pencil-Operationalisierungen berufsbezogener Sachkompetenzen ohne Anwendung in simulierten Realsituationen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde ein entsprechender Test eingesetzt, mit dem Vorläuferkompetenzen in den Teilbereichen Wirtschaft, Technik, Arbeit und Beruf sowie Berufs- und Lebenswegplanung erhoben werden.
Da im Zweig Wirtschaft über die Jahrgangsstufen 11, 12 und 13 insgesamt 240 berufsvorbereitende Stunden mehr unterrichtet wurden und das Fach Wirtschaftslehre auch im Technikzweig ein Pflichtfach war – wohingegen es ein Pflichtfach Technik im Wirtschaftszweig nicht gab – nehmen die Autoren an, dass Schülerinnen und Schüler im Wirtschaftszweig am Ende der 13. Jahrgangsstufe über höhere berufsbezogene Kompetenzen verfügen, außer im Teilbereich Technik.
Vor diesem Hintergrund leiten die Autoren ihre Fragestellungen ab:
Stichprobe: Zur Beantwortung der o. g. Fragestellungen wurden im Rahmen dieses Beitrags Leistungsdaten und Hintergrundvariablen von 940 Schülerinnen und Schülern des Gymnasialzweigs Wirtschaft und 505 Schülerinnen und Schülern des Gymnasialzweigs Technik analysiert (=1.445), die im Rahmen einer durch das IEA Data Processing and Research Center in Hamburg administrierten Studie Lernergebnisse an allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien in Schleswig-Holstein (LISA-6-Studie) erhoben worden waren. Die Erhebung fand im April und Mai 2013 statt.
Instrumente: Für die Studie wurden validierte Tests zur Erfassung berufsbezogener Vorläuferkompetenzen eingesetzt. Insgesamt kamen vier Untertests in einem Rotationsverfahren zum Einsatz: Wirtschaft (21 Aufgaben), Technik (20 Aufgaben), Arbeit und Beruf (18 Aufgaben) und Berufs- und Lebenswegplanung (23 Aufgaben). Das Geschlecht, die berufsbezogenen Schwerpunktfächer und die Abiturgesamtnoten wurden postalisch erfragt. Zur Erfassung der kognitiven Grundfähigkeiten wurden die Subskalen Figurenanalogien und Wortanalogien des Kognitiven Fähigkeitstests (KFT 4-12+R) eingesetzt.
Statistische Analysen: Die berufsbezogenen Kompetenzen wurden mit einem vierdimensionalen Rasch-Modell skaliert. Für die Schätzung von Plausible Values wurde ein Hintergrundmodell spezifiziert, das u. a. Geschlecht, Alter und Abiturdurchschnittsnote enthielt. Auf diese Weise konnten Ergebnisse auch in den Bereichen ermittelt werden, in denen die Schülerinnen und Schüler aufgrund der Testheftrotation keine Aufgaben bearbeitet hatten. Dies führte zu niedrigen PV-Reliabilitäten (0.52-0.66), welche jedoch nach Einschätzung der Autoren Gruppenvergleiche noch erlauben. Drop-out-bedingte fehlende Werte (14,1 %) wurden ebenfalls durch Plausible-Value-Schätzungen in den Berechnungen integriert. Die kognitiven Grundfähigkeiten wurden eindimensional raschskaliert. Der Vergleich der Leistungsstände zwischen den beiden gymnasialen Zweigen und Schwerpunktfächern erfolgte mehrebenenanalytisch mit Hilfe der Auswertungssoftware Mplus. Die Einflüsse des Geschlechts und der kognitiven Grundfähigkeiten wurden kontrolliert.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Schülerinnen und Schüler des Wirtschaftszweigs gegenüber denen aus dem Technikzweig in den drei Untertests Wirtschaft, Arbeit und Beruf sowie Berufs- und Lebensplanung Leistungsvorsprünge bei kleiner Effektstärke aufweisen (0.2 < d < 0.5). Im Untertest Technik schneidet der Technikzweig bei mittlerer Effektstärke besser ab (d = 0.5). Dabei lässt sich eine relativ geringe Bedeutsamkeit der Schwerpunktfächer für die berufsbezogenen Kompetenzstände am Ende der 13. Jahrgangsstufe feststellen, da sie wenig Varianz aufklären (insgesamt 3-6 %). Allein Schülerinnen und Schüler mit Schwerpunktfach Datenverarbeitungstechnik erzielen in den Bereichen Wirtschaft, Arbeit und Beruf sowie Berufs- und Lebenswegplanung höhere Ergebnisse als Schülerinnen und Schüler der anderen Schwerpunktfächer am Technikzweig.
Hintergrund
Die Studie von Leucht et al. greift vor dem Hintergrund der Frage nach der Ausbildung von Berufsfähigkeit und Vorbereitung auf bestimmte Berufsbilder an beruflichen Gymnasien ein für die Administration und für die Schule relevantes Forschungsdesiderat auf. Auf der Grundlage einer Querschnittuntersuchung werden berufsbezogene Vorläuferkompetenzen in den Gymnasialzweigen Wirtschaft und Technik am Ende der Jahrgangsstufe 13 im Bundesland Schleswig-Holstein betrachtet.
In der Einleitung machen die Autoren darauf aufmerksam, dass die empirische Bildungsforschung berufsvorbereitende Kompetenzen von Absolventinnen und Absolventen an beruflichen Gymnasien bislang selten untersucht hat, obwohl ca. 20 % von ihnen nach dem Abitur eine Ausbildung in Erwägung zieht bzw. anvisiert. Hieraus leiten sie die Relevanz der Studie in Form der Analyse berufsbezogener Vorläuferkompetenzen ab. Aus Sicht der Rezensenten hätte schon an dieser Stelle zur Stärkung der Studienrelevanz ein Verweis auf die Notwendigkeit der externen datengestützten Überprüfung der Ziele beruflicher Gymnasien (u. a. Ausbildung zur Berufsfähigkeit) vorgenommen werden können. Dies erfolgt erst im Kapitel Schlussfolgerungen.
Nach einigen übergeordneten Hintergrundinformationen zu beruflichen Gymnasien führen die Autoren des Beitrags in die Situation der Gymnasialzweige Wirtschaft und Technik in Schleswig-Holstein ein, da für die eigene Studie Daten aus diesem Bundesland analysiert werden. In diesem Zusammenhang stellen sie insbesondere heraus, welche Schwerpunktfächer innerhalb der beiden Zweige angewählt werden können und dass im Zweig Wirtschaft über die gesamte Oberstufe betrachtet (11.-13. Jahrgangsstufe) 240 berufsvorbereitende Unterrichtsstunden mehr anfallen als am Zweig Technik. Anschließend beschreiben Leucht et al. die Kernbereiche der berufsbezogenen Schwerpunktfächer und stellen Unterschiede zwischen den beiden Gymnasialzweigen Technik und Wirtschaft heraus. Abschließend geben sie Einblick in vorliegende Instrumente zur Diagnose berufsvorbereitender Kompetenzen. Auf dieser Basis werden die eigenen Fragestellungen abgeleitet.
Die Argumentationsweise und Hinführung zur Studie kann mit Einschränkungen als gelungen gelten. Die Unterkapitel im theoretischen Hintergrund wirken etwas unverbunden, wenngleich alle darin gegebenen Informationen für das Verständnis der Untersuchung sinnvoll erscheinen. Aus Sicht der Rezensenten hätte es geholfen, feste bzw. definierte Begrifflichkeiten für die abhängige Variable zu verwenden. Mal ist in dem Beitrag von berufsbezogenen Kompetenzen, mal von berufsvorbereitenden Kompetenzen und mal von berufsbezogenen Vorläuferkompetenzen zu lesen. Dass diese Begrifflichkeiten als Synonyme genutzt werden, erschließt sich lediglich aus dem Kontext.
Design
Das Studiendesign und die Durchführung werden ausführlich und nachvollziehbar benannt. Die Angaben zu den verwendeten Forschungsinstrumenten werden unter Verweis auf die Primärquellen gegeben. Die Datenaufbereitung und IRT-Modellierung sind nachvollziehbar. Für den Wald-Test zur Prüfung von Unterschieden zwischen den erreichten Kompetenzen in Abhängigkeit von den Schwerpunktfächern fehlen konkrete Testwerte, sodass es lediglich bei der Erwähnung inferenzstatistisch nicht vorliegender Unterschiede bleibt.
Ergebnisse
Die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel, jedoch treten sie in der Detailliertheit unvermittelt, da wenig auf die theoretische Hinführung bezugnehmend, in Erscheinung; so z. B. hinsichtlich der Ausführungen zu den Zielen der allgemeinbildenden gymnasialen Oberstufe, nämlich den Erwerb vertiefter Allgemeinbildung, Aufbau von Studierfähigkeit und die Wissenschaftspropädeutik. Zwar wird im Anschluss hieran auf das Bildungskonzept beruflicher Gymnasien Bezug genommen und erläutert, auf welche Zieldimensionen der gymnasialen Oberstufe die analysierten Kompetenzen fokussieren, aus Sicht der Rezensenten hätten diese Informationen aber teilweise schon in den theoretischen Hintergrund verortet werden können, um in den Schlussfolgerungen eine stärkere Verflechtung zwischen Anfang und Ende des Beitrags herzustellen. Dadurch hätten die Autoren auch noch ausführlicher auf die Limitationen der eigenen Studie eingehen können. Denn als einzige Einschränkung der Untersuchung wird benannt, dass die Vergleiche der erzielten Kompetenzstände lediglich entlang einer sozialen Bezugsnorm erfolgten und deswegen durch eine Diskussion über eine kriteriale Bezugsnorm ergänzt werden sollten.
Eine wesentliche Limitation, nämlich die eingeschränkt überzeugende Operationalisierung berufsbezogener Kompetenzen, wird hingegen nicht hinreichend kritisch reflektiert. Während als Ziele der berufsvorbereitenden Unterrichtsfächer einleitend und erneut in der Schlussbetrachtung neben der Anbahnung von Sachkompetenzen zusätzlich Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenzen genannt werden, erfasst der eingesetzte Test lediglich Aspekte von Sachkompetenz anhand eines Papier-Bleistift-Verfahrens, das keine anwendungsbezogenen Anforderungen simuliert.
Des Weiteren wurde der Test unter Bezug auf den Berliner Lehrplan und das dortige Unterrichtsfach Wirtschaft-Arbeit-Technik ursprünglich für den Einsatz am Ende der Sekundarstufe I entwickelt. Die Beschreibung der enthaltenen Aufgaben und die hohen Interkorrelationen zwischen den Subtests lassen vermuten, dass mit dem Test ausschnitthafte und eher wenig spezifische berufliche Vorläuferkompetenzen gemessen werden (z. B. erfolgreiches Wirtschaften in der eigenen Lebensführung, vergleichende Bewertung von Freemail-Anbietern). Hieraus ergeben sich erhebliche Zweifel hinsichtlich einer validen Erfassung relevanter beruflicher Vorläuferkompetenzen, wie sie während des dreijährigen Bezugszeitraums an beruflichen Gymnasien vermittelt und erworben werden. Belege für die Relevanz der Testergebnisse im Hinblick auf Berufsfähigkeit und Berufspropädeutik fehlen. Die Aussagekraft der Befunde und ihre Verallgemeinerbarkeit sind insofern nicht gewährleistet.
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