Fragestellungen der Studie:

  • Wie lässt sich die G9-Schülerschaft in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hinsichtlich ihrer sozialen und leistungsbezogenen Komposition beschreiben?

Rezension zur Studie

Kühn, S. M. (2016). Öffnung des Gymnasiums durch die Wiedereinführung von G9? Herausforderungen und Befunde im Kontext der aktuellen Heterogenitätsdebatte. In J. Kramer, M. Neumann & U. Trautwein (Hrsg.), Abitur und Matura im Wandel. Historische Entwicklungslinien, aktuelle Reformen und ihre Effekte (Edition ZfE, Band 2, S. 107–128). Wiesbaden: Springer VS.FIS Bildung

In der Debatte um die verkürzte Schulzeit wird u.a. angenommen, dass die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium eine Öffnung für eine nicht-traditionelle Schülerschaft aus sozial weniger begünstigten Familien und mit heterogenen Lernvoraussetzungen sowie eine bessere Nutzung der zusätzlichen Lernzeit für die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler bedinge. Die Autorin des rezensierten Beitrags untersucht diese Diskursaspekte, indem sie im Rahmen einer explorativen Studie Daten einer standardisierten Eltern- und Lehrkräftebefragung auswertet. Sie analysiert, inwiefern die Wiedereinführung des neunjährigen Bildungsgangs in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit einer Öffnung des Gymnasiums für eine erweiterte, nicht-traditionelle gymnasiale Schülerschaft einhergeht und inwieweit die zusätzliche Lernzeit für individualisierte Lernangebote genutzt wird.

Dabei wird deutlich: Die Öffnung des Gymnasiums für die genannte Schülerklientel ist zumindest für einen Teil der Schulen anzunehmen. Die Befragung der Lehrkräfte verdeutlicht, dass die Mehrheit nach der Einführung von G9 keine Veränderung in der Unterrichtspraxis vorgenommen hat. Teilweise liegen Hinweise auf die Zunahme einer individualisierenden Unterrichtspraxis und die Umsetzung entsprechender Fördermaßnahmen vor. Die Studie liefert interessante Hinweise zu diesen bislang nicht untersuchten Aspekten im Kontext der G8/G9-Debatte. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie haben die Ergebnisse eine nicht über die Stichprobe hinausgehende Aussagekraft.

Ein Großteil der Bundesländer hat im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. Unter anderem wegen anhaltender Kritik an der Schulzeitreform (G8) wird in mehreren Bundesländern wieder partiell oder flächendeckend die Rückkehr zum neunjährigen Gymnasien (G9) ermöglicht. Ein damit verbundenes Ziel ist, im Gymnasialbereich den Schülerinnen und Schülern mehr Bildungszeit zur Förderung ihrer fachlichen und überfachlichen Kompetenzen zu gewähren. Die Flexibilisierung der Schulzeitdauer verstärkt den gesellschaftlichen Diskurs über die Öffnung des Gymnasiums für eine nicht-traditionelle Schülerschaft mit größerer Heterogenität im Hinblick auf die jeweiligen Lern- und Leistungsvoraussetzungen. Zu den Fragen, ob durch die Wiedereinführung von G9 tatsächlich eine entsprechende Öffnung des Gymnasiums erfolgt ist und die zusätzliche Lernzeit für individuelle Förderung produktiv genutzt wird, existieren bislang keine Befunde. Der Beitrag von Kühn (2016) beschäftigt sich mit diesen Fragestellungen auf der Grundlage standardisierter Eltern- und Lehrkräftebefragungen aus der Erweiterung einer wissenschaftlichen Begleitforschung zum neunjährigen gymnasialen Bildungsgang in Nordrhein-Westfalen, in welcher zusätzlich Daten aus Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein berücksichtigt werden.

In der Einleitung greift die Autorin den in diesem Kontext bedeutsamen Diskurs zur verkürzten Schulzeitdauer auf. Sie verweist darauf, dass sich durch den demografischen Wandel, veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen und die Individualisierung von Lebensformen insgesamt eine zunehmende Heterogenität der Schülerschaft im deutschen Schulsystem empirisch abbilden lässt, jedoch bislang nur tendenziell Hinweise für eine wachsende leistungs- und herkunftsbezogene Heterogenität der gymnasialen Schülerschaft vorliegen.

Im zweiten Kapitel konfrontiert sie den für das Gymnasium relevanten Heterogenitätsdiskurs und die damit verbundene Annahme eines generell sinkenden Leistungsniveaus für diese Schulform mit bisherigen Forschungsbefunden. So liegen ihrer Aussage nach Hinweise dafür vor, dass trotz eines zu verzeichnenden Rückgangs sozialer Disparitäten weiterhin ein Großteil der Schülerinnen und Schüler an Gymnasien aus sozial begünstigten Familien mit hohem Bildungsniveau stammt, ein genereller Rückgang des Leistungsniveaus nicht nachgewiesen werden kann und zudem die leistungsbezogene Komposition der Schülerschaft an Gymnasien zwar heterogen, im Vergleich zu anderen Schulformen jedoch insgesamt homogener ist. Als Ursache für die zu beobachtende Leistungsbreite diskutiert die Autorin die jeweiligen Kontextmerkmale der Einzelschule. Es liegen bislang jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, wie sich vor diesem Hintergrund die Schülerschaft an Gymnasien mit neunjährigem Bildungsgang charakterisieren lässt und ob sich diese angesichts der zusätzlich zur Verfügung stehenden Lernzeit von der klassischen, primär aus sozial begünstigten Familien mit hohem Bildungsniveau stammenden Schülerschaft unterscheidet.

Weiterhin bezieht sie sich auf Diskurse zum produktiven Umgang mit Heterogenität, in welchen der Initiierung von Maßnahmen zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Angesichts dessen verweisen bisherige Forschungsergebnisse auf eine grundsätzliche Bereitschaft der Lehrkräfte zur Umsetzung individualisierender Fördermaßnahmen, ohne dass bislang datengestützte Hinweise für eine hinreichende heterogenitätssensible Förderpraxis an Gymnasien vorliegen. Neben von Lehrkräften als hinderlich rückgemeldeten Faktoren für die Realisierung individueller Fördermaßnahmen (u. a. materielle und personelle Ressourcen) wird im Kontext der Debatte um die Schulzeitdauer auch die zeitliche Verdichtung in Folge der Schulzeitverkürzung als limitierender Faktor benannt, wenngleich für diese Annahme derzeit keine Evidenz vorliegt. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf Modelle und Forschungsbefunde, nach denen das Ausmaß der Lernzeit zwar als für den Lernerfolg bedeutsame jedoch nicht hinreichende Variable angesehen werden kann. Demnach führe allein die quantitative Steigerung der Lernzeit nicht unmittelbar zur Steigerung der Unterrichtsqualität und den damit verbundenen Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler.

Die Autorin resümiert, dass zum einen die Annahme einer veränderten sozial- und leistungsbezogenen Komposition der Schülerschaft an G9-Gymnasien einer empirischen Klärung bedarf. Zum anderen sei zu prüfen, ob die durch die Wiedereinführung von G9 zusätzlich zur Verfügung stehende Lernzeit für einen produktiven Umgang mit Heterogenität im Sinne individueller Förderung genutzt wird.

Zur Beantwortung dieser Fragestellungen rekurriert die Autorin auf Daten zweier Studien. Im Rahmen einer Befragung von Eltern der Fünftklässler an allen Gymnasien mit neunjährigem Bildungsgang (nG9=3.088) in Nordrhein-Westfalen (13 Schulen), Baden-Württemberg (22 Schulen) und Schleswig-Holstein (14 Schulen) und einem NRW-Gymnasium mit parallelem G8/G9-Angebot (nG8=530) erfolgt die Analyse der sozial- und leistungsbezogenen Kompositionsmerkmale der Schülerschaft (Studie 1). Zur Betrachtung der heterogenitätssensiblen Unterrichts- und Förderpraxis im Kontext der erweiterten Bildungszeit erfolgt eine Befragung von Lehrkräften (n=187), die im neunjährigen gymnasialen Bildungsgang in Nordrhein-Westfalen unterrichten (Studie 2).

Die Autorin benutzt für ihre Analysen im Kontext der Studie 1 beschreibende und gruppenvergleichende Verfahren in Form von Chi-Quadrat-Tests zur sozialen und leistungsbezogenen Komposition der Schülerschaft an Gymnasien mit neunjährigem Bildungsgang und unternimmt eine hierarchisch-agglomerative Clusteranalyse nach Ward zur Schultypisierung. Im Kontext der Studie 2 kommen ebenfalls beschreibende Verfahren (Mittelwertberichte und prozentuale Häufigkeiten) zum Einsatz.

Zu den in die Analyse einfließenden Variablen der Studie 1 zählen die Bildungsnähe (operationalisiert über den höchsten Bildungsabschluss im Elternhaus), der Migrationshintergrund und als leistungsrelevantes Merkmal die Grundschulempfehlung. Die Autorin merkt in diesem Zusammenhang an, dass die Grundschulempfehlung zwar keine Aussagen zum tatsächlichen Lern- und Leistungspotenzial der Schülerinnen und Schüler zulässt, jedoch durchaus als Indikator für das schulische Leistungsvermögen zu nutzen sei. In der Studie 2 wurden die Lehrkräfte mit Hilfe etablierter Instrumente nach ihrer allgemeinen Unterrichtsgestaltung – unterteilt in traditionelle (z.B. fragend-entwickelnder Stil) und erweiterte Lehrverfahren (z.B. Projektarbeit) – und durch die Wiedereinführung von G9 bedingte Veränderungen in ihrer Unterrichtspraxis gefragt.

Im Hinblick auf die Bildungsnähe und den Migrationshintergrund der Fünftklässler sind im Vergleich des acht- und neunjährigen Bildungsgangs in allen drei Bundesländern keine bedeutsamen Unterschiede zu beobachten. Jedoch stellen sich die leistungsbezogenen Voraussetzungen der G8-Schülerschaft insgesamt als homogener dar. Dies trifft jedoch nicht auf Baden-Württemberg zu, wo sowohl an G8- als auch an G9-Gymnasien relativ – gemessen an den Signifikanztests – homogene leistungsbezogene Voraussetzungen vorliegen.


Mittels Clusteranalyse identifiziert die Autorin drei verschiedene Gymnasialtypen der G9-Gymnasien: Ungefähr die Hälfte der Schulen lässt sich der Gruppe der Traditionsgymnasien zuordnen, in welchen die Schülerinnen und Schüler primär aus Familien mit hohem elterlichen Bildungsniveau stammen (ca. 77 %), überwiegend keinen Migrationshintergrund aufweisen (ca. 80 %) und meist über eine Gymnasialempfehlung verfügen (ca. 90 %) (Cluster 1). Schülerinnen und Schüler an Schulen in Cluster 2 stammen ebenfalls mehrheitlich aus sozial begünstigten Familien mit hohem Bildungsniveau (ca. 70 %), wenngleich der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund (15 %) signifikant niedriger ist als im Cluster 1. Der Anteil an Schülerinnen und Schülern ohne Gymnasialempfehlung liegt mit ca. 28 % deutlich über dem Anteil des ersten Clusters. Die Schulen im Cluster 3 weisen ebenfalls einen höheren Anteil an Schülerinnen und Schülern ohne Gymnasialempfehlung auf (ca. 26 %). Der Anteil an Schülerinnen und Schülern aus Akademikerfamilien ist geringer als in den beiden anderen Clustern und der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erweist sich in diesem Cluster als bedeutsam höher als in Cluster 1 und 2 (ca. 40 %). Die Verteilung der einzelnen Clustertypen variiert bundeslandspezifisch: Der Typus Traditionsgymnasium, (die beiden anderen Cluster werden von der Autorin nicht tituliert), liegt primär in Baden-Württemberg vor, die Mehrheit der Gymnasien in Schleswig-Holstein gehören zum Cluster 2. In Nordrhein-Westfalen verteilen sich die Gymnasien annähernd gleich auf die drei Cluster. Demnach kann nach Aussage der Autorin zumindest für einen Teil der Gymnasien eine Öffnung konstatiert werden.


Die Befragung der Lehrkräfte an den G9-Gymnasien zeigt, dass die Mehrheit nach der Einführung von G9 keine Veränderung der Unterrichtspraxis vorgenommen hat. Teilweise liegen Hinweise auf die Zunahme einer individualisierenden Unterrichtspraxis und Umsetzung individueller Fördermaßnahmen vor. Jedoch sind im Bereich der Diagnostik der Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler – welche ein elementarer Bestandteil individueller Fördermaßnahmen ist – keine Änderungen zu verzeichnen.

Zum Hintergrund: Die Studie greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es wird untersucht, inwiefern die Wiedereinführung des neunjährigen Bildungsgangs in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit einer Öffnung des Gymnasiums für eine erweiterte, nicht-traditionelle gymnasiale Schülerschaft einhergeht sowie die zusätzliche Unterrichtszeit zur individuellen Förderung genutzt wird. Die Autorin diskutiert die Relevanz ihrer Fragestellungen vor dem Hintergrund des allgemeinen und schulzeitspezifischen Heterogenitätsdiskurses sowie der in diesem Zusammenhang vorliegenden Forschungsbefunde. Die Argumentationsweise sowie die Diskursbezüge sind stringent und überzeugend. Für die Untersuchung wird jedoch kein theoretisches Rahmenmodell zugrunde gelegt. Der Überblick über den im Kontext der Forschungsfragen relevanten Forschungsstand gelingt.

Zum Design: Die Instrumente werden ausführlich beschrieben und der Erhebungsplan ist nachvollziehbar. Die Datenaufbereitung wird angemessen berichtet. Die methodische Vorgehensweise ist sachgerecht angelegt, wenngleich in Studie 2 nicht die reale sondern lediglich die selbstberichtete Unterrichtsgestaltung erfasst wird, die von der realen durchaus abweichen kann. Dieses wird von der Autorin auch angemessen diskutiert. Die berücksichtigten Variablen erscheinen als geeignet.

Zu den Ergebnissen: Die Zielstellungen der Untersuchung werden erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel, wenngleich diese insbesondere für die erste Studie durch kontrollierte Studiendesigns im Längsschnitt noch verifiziert werden müssten. Da die Autorin lediglich eine vergleichende Querschnittsanalyse von Kompositionsmerkmalen der Schülerschaft an G8- und G9-Gymnasien Querschnittsdaten vornimmt und die G9-Schulen keine Zufallsauswahl darstellen (was aufgrund der freigestellten Rückkehr zu G9 auch nicht erwartet bzw. gesteuert werden konnte), sind die von der Autorin beobachteten Unterschiede auch anderweitig interpretierbar bzw. nicht zwangsläufig auf die Wiedereinführung von G9 zurückzuführen. Eine mögliche Ursache könnte auch die Stichprobenspezifik der G9-Gymnasien sein.

Aufgrund bislang fehlender Erkenntnisse darüber, inwiefern die Wiedereinführung des neunjährigen Bildungsgangs in den drei Bundesländern Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit einer Öffnung des Gymnasiums für eine erweiterte, nicht-traditionelle gymnasiale Schülerschaft sowie einer Zunahme an Maßnahmen zur individuellen Förderung bei der Unterrichtsgestaltung einhergeht, liefern die Ergebnisse datengestützte Hinweise für den aktuellen, mit der Debatte um die Schulzeitdauer verknüpften Heterogenitätsdiskurs an Gymnasien.

Die Autorin diskutiert angemessen wesentliche Grenzen ihrer Untersuchung: Die Befunde der Studie 2 beschränken sich auf die selbstberichtete Unterrichtsgestaltung von G9-Lehrkräften in Nordrhein-Westfalen. Zum anderen konnte durch die Fokussierung auf die Gymnasialempfehlung als Leistungsindikator nur näherungsweise das reale Lern- und Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler erfasst werden, was von der Autorin mit dem Wunsch nach zukünftigen Studien mit elaborierteren Instrumenten angemessen diskutiert wird, wenngleich aufgrund der bildungspolitischen Brisanz der Feldzugang mit standardisierten Messverfahren als voraussetzungsreich angesehen werden kann. Aufgrund des explorativen Charakters der beiden Studien haben die Ergebnisse eine nicht über die Stichprobe hinausgehende Aussagekraft. Die Autorin argumentiert jedoch nachvollziehbar, dass sich vor dem Hintergrund der Anschlussfähigkeit ihrer Ergebnisse an den derzeitigen Forschungsstand begründete Annahmen für die Situation in anderen Bundesländern formulieren lassen, in welchen ebenfalls partiell oder flächendeckend eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium stattfindet bzw. stattgefunden hat.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Mirko Krüger, PD, Lehrer an der Georg-Müller-Gesamtschule in Wetter (Ruhr) und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Schulsportentwicklung, Sprachbildung im Sportunterricht, Professionalisierung von Lehrkräften

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