Fragestellungen der Studie:

  • Werden Mädchen durch schulische Struktur- und Prozessmerkmale begünstigt?

Rezension zur Studie

van Hek, M., Kraaykamp, G. & Pelzer, B. (2018). Do Schools Affect Girls‘ and Boys‘ Reading Performance Differently? A Multilevel Study on the Gendered Effects of School Resources and School Practices. School Effectiveness and School Improvement, 29(1), 1–21.FIS Bildung

Vor dem Hintergrund des größeren Bildungserfolgs von Mädchen wird oft vermutet, dass Schülerinnen durch bestimmte schulische Struktur- und Prozessmerkmale begünstigt werden und daher mehr lernen und bessere Leistungen erzielen als Schüler.

Die Autorengruppe um Margriet van Hek untersucht, inwiefern die Leseleistungen von 15-Jährigen in Zusammenhang stehen mit verschiedenen schulischen Ressourcen (sozioökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft, Anteil der Mädchen > 60 %, Anteil von Lehrkräften mit Hochschulabschluss) und schulischen Praktiken (Beurteilung von Hausaufgaben, Einzelarbeit oder Projektarbeit) und ob Schülerinnen oder Schüler stärker von diesen Merkmalen profitieren. Ausgewertet wurden Daten der PISA-Studie 2009 (33 Bildungssysteme, n = 216.117) mithilfe von Mehrebenenanalysen.

International ist der Leistungsvorsprung der Mädchen in den Leseleistungen bei einer sozioökonomisch günstigen Komposition der Schülerschaft größer, jedoch lässt sich für Deutschland dieser Befund nicht bestätigen. Der Rückstand von Jungen fällt geringer aus, wenn der Mädchenanteil an ihrer Schule über 60 % liegt. Bezüglich der Beurteilung von Hausaufgaben, Einzelarbeit oder Projektarbeit und des Anteils von Lehrkräften mit Hochschulabschluss ergeben sich keine (differentiellen) Unterschiede in der Leseleistung. Dennoch bewertet die Autorengruppe einseitige Geschlechterverteilungen, wie sie v. a. in beruflichen Bildungsgängen vorkommen, als potenziell nachteilig und hält politische Maßnahmen für relevant, die darauf abzielen, eine gleiche Geschlechterverteilung in Klassen und Schulen zu fördern.

Allerdings erscheinen weitreichende Schlussfolgerungen auf Grundlage dieser Studienergebnisse kaum gerechtfertigt, denn zum einen ist zu bezweifeln, ob der einzige für Deutschland verbleibende Befund bei einer Analyse auf Länderebene Bestand hätte, da hierzulande nur sehr wenige Schulen einen Mädchenanteil von mehr als 60 % aufweisen. Zum anderen sind diese Schulen in der deutschen PISA 2009-Stichprobe hauptsächlich Realschulen und Gymnasien, d. h., der international geringere Leistungsrückstand der Jungen bei hohem Mädchenanteil könnte sich möglicherweise allein daraus ergeben, dass sie an Schulformen mit durchschnittlich leistungsstärkerer Schülerschaft stärker selektiert sind als die Mädchen. Dies könnte zudem erklären, warum sich in Deutschland ein größerer Leistungsvorsprung von Mädchen bei einer sozioökonomisch günstigen Komposition der Schülerschaft nicht nachweisen lässt.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Einstellung habe ich gegenüber einer geschlechtersensiblen Unterstützung in leistungsheterogenen Lerngruppen?
  • Wie ist das Geschlechterverhältnis an meinem Schulstandort und welche Konsequenzen könnte dies vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie für die Leistungen der Jungen (und Mädchen) haben?
  • Welche Maßnahmen ergreife ich, um Lernumgebungen so zu gestalten, dass Jungen und Mädchen jeweils ihr volles Lernpotential entfalten können?
  • Welche Regelungen auf Schul- und/oder Fachunterrichtsebene gibt es an meinem Schulstandort, um Jungen und Mädchen in ihrer Lesekompetenz gleichermaßen zu fördern?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Wie ist das Geschlechterverhältnis an meinem Schulstandort und welche Konsequenzen könnte dies vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie für die Leistungen der Jungen (und Mädchen) haben?
  • Welche Einstellung habe ich gegenüber einer geschlechtersensiblen Unterstützung in leistungsheterogenen Lerngruppen seitens meines Kollegiums?
  • Welche Maßnahmen ergreifen die Lehrkräfte an meiner Schule, um Lernumgebungen so zu gestalten, dass Jungen und Mädchen jeweils ihr volles Lernpotential entfalten können?
  • Welche Ressourcen stelle ich meinem Kollegium zur Verfügung, um einen geschlechtersensiblen Unterricht anzubieten?
  • Welche niederschwelligen Handlungskonsequenzen könnte ich an meinem Schulstandort aus den Ergebnissen dieser Studie ziehen?

In der Einleitung stellen van Hek, Kraaykamp und Pelzer die Schule als eine wichtige Sozialisationsinstanz im Kindes- und Jugendalter für heranwachsende Jungen und Mädchen heraus. Deswegen bestehe in der Forschung und Bildungspolitik ein großes Interesse an der Erkenntnis, wie Schulen Lernumgebungen schaffen können, in denen beide Geschlechter ihr volles Lernpotential entfalten. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozioökonomischen und ethnischen Herkunft sei durch Forschung lange nachgewiesen und infolgedessen sei intensiv erforscht worden, ob Schulen für Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen familiären Verhältnissen ähnlich effektiv seien. Da dies offensichtlich nicht der Fall ist, lohne es sich herauszufinden, inwiefern Schulen den Bildungserfolg von Mädchen und Jungen in unterschiedlicher Weise fördern, insbesondere in Anbetracht des nachgewiesenermaßen größeren Bildungserfolgs von Mädchen. Diesbezüglich sei jedoch bislang nur vereinzelt die Rolle des Schulkontextes untersucht worden.

Vor diesem Hintergrund geht die Autorengruppe um Margriet van Hek der Frage nach, in welchem Maße schulische Ressourcen und schulische Praktiken der Leistungsbeurteilung mit dem Bildungserfolg von Jungen und Mädchen in unterschiedlicher Weise in Zusammenhang stehen. Hierzu analysieren sie PISA-Daten aus dem Jahr 2009 und fokussieren in ihrer Studie auf die Leseleistung, da diese als Kernkompetenz für die Leistung in anderen Fächern und Lernbereichen (z. B. Mathematik und Naturwissenschaften) angesehen werde und mit diesen zusammenhänge. Ziel der Untersuchung ist es, die Rolle der Schule bei der Entstehung bzw. Aufrechterhaltung geschlechtsspezifischer Leistungsunterschiede herauszuarbeiten.

Im theoretischen Hintergrund verweisen van Hek et al. darauf, dass die Rolle der Finanzierung von Schulen für die Leistung von Schülerinnen und Schülern umstritten sei, hingegen habe sich die Schulkomposition (v. a. sozioökonomische und ethnische Hintergrundmerkmale der Lernenden) in der bisherigen Forschung als eine entscheidende Einflussgröße dargestellt. Die Bedeutung von verschiedenen Verfahren der Leistungsbeurteilung sei wenig erforscht, am ehesten noch sei der Effekt der Einführung zentraler Prüfungen untersucht worden.

Wenngleich Schulen im Allgemeinen zum Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern beitragen, bedeute dies nicht, dass ihr Einfluss auf alle gleich sei. Beispielsweise würden (hoch)qualifizierte Lehrkräfte vor allem dazu beitragen, dass sich die Leistungen von benachteiligten Schülerinnen und Schülern verbessern; anfänglich leistungsschwache Schülerinnen und Schüler würden mehr von individualisierter Instruktion profitieren als leistungsstarke.

Neben hochqualifizierten Lehrkräften und optimalen organisatorischen Bedingungen sei ein hoher Anteil von Schülerinnen und Schülern mit vorteilhaftem sozioökonomischem Hintergrund ein weiterer Indikator für Schulen mit hoher Qualität. Dabei wurde aus Sicht der Autorengruppe bislang noch nicht ausreichend untersucht, inwiefern diese Faktoren möglicherweise in unterschiedlichem Maße zu den Leistungen von Jungen und Mädchen beitragen.

Dabei gehen van Hek et al. von der Annahme aus, dass insbesondere Jungen von einer stimulierenden Lernumgebung profitieren würden, da sie sich – vermutlich aufgrund ihrer geringeren intrinsischen Motivation im Vergleich zu Mädchen – als besonders sensitiv für die Qualität von Lernumgebungen (z. B. chaotisch vs. gut organisiert) erwiesen hätten.

Weiterhin betont die Autorengruppe, dass die Beurteilung von schulischen Leistungen, die neben kognitiver Leistungsfähigkeit zusätzlich Selbstkontrolle, Organisations- und Kooperationsfähigkeit erforderten, für Mädchen von Vorteil und für Jungen von Nachteil seien. Denn Mädchen verfügten über mehr Selbstkontrolle, könnten sich besser organisieren und leichter konzentrieren und besäßen größere soziale Fähigkeiten. Jungen hingegen erhielten aufgrund ihres abweichenden Verhaltens im Unterricht vermehrt negative Aufmerksamkeit von Lehrkräften, deren Toleranzgrenze ihnen gegenüber wiederum niedriger ausfalle als gegenüber Mädchen. Wegen ihrer geringeren nicht-kognitiven Fähigkeiten würden Jungen vermutlich schlechter benotet, was zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden könne, da ihre schlechteren Noten zu einer Demotivation führten, was wiederum ihren allgemeinen Bildungserfolg beeinträchtigen würde.

Vor dem skizzierten Hintergrund untersuchen van Hek et al., inwieweit Schulressourcen und solche Formen der schulischen Leistungsbeurteilung in Zusammenhang mit den Leseleistungen von Jungen und Mädchen stehen. Hierzu formulieren sie folgende Hypothesen:

  • H1: Ein höherer Anteil an Schülerinnen und Schülern mit vorteilhaftem sozioökonomischem Hintergrund an Schulen beeinflusst die Leseleistungen von Jungen und Mädchen positiv, insbesondere profitieren davon die Jungen.
  • H2: Ein hoher Anteil von Mädchen an Schulen (> 60 %) beeinflusst die Leseleistungen von Jungen und Mädchen positiv, insbesondere profitieren davon die Jungen.
  • H3: Ein hoher Anteil von Lehrkräften mit Hochschulabschluss beeinflusst die Leseleistungen von Jungen und Mädchen positiv, insbesondere profitieren davon die Jungen.
  • H4: Eine häufigere Berücksichtigung von Hausaufgaben, Projektarbeiten und Gruppenarbeiten zu Bewertungszwecken beeinflusst die Leseleistung von Mädchen positiv und die Leseleistung der Jungen negativ.

Stichprobe
Zur Beantwortung der o. g. Fragestellungen nimmt die Autorengruppe eine Re-Analyse von Daten aus der PISA-Studie von 2009 vor. Nach dem Ausschluss von Fällen mit fehlenden Werten umfasste die Stichprobe 216.117 (15-jährige) Schülerinnen und Schüler von 8.306 Schulen aus 33 verschiedenen Bildungssystemen. Einbezogen wurden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in den Lesetests sowie Fragebogenangaben der Eltern, Schülerinnen und Schüler und der Schulleitungen.

Instrumente
Auf Individualebene wurde als abhängige Variable die Leseleistung der Schülerinnen und Schüler in den PISA-Tests verwendet. Außerdem wurden Fragebogenangaben zum Geschlecht, Alter, Bildungshintergrund der Eltern, zur Anzahl der Bücher als Indikator für kulturelles Kapital, zum Migrationshintergrund (nein; ja, erste Generation; ja, zweite Generation) und zur Familienstruktur (zwei Elternteile vs. andere Familienstruktur) mitberücksichtigt.

Auf Schulebene wurden die schulischen Ressourcen ermittelt über Fragebogenangaben zur sozioökonomischen Schulkomposition (aggregiert aus der Anzahl der Bildungsjahre der Eltern bzw. des Elternteils mit den meisten Bildungsjahren), zum Anteil an Mädchen sowie zum Anteil an Lehrkräften mit Hochschulabschluss. Für die Bestimmung der Häufigkeit von schulischen Leistungsbeurteilungen, in die in größerem Maße nicht-kognitive Fertigkeiten einfließen, wurde ein Item aus dem Schulleitungsfragebogen ausgewertet („Generally, in your school, how often are students […] assessed using the following methods? [...] Student assignments/projects/homework“) Außerdem wurde das Schulklima erfasst. Als Kontrollvariablen dienten Schulart (privat vs. staatlich), Schulgröße und Verfügbarkeit von Schulmaterialien.

Statistische Analysen
Für die Beantwortung der Fragen wurden verschiedene adjustierte Mehrebenenanalysen auf drei Leveln (Level 1 = Schülerinnen und Schüler, Level 2 = Schulen, Level 3 = OECD-Staaten) unter Berücksichtigung der o. g. Variablen berechnet. Fehlende Werte wurden fallweise ausgeschlossen (Listwise Deletion-Verfahren).

Die Ergebnisse zeigen, dass die Leseleistungen an Schulen mit über 60 % Anteil weiblicher Schülerschaft (ß = 17.48, SE = 0.78), einem größeren Anteil an Schülerinnen und Schülern aus bildungsnahen Familien (ß = 13.07, SE = 0.22) sowie einem größeren Prozentsatz an Lehrkräften mit Hochschulabschluss (ß = 22.18, SE = 0.78) höher ausfallen als an anderen Schulen. International ist der Leistungsvorsprung von Mädchen bei einer günstigen Komposition der Schülerschaft größer (ß = 0.57, SE = 0.15) – allerdings nicht in Deutschland – und der Rückstand von Jungen bei einem Mädchenanteil > 60 % geringer (ß = 5.40, SE = 0.79). Bezüglich des Anteils von Lehrkräften mit einem Hochschulabschluss und einer häufigeren Beurteilung von Hausaufgaben, Einzelarbeit und Projekten ergeben sich keine (differentiellen) Unterschiede in der Leseleistung.

Hintergrund
Die Studie der Autorengruppe um Margriet van Hek greift vor dem Hintergrund der Diskussion über geschlechtsspezifische Effekte von Schulen auf die Leistungen von Jungen und Mädchen ein für die Administration und für die Schule relevantes Forschungsdesiderat auf. Ziel der Untersuchung ist es, den geschlechtsspezifischen Einfluss von schulischen Ressourcen und schulischen Praktiken der Beurteilung von Schülerleistungen, die in stärkerem Maße von nicht-kognitiven Fertigkeiten abhängen, auf die Leseleistungen von Jungen und Mädchen zu bestimmen, wobei den Auswertungen PISA-Daten aus dem Jahr 2009 zugrunde liegen.

Die Relevanz dieser Studie ergibt sich aus der unzureichenden Studienlage zur Rolle der Schule für geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede von Schülerinnen und Schülern. Nachdem van Hek et al. in ihre Studie eingeführt und die Forschungsfrage benannt haben, gehen sie auf strukturelle und prozessorale Faktoren ein, die mit der Leistung von Schülerinnen und Schülern in Verbindung gebracht werden können. Aus ihrer Sicht, die sie mit Forschungsbefunden begründen, sind dies insbesondere schulische Ressourcen in Form der sozioökonomischen Komposition der Schülerschaft, des Mädchenanteils sowie des Anteils an Lehrkräften mit Hochschulabschluss und die Beurteilung von Hausaufgaben, Einzelarbeit und Projekten. Auf dieser Basis werden die eigenen Fragestellungen abgeleitet.

Die Argumentationsweise und Hinführung zur eigenen Studie erscheinen aus Sicht der Rezensenten ansatzweise gelungen, wenngleich die Ableitung der Hypothesen auf Grundlage von theoretisch weitgehend unverbundenen empirischen Befunden streckenweise willkürlich wirkt und die Begründungen teilweise simplifizierend und konstruiert anmuten (Mädchen verfügen über größere nicht-kognitive Fertigkeiten als Jungen, daher wirkt sich die Leistungsbeurteilung von Hausaufgaben etc. nachteilig auf die Leseleistungen von Jungen aus).

Außerdem ist es irritierend, dass in dem Theoriekapitel der Titel ‚Schools as learning institutions‘ (deutsch: Schulen als lernende Organisationen) erwähnt wird, ohne dass tatsächlich auf eine Schulentwicklungs- oder Schulqualitätstheorie Bezug genommen wird. Der Titel führt zudem aus Sicht der Rezensenten zu der Erwartungshaltung, Hinweise zu theoretischen Konzeptionen des organisationalen schulischen Lernens vorfinden zu können. Dieser Erwartung wird nicht „entsprochen“. Die Autorengruppe unternimmt lediglich eine Auflistung von in ihrem Forschungskontext relevanter Evidenz.

Design
Das Studiendesign und die Durchführung werden ausführlich und nachvollziehbar benannt. Die Angaben zu den verwendeten Forschungsinstrumenten werden unter Verweis auf die Primärquellen gegeben.

Allerdings bestehen Unstimmigkeiten bei der Operationalisierung. So wird begrifflich nicht differenziert zwischen Benotung und Beurteilung: Bei der Herleitung der Hypothesen wird u. a. ausgeführt, dass die Benotung von Leistungen, in die in größerem Maße nicht-kognitive Aspekte einfließen, für den Bildungserfolg von Jungen nachteilige Effekte habe. Das hierzu analysierte PISA-Item (SC15Q05) fragt jedoch nach der Häufigkeit der Beurteilung solcher Leistungen, was nicht 1:1 mit Benotung gleichgesetzt werden kann, da der unterstellte Einfluss einer Benotung auf Lernmotivation wesentlich bedeutsamer sein dürfte. Zudem ist eine Beurteilung von z. B. Hausaufgaben an deutschen Schulen die Regel, entsprechend wurde die oberste Kategorie („mehr als einmal im Monat“) hierzulande von ca. 90 % der Schulleitungen ausgewählt (bezogen auf die gültigen Werte, vgl. Hertel et al. 2014, S. 231f.). Die Autorengruppe weist selbst in einer Fußnote auf die geringe Varianz dieses Merkmals u. a. in den USA und Deutschland hin, ohne zu erkennen, dass Begründung, Hypothese und Operationalisierung nicht zusammenpassen.

Weiterhin ist fraglich, ob mit dem Indikator Lehrkraft mit Hochschulabschluss tatsächlich genau solche Lehrkräfte identifiziert werden können, die durch ihren Unterrichtsstil einen maßgeblichen Einfluss auf die Leistung ihrer Schülerinnen und Schüler haben. Die Gleichung Lehrkraft mit Hochschulabschluss = high quality-Lehrer wird aus Sicht der Rezensenten nicht ausreichend begründet. Zudem ist die Varianz dieses Merkmals an den Schulen in Deutschland ohnehin gering, da die allermeisten Lehrkräfte über einen Hochschulabschluss verfügen.

Durch die adjustierten Mehrebenenanalysen wird der hierachischen, geschachtelten Datenstruktur auf Individual-, Schul- und Länderebene entsprochen. Unklar bleibt aus Sicht der Rezensenten, warum das Alter als Kontrollvariable berücksichtigt wird, da in den Daten aufgrund der Anlage der Studie (in den PISA-Studien werden 15-Jährige getestet) für diese Variable auch nur eine geringe Varianz vorliegt. In den Ergebnissen taucht diese Kontrollvariable dann auch nicht mehr auf. Das irritiert.

Es verwundert außerdem, warum in Tabelle 1 (deskriptive Statistiken) auch für die Variablen ohne Intervallskalierung der Mittelwert und die Standardabweichung berichtet werden (z. B. für das Geschlecht). Die absoluten Werte bei den fehlenden Werten sind relativ hoch. Es werden keine Angaben gemacht, inwiefern dadurch die Ergebnisse verzerrt sein könnten oder inwiefern dies durch eine entsprechende Prüfung ausgeschlossen werden konnte.

Des Weiteren liefern van Hek et al. keine theoretische Begründung dafür, warum sie in einer Querschnittstudie eine statistische Modellierung wählen, die Aussagen über Wirkungsrichtungen impliziert und so auch bei der Interpretation der Ergebnisse aufgegriffen wird. Kausale Interpretationen ohne theoretische Begründung und auf Grundlage einer Analyse von Querschnittsdaten stellen einen Verstoß gegen grundlegende wissenschaftliche Standards dar.

Ergebnisse
Die Zielstellung der Untersuchung wird bedingt erreicht. Einerseits wird bestätigt, dass die Leseleistungen von Jungen und Mädchen höher ausfallen an Schulen

  • mit einem höheren Schüleranteil  mit vorteilhaftem sozioökonomischem Hintergrund,
  • mit einem Mädchenanteil über 60 % und
  • mit mehr Lehrkräften, die über einen Hochschulabschluss verfügen.

Andererseits ergeben sich kaum bestätigende Befunde für die vermuteten differentiellen Unterschiede in Abhängigkeit von schulischen Ressourcen und Beurteilungspraxis. International ist der Leistungsvorsprung von Mädchen bei einer günstigen Komposition der Schülerschaft größer, allerdings gilt dieser Befund nicht für Deutschland. Der Rückstand von Jungen fällt kleiner aus, wenn der Mädchenanteil an ihrer Schule über 60 % liegt. Jedoch ist fraglich, ob dieser Befund auch für Deutschland gilt, denn die Anzahl der Schulen hierzulande mit einem Mädchenanteil von über 60 % ist – zumindest in der PISA 2009-Stichprobe – sehr gering (vgl. https://www.oecd.org/pisa/data/). Entgegen der aufgestellten Hypothesen zeigen sich keine Vorteile zugunsten der Jungen in Abhängigkeit von den Merkmalen Lehrkräfte mit Hochschulabschluss und sozioökonomische Komposition. Leider wird in diesem Teil nicht immer explizit auf die vorab formulieren Hypothesen Bezug genommen, sodass dies den Nachvollzug etwas erschwert.

Die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel: Der positive Zusammenhang der Leseleistungen mit den schulischen Ressourcen wird von der Autorengruppe als Ergebnis von einem ‚mehr‘ an Lerngelegenheiten und einem positiven Schulklima gedeutet. Allerdings erscheint dieses Ergebnis v. a. im Hinblick auf Länder, in denen das Schulsystem eine Aufteilung nach Leistung vorsieht, wie in Deutschland, nicht überraschend. Die genauen Mechanismen dahinter bleiben jedoch unklar und bedürfen aus ihrer Sicht der weiteren Erforschung, um die Etablierung eines lernförderlichen Schulklimas genauer aufschlüsseln zu können.

Die Autorengruppe problematisiert vor diesem Hintergrund die Geschlechterungleichverteilung in berufsbildenden Schulsystemen. Dadurch, dass Jungen und Mädchen teilweise unterschiedliche Berufe anstreben, kommt es in diesen Bildungsgängen unweigerlich zu einer Ungleichverteilung im Hinblick auf das Geschlecht mit negativen Folgen für die Jungen. Hieraus leiten van Hek et al. die Relevanz von bildungspolitischen Maßnahmen ab, die zu einer Gleichverteilung des Geschlechts in Klassen und Schulen führen könnten. Aus der Sicht der Rezensenten ist jedoch fraglich, ob dies die richtige Schlussfolgerung sein muss. Wenn geschlechtsbedingt unterschiedliche berufliche Interessen vorliegen (sollten), die wiederum eine Ungleichverteilung von weiblichen und männlichen Lernenden in berufsbildenden Schulklassen/Bildungsgängen bedingen, wäre z. B. auch alternativ denkbar, besondere Professionalisierungsmaßnahmen für Lehrkräfte in solchen Bildungsgängen im Umgang mit vor allem männlichen Lerngruppen anzubieten.

Der ausgebliebene angenommene positive Einfluss der verschiedenen Verfahren zur Leistungsfeststellung/-rückmeldung für Mädchen im Gegensatz zu einem zugleich angenommenen negativen Einfluss für Jungen wird von der Autorengruppe aus Sicht der Rezensenten nachvollziehbar und auch mit den o. g. Designschwächen erklärbar auf eine unzureichende Sensitivität des Instruments zurückgeführt. Deswegen empfehlen sie, diesem Sachverhalt in zukünftigen Studien vertieft nachzugehen.

Die Autorengruppe stellt weiterhin nachvollziehbar die Limitationen ihrer Studie vor: einerseits wird selbstkritisch erwähnt, dass in ihren Analysen die vorherigen Schülerinnen- und Schülerleistungen nicht kontrolliert werden konnten. Außerdem diskutieren van Hek et al. die fehlende zufällige Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die Schulen und damit verbundene mögliche Probleme mit der Endogenität. Weiterhin wäre aus ihrer Sicht zu klären, ob sich die Ergebnisse auch in den Leistungen im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaften sowie zu anderen Zeitpunkten in der Schullaufbahn replizieren lassen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Mirko Krüger, PD, Lehrer an der Georg-Müller-Gesamtschule in Wetter (Ruhr) und Lehrbeauftragter an der Fakultät für Bildungswissenschaften, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Schulsportentwicklung, Sprachbildung im Sportunterricht, Professionalisierung von Lehrkräften

Dr. Johannes Rosendahl, Dipl. Psych., Referent an der Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW), Soest. Arbeitsschwerpunkte: Bildungsmonitoring und Evaluation zentraler Prüfungen, Kooperation mit Wissenschaft zur Gewinnung und Erschließung empirischer Evidenzen

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