Fragestellungen der Studie:

  • Beeinflusst pädagogisch-psychologisches Wissen die Prozessqualität des Unterrichts?

Rezension zur Studie

Lenske, G., Wirth, J. & Leutner, D. (2017). Zum Einfluss des pädagogisch-psychologischen Professionswissens auf die Unterrichtsqualität und das situationale Interesse der Schülerinnen und Schüler. Zeitschrift für Bildungsforschung, 7(3), 229–255.FIS Bildung

Pädagogisch-psychologisches Wissen (PPK) ist fachübergreifendes Professionswissen z. B. zu Klassenführung oder Lehrmethoden und gilt als wesentliche Voraussetzung für die Arbeit von Lehrkräften. Für diese Annahme gibt es jedoch kaum empirische Belege und somit ist fraglich, inwiefern PPK die Prozessqualität des Unterrichts beeinflusst und dies wiederum zu lernrelevanten Effekten bei Schülerinnen und Schülern führt.

Lenske, Wirth und Leutner untersuchen daher, inwieweit anwendungsbezogenes PPK von Lehrkräften in Zusammenhang steht mit zwei Prozessqualitätsmerkmalen ihres Physikunterrichts (Qualität der Klassenführung, Umgang mit Heterogenität) und inwiefern das situationale Interesse ihrer Schülerinnen und Schüler am Physikunterricht davon abhängt. Hierzu wurden Daten von 34 Lehrkräften und 973 Schülerinnen und Schülern der 8. und 9. Jahrgangsstufe an Gymnasien in NRW erhoben. Das PPK der Lehrkräfte wurde per Paper-Pencil-Test ermittelt, die Prozessqualität auf Grundlage von Unterrichtsvideos durch geschulte Beurteilerinnen und Beurteiler bewertet und das situationale Interesse der Lernenden anhand eines Schülerfragebogens erfasst.

Die Annahme eines positiven Einflusses des pädagogisch-psychologischen Professionswissens auf die Qualität der Klassenführung wird bestätigt, eine Beziehung zum Umgang mit Heterogenität lässt sich jedoch nicht nachweisen, möglicherweise aufgrund des geringen Vorkommens differenzierender Maßnahmen im Physikunterricht an Gymnasien. Die Qualität der Klassenführung wiederum steht in Zusammenhang mit dem situationalen Interesse am Physikunterricht und vermittelt als Mediatorvariable den indirekten Effekt des PPK auf das situationale Interesse.

Vor diesem Hintergrund betonen Lenske et al., dass das Merkmal Klassenführung innerhalb des Lehramtsstudiums ausreichend berücksichtigt werden sollte, was nicht immer zwingend der Fall sei, und halten es für dringend erforderlich, in der Lehrerbildung für den Umgang mit Heterogenität zu sensibilisieren und darauf vorzubereiten.

Angesichts der überzeugend angelegten und aufwendig durchgeführten Untersuchung ist es bedauerlich, dass die Aussagekraft der Ergebnisse aufgrund der selektiven Stichprobe deutlich eingeschränkt ist. Dennoch ergeben sich bestätigende Hinweise für einen Einfluss von PPK auf die Prozess- und Produktqualität von Unterricht, was u. a. für die (Weiter-)Entwicklung von Konzepten für die Lehrkräftebildung bedeutsam ist.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

bezogen auf den Umgang mit Heterogenität (Grad der Differenzierung):

  • Welche Möglichkeiten, Formen und Konzepte der Differenzierung kenne ich, welche wende ich (regelmäßig) an und besteht in dieser Hinsicht ein Fortbildungsbedarf?
  • Verfüge ich über ausreichende Diagnoseinstrumente, um einzuschätzen, in welcher Weise ich in den von mir unterrichteten Klassen differenzieren sollte?
  • Wäre es evtl. sinnvoll, mich mit meinen Kolleg/innen darüber auszutauschen, in welcher Form Differenzierung hinsichtlich der Leistungsmessung (rechtlich) möglich und didaktisch sinnvoll ist?

bezogen auf die Qualität der Klassenführung als prozedurale Komponente des pädagogisch-psychologischen Professionswissens (PPK):

  • Welche Bereiche des PPK kenne ich (noch) und über welche möchte ich mein Wissen auffrischen?
  • Wie führe ich meine Klassen? Habe ich ein bestimmtes Konzept oder verlasse ich mich auf meine Intuition und meine Persönlichkeit? Könnte es interessant für mich und den Erfolg meiner Unterrichtstätigkeit sein, mich ausführlicher über Kriterien guter Klassenführung zu informieren?
  • Halte ich es für evtl. gewinnbringend, mich innerhalb einer schulinternen Fortbildung mit Kolleg(innen) über bestimmte Prinzipien der Klassenführung auszutauschen und aus Best-Practice-Beispielen zu lernen?
  • Benötigen wir im Kollegium eine Fortbildung zu bestimmten Bereichen des PPK, vor allem den prozeduralen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

bezogen auf den Umgang mit Heterogenität (Grad der Differenzierung):

  • In welcher Form wird in den Unterrichtssequenzen, die ich bei meinen Unterrichtsbesuchen im Kollegium begutachte, differenziert? Gibt es Lehrkräfte, die in dieser Hinsicht ein bestimmtes Konzept entwickelt haben, das im Kollegium multipliziert werden könnte?
  • Benötigen meine Kolleg/innen möglicherweise eine Fortbildung zu diesem Thema? Wenn ja, wie kann ich sicherstellen, dass die Erkenntnisse dieser Fortbildung in der Zukunft im Unterricht durchgeführt und weiterentwickelt werden?
  • In welcher Form kann ich differenzierende Formen der Leistungsmessung implementieren, ohne dass sich eine Ungleichbehandlung einstellt und die Leistungsmessung juristisch anfechtbar wird?

bezogen auf die Qualität der Klassenführung als prozedurale Komponente des pädagogisch-psychologischen Professionswissens (PPK):

  • Wie kann ich prüfen, ob die Lehrkräfte meines Kollegiums über ein pädagogisch-psychologisches Basiswissen verfügen? Welche Bereiche halte ich in diesem Zusammenhang für besonders wichtig?
  • Welche positiven Beispiele kann ich bei Hospitationen beobachten, die sich zur Multiplikation anbieten würden?
  • Mache ich einige Aspekte des prozeduralen PPK, wie z. B. die Kriterien einer guten Klassenführung, zu Zielen im Rahmen der Qualitätsentwicklung der Schule? Wie kann ich dies durchführen? Rekurriere ich auf externe Referenten oder setze ich einen schulinternen Entwicklungsprozess

Einleitend bestimmen Lenske, Wirth und Leutner pädagogisch-psychologisches Professions-wissen (PPK, engl. pedagogical-psychological knowledge) als domänenunspezifisches, d. h. generisches Wissen, das zusammen mit dem fachlichen und dem fachdidaktischen Wissen  die drei wesentlichen Kernbereiche des Professionswissens von (angehenden) Lehrkräften bildet. Als Synonyme verwendet würden Termini wie pädagogisches Wissen, bildungswissenschaftliches Wissen oder pädagogisches Unterrichtswissen. Zusammenfassend rekurrieren sie auf eine Definition von Voss et al. (2015): Es handele sich um „erlern- und vermittelbares, unterrichtsnahes, generisches Wissen um lehrberufsspezifische Fakten/Inhalte (deklaratives Wissen), Handlungsabläufe (prozedurales Wissen) und Verknüpfungen/Schemata (konzeptionelles Wissen)“ (ebd., S. 252), das drei Facetten einschließt:

  1. Wissen über Lernen und Lernende
  2. Wissen über den Umgang mit der Klasse
  3. Methodisches Repertoire

Theoretisch wird davon ausgegangen, dass das PPK einen positiven Einfluss sowohl auf die Prozess- als auch auf die Produktqualität von Unterricht hat, wobei der Einfluss auf letztere indirekt über Aspekte der Prozessqualität vermittelt werde.

Es liegen bereits einige Ergebnisse empirischer Studien vor, die einen positiven Einfluss von anwendungsbezogenem (prozeduralem) PPK auf Leistungen von Schülerinnen und Schülern nachweisen konnten. Die deklarativen Anteile des PPK erwiesen sich dabei als weniger einflussreich. Einflüsse auf die Prozessqualität des Unterrichts konnten in der Vergangenheit hauptsächlich für das Qualitätsmerkmal Klassenführung belegt werden. Bezüglich anderer Faktoren sei die Forschungslage zurzeit noch nicht aussagekräftig.

Fokus der vorliegenden Studie ist nun nicht die mehrfach in den Blick genommene messbare Leistung von Schülerinnen und Schülern, für die bereits Ergebnisse vorliegen, sondern ein anderer Aspekt der Produktqualität von Unterricht: das situationale Interesse von Schülerinnen und Schülern. Auch auf dieses Merkmal soll das PPK, vermittelt über Aspekte der Prozessqualität, wirken. Als Merkmale der Prozessqualität werden einerseits das bereits mehrfach in Untersuchungen einbezogene Prozessmerkmal Klassenführung und andererseits das Prozessmerkmal Umgang mit Heterogenität berücksichtigt.

Die Autorengruppe bestimmt die Konzepte Klassenführung, Umgang mit Heterogenität und situationales Interesse unter Rückgriff auf verschiedene wissenschaftliche Forschungslinien und die jeweilige Forschungslage:
Klassenführung zeichne sich durch reaktives/interventives und präventives/proaktives Lehrerhandeln aus. Beispiele für ersteres ist ein konstruktiver Umgang mit Störungen, Beispiele für letzteres sind Allgegenwärtigkeit/Monitoring, Reibungslosigkeit/Schwung, Breite Aktivierung sowie Regeln, Rituale und Routinen. Auch klimatische Aspekte der Lehrer-Schüler-Interaktion gehören zu diesem Konzept. Inzwischen sei empirisch abgesichert, dass eine gute Klassenführung positive Auswirkungen auf kognitive, sozial-emotionale und motivationale Aspekte hat.

Umgang mit Heterogenität als weiteres eigenständiges Merkmal prozessualer Unterrichtsqualität sei seit den ersten schlechten PISA-Ergebnissen ein wichtiges Thema im Bildungsbereich. Zunehmende Individualisierungstendenzen, die Inklusions-Debatte und die Integration von Flüchtlingskindern trügen zu seiner anhaltenden Bedeutung bei. Umgang mit Heterogenität zeige sich in einer adaptiven Unterrichtsgestaltung, indem der Unterricht soweit wie möglich den individuellen Bedürfnissen der Lernenden angepasst wird. Stichworte wie Binnendifferenzierung, selbstgesteuertes Lernen und offener Unterricht werden in diesem Zusammenhang häufig diskutiert. Die Differenzierung kann/sollte sowohl bei der Planung als auch bei der Durchführung und der Ergebnissicherung/Leistungsmessung erfolgen. Aus den PISA-Ergebnissen sei geschlossen worden, dass individuelle Förderung in Deutschland (und in Österreich) ein Desiderat ist, anders als beispielsweise in Finnland. Nur sehr langsam veränderten sich die Befunde hier. Gleichzeitig hätten Interventionsstudien eine positive Wirkung adaptiver Unterrichtsformen auf die Leistung von Schülerinnen und Schülern gezeigt. Die oben dargestellte Forschungshypothese der Autorengruppe gründet sich hierauf.

Situationales Interesse als Komponente der Produktqualität von Unterricht wird definiert als eine positiv bewertete „spezifische Person-Gegenstandsbeziehung“. Situationales Interesse könne auf längere Sicht in dispositionales Interesse (überdauerndes, längerfristiges Interesse) münden, weil es Neugier, Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft erhöhe.

Vor diesem Hintergrund wird folgender Fragestellung bezogen auf den Physikunterricht nachgegangen: Beeinflusst das pädagogisch-psychologische Professionswissen, mediiert durch die Prozessmerkmale Qualität der Klassenführung und Umgang mit Heterogenität, das Produktmerkmal situationales Interesse der Schülerinnen und Schüler?

Da das Prozessmerkmal Umgang mit Heterogenität, gemessen am Grad der Differenzierung, für die Autorengruppe aus verschiedenen Gründen interessant ist, wird zusätzlich eine deskriptive Fragestellung angeschlossen: Wie lässt sich der Umgang mit Heterogenität im Physikunterricht der Sekundarstufe beschreiben? Angenommen wird, dass, wenn überhaupt, lediglich einseitig differenzierende Maßnahmen berichtet werden (Fördern oder Fordern). Maßnahmen zur individuellen Förderung oder komplexere Formen der Binnendifferenzierung werden nicht erwartet.

Die Studie situiert sich im Rahmen des BMBF-Projekts ProwiN – Professionswissen in den Naturwissenschaften.

Stichprobe: Die Studie wurde mit 34 Lehrkräften an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen (durchschnittliches Alter 44 Jahre, 35 % weiblich) in der achten und neunten Jahrgangsstufe mit insgesamt 973 Schülerinnen und Schülern (durchschnittliches Alter 13 Jahre und 8 Monate, 55 % weiblich) im Physikunterricht durchgeführt. Thematisch wurde der Unterricht auf zwei Unterrichtssequenzen zum Thema Mechanik, genauer auf die Einführungssequenz zum Kraftbegriff und die darauf folgende Sequenz, eingegrenzt (Standardisierung), die beide videographiert wurden. Demnach wurden 68 Unterrichtssequenzen ausgewertet. Die Stichprobe ist selektiv, da die Probandinnen und Probanden ihre Einwilligung zur Videographie geben mussten.

Instrumente: Es wurden vier unterschiedliche Komponenten erfasst: das bei den Lehrkräften vorhandene pädagogisch-psychologische Professionswissen, genauer die prozeduralen Aspekte des PPK (s. o.), die Qualität der Klassenführung und der Umgang mit Heterogenität als Prozessmerkmale sowie das bei den Schülerinnen und Schülern entstandene situationale Interesse.

Pädagogisch-psychologisches Wissen (PPK): Um Aussagen zum PPK machen zu können, wurde ein Paper-Pencil-Test angewendet, der im ProwiN-Projekt eigens entwickelt worden war. In der Operationalisierung der Aspekte des anwendungsbezogenen (prozeduralen) Wissens, die abgefragt wurden, folgt er der COACTIV-Studie. Die Aspekte sind: Klassenführung, Unterrichtsmethoden, Individualisierung und Leistungsbeurteilung. Dieser Test wurde im Vorfeld empirisch als valide und reliabel akkreditiert. Er beinhaltet 11 Aufgaben mit geschlossenem Antwortformat, jede Aufgabe besteht ihrerseits aus einem Itemstamm mit mehreren Antwortoptionen. Es handelt sich dabei um Textvignetten zu typischen Problemsituationen des Unterrichtsalltags, die bezüglich ihrer Angemessenheit beurteilt werden sollen. Die Antworten der Proband/innen wurden mit Expertenurteilen verglichen und anhand eines ebenfalls bereits erprobten Schemas auf einer Skala von 1 bis 100 kodiert.

Prozessmerkmale Unterrichtsqualität, i. e. Klassenführung und Umgang mit Heterogenität: Beide Komponenten der Prozessqualität wurden durch Ratings auf Grundlage der Videographien ausgewertet. Für beide Komponenten wurde jeweils ein Ratingmanual eingesetzt, das eigens für ProwiN entwickelt worden war. Beide Manuals basieren auf dem aktuellen Forschungsstand zu den Komponenten. Die Komponente Klassenführung wurde durch vier Facetten erfasst:

  1. Regeln, Rituale, Routinen
  2. Monitoring (regelmäßige Wahrnehmung und Diagnose der Reaktion der Schülerinnen und Schüler) und Withitness (Allgegenwärtigkeit, starke Präsenz)
  3. Konstruktiver Umgang mit Regelverstößen
  4. Organisation und Reibungslosigkeit

Für alle vier Kriterien gibt es im Manual Positiv- und Negativindikatoren sowie einen erläuternden Text. Die Raterinnen und Rater erstellten ein Ratingprotokoll und bewerteten den Unterricht anschließend – unter Berücksichtigung der Indikatoren – anhand einer vierstufigen Likert-Skala. Das Manual zum Umgang mit Heterogenität differenziert nach 7 Stufen, es reicht von einem Unterricht, der sich am Durchschnittslernenden orientiert (Stufe 0), bis zu einem individualisierten Unterricht (Stufe 6).

Für die Handhabung beider Manuale absolvierten die Raterinnen und Rater jeweils eine eintägige Raterschulung und ein zwölfstündiges Training am konkreten Manual.

Schließlich lagen zu jeder Lehrkraft zwei Ratings je Komponente vor, da jeweils zwei Unterrichtssequenzen videographiert worden waren. Die Zahlen beider Ratings wurden jeweils aggregiert. 20 % des Datenmaterials wurde zur Überprüfung der Ergebnisse doppelt geratet. Für die Komponente Klassenführung lag die Interrater-Reliabilität bei rτ = 0,91, für die Komponente Umgang mit Heterogenität bei rτ = 0,84.

Situationales Interesse: Für die Feststellung dieser Komponente der Produktqualität von Unterricht griff die Autorengruppe auf den Fragebogen zur aktuellen Motivation (FAM) von Rheinberg et al. (2001) zurück, der als valides Instrument gelte. Dessen Items wurden an den Physikunterricht angepasst. Insgesamt bestand er aus vier Items, zu denen eine 7-stufige Likert-Skala gegeben war. Die Schülerinnen und Schüler füllten diesen jeweils im Anschluss an die videographierten Unterrichtssequenzen aus; auch hier wurde der Mittelwert der beiden Schülerratings zum Unterricht einer Lehrkraft aus der Aggregation der Werte gebildet.

Auswertung
Die Datenauswertung erfolgte mittels eines Einebenenmodells in Kombination mit Bootstrapping unter Verwendung der Software Mplus. Lenske et al. nennen vier Gründe, warum ihre Entscheidung bei dieser Mehrebenen-Fragestellung bzw. -Testanordnung auf das genannte Verfahren gefallen ist, denn auch eine Mehrebenenanalyse wäre möglich gewesen:

  1. die Fragestellung ist auf Klassenebene (Ebene 2) verortet,
  2. der Stichprobenumfang auf Ebene 2 ist gering (34 Lehrkräfte),
  3. die Variablen sind nicht normal verteilt und
  4. die Schätzung der Signifikanz und des Konfidenzintervalls des indirekten Effekts kann besonders zuverlässig vorgenommen werden mithilfe der Bootstrapping-Methode, die in Mplus bei einem Einebenenmodell möglich ist.

Die Auswertungen erfolgten in einem mehrschrittigen Verfahren:

  1. Zunächst wurde die Varianz (=quadrierte, summierte Abweichungen vom Mittelwert) der abhängigen Variable situationales Interesse auf der Between-Ebene analysiert. Das heißt, es wurde eine Intraklassenkorrelation (ICC) berechnet.
  2. Dann wurde überprüft, ob der Prädiktor (PPK) und die Mediatorvariablen (Klassenführung und Umgang mit Heterogenität) in Bezug auf die abhängige Variable (situationales Interesse) erklärungsmächtig sind.
  3. Weiterhin wurde untersucht, ob der Prädiktor die Mediatorvariablen beeinflusst.
  4. Abschließend wurde eine Mediationsanalyse durchgeführt.

Da auf Schülerebene einzelne Werte fehlten, wurde die Full-Information-Maximum-Likelihood-Methode (FIML) angewandt.

Die vier Auswertungsschritte erbringen Folgendes:

  1. Die Intraklassenkorrelation signalisiert für die Klassenebene signifikante Unterschiede bezüglich des situationalen Interesses, also bezüglich der abhängigen Variablen (ICC1 von 0,175 ≙ 18 %). Diese Unterschiede zwischen den Klassen sind so deutlich, dass den weiteren Fragestellungen nachgegangen werden konnte, die Ebene 2 betreffen (Ebene 1 = Schüler). Dabei zeigt sich:
  2. Alle untersuchten Komponenten erweisen sich als erklärungsmächtig für das situationale Interesse der Schülerinnen und Schüler. Für den Prädiktor pädagogisch-psychologisches Professionswissen (PPK) ergibt sich ein positiver Beta-Koeffizient (Regressionskoeffizient) von 0,17 (ρ = 0,031), ebenso für die Mediatorvariablen Klassenführung (β = 0,26, ρ < 0,001) und Umgang mit Heterogenität (β = 0,14, ρ = 0,037).
  3. PPK zeigt sich zwar hinsichtlich der Klassenführung als erklärungsmächtig (β = 0,49, ρ = 0,008), nicht jedoch hinsichtlich des Umgangs mit Heterogenität (β = 0,28, ρ = 0,084), wobei letztere einen deutlichen Bodeneffekt aufweist, da der Mittelwert auf einer Skala von 0-6 lediglich M = 1,62 beträgt (SD = 0,92).

Da sich Schritt 2 und 3 nicht auf dieselben Ebenen beziehen (Gesamtvarianz vs. Varianz zwischen den Klassen) und sich daher nicht direkt vergleichen lassen, wurde die Metrik der abhängigen Variable angepasst und der Effekt auf Klassenebene approximiert, sodass sich schließlich vergleichbare Werte ergaben.

      4. Bei der Mediationsanalyse wurde lediglich das Prozessmerkmal Klassenführung untersucht, da bereits gezeigt worden war, dass das Prozessmerkmal Umgang mit Heterogenität nicht mit PPK in Zusammenhang steht.
         Die Mediationsanalyse bestätigt das erwartete Ergebnis: Der Effekt des PPK auf das situationale Interesse der Schülerinnen und Schüler wird ausschließlich über das Prozessmerkmal Klassenführung hervorgerufen (indirekter Effekt auf Gesamtvarianz: β = 0,11, ρ = 0,033; transformierter indirekter Effekt auf Varianz zwischen den Klassen: β = 0,26).

Beantwortung der Forschungsfrage: Die Forschungsfrage wird positiv beantwortet, wenn auch nur partiell in Bezug auf das Prozessmerkmal Klassenführung: Prozedurales pädagogisch-psychologisches Professionswissen (PPK) beeinflusst positiv, mediiert durch das Prozessmerkmal Qualität der Klassenführung, das Produktmerkmal situationales Interesse der Schülerinnen und Schüler. Somit wird der angestrebte empirische Beleg für eine positive Beeinflussung über einen Mediationseffekt in dieser Versuchsanordnung im Fach Physik hinsichtlich der ausgewählten motivationalen Schüler-Outcome-Variablen erbracht.

Lenske et al. kommen zu dem Schluss, dass dieser Befund sowohl mit den Ergebnissen vorheriger Forschungsarbeiten als auch mit der bildungswissenschaftlichen Theorie übereinstimme.

Forschungshypothese: Die Erwartung, dass sich wenige und, wenn überhaupt, lediglich einseitig differenzierende Maßnahmen in den 68 videographierten Unterrichtssequenzen (Werte aggregiert auf 34 Sequenzen) zeigen werden (Fördern oder Fordern), wird ebenfalls bestätigt.

Deskriptive Fragestellung: Der Umgang mit Heterogenität, gemessen am Grad der Differenzierung, zeigt sich entweder in der Unterstützung schwächerer/langsamerer oder in der Förderung stärkerer/schnellerer Schülerinnen und Schüler, ersteres häufiger. Die Maßnahmen werden dabei meist spontan getroffen, aus der Situation heraus. Komplexere Differenzierungsmaßnahmen, die auf die Lern- oder Autonomiebedürfnisse einzelner Schülerinnen und Schüler abgestimmt werden, sind kaum, individuelle Förderung gar nicht zu beobachten. Bezüglich der Taxonomie des Ratingmanuals, das 7 Stufen umfasste (Stufen 0-6, vgl. Design), heißt das konkret, dass der Unterricht lediglich einer Lehrkraft höher als auf Stufe 3 eingeordnet werden kann. Diese Beobachtungen entsprechen den vorher von Lenske et al. formulierten Erwartungen.

Die Autorengruppe formuliert zwei Einschränkungen hinsichtlich der Validität dieses Befundes. Zum einen halten sie den Bodeneffekt, der sich für die Komponente Umgang mit Heterogenität zeigt, verantwortlich dafür, dass diese Komponente sich als nicht erklärungsmächtig erweist. Zum anderen sehen sie in dem geringen Stichprobenumfang einen möglichen Grund (34 Lehrkräfte). Wenngleich dieser Problematik durch Bootstrapping begegnet wurde, räumen sie ein, dass die Stichprobe schlicht selektiv und nicht repräsentativ ist, denn die Proband/innen mussten sich zur Teilnahme an der Videostudie bereit erklären, sodass keine Zufallsstichprobe gezogen werden konnte. Daher verallgemeinern Lenske et al. die Ergebnisse hinsichtlich des Umgangs mit Heterogenität (gemessen am Grad der Differenzierung) nicht unmittelbar, sondern führen eine Ergänzungsstudie dazu durch:

Ergänzungsstudie: In dieser Studie wurde überprüft, ob das Ergebnis der Videostudie als repräsentativ gelten kann. Dieser Forschungsfrage wurde an der Universität Koblenz-Landau mit 177 Lehramtsstudierenden im ersten Semester nachgegangen (durchschnittliches Alter 20 Jahre, 75 % weiblich). Die Studierenden wurden anhand derselben 7-stufigen Skala, wie sie auch in den Ratingmanualen für die Videostudie verwendet wurde, zum Grad der Differenzierung in verschiedenen Fächern in der Mittel- und Oberstufe während ihrer Schulzeit befragt (u. a. im Physikunterricht). Dazu wurden die Stufen und deren Unterschiede vorher ausführlich erläutert. Die Studierenden bewerteten also ihre Erfahrungen aus der Retrospektive.

Die Ergebnisse bestätigen die Befunde der Videostudie: Auch hier gibt es einen Bodeneffekt bei der absoluten Häufigkeit, also bezogen auf alle Fächer und beide Stufen (Mittel- und Oberstufe), auch hier zeigt sich für den Physikunterricht eine Verteilung auf die Stufen 0 bis 3, nur sechs Studierende geben einen höheren Wert an. Dies gilt zudem für die meisten anderen Fächer (Mittelwerte liegen zwischen 1,29 in Chemie, 1,32 in Physik und bei max. ca. 1,5 für andere Fächer), eine Ausnahme bildet das Fach Deutsch mit einem höheren Differenzierungsgrad (Mittelwert 2,07).

Für die Validität dieser Studie werden von Lenske et al. Einschränkungen formuliert: Die Befragung aus der Retrospektive, die zu Wahrnehmungsverschiebungen und Vergessenseffekten führen kann, sowie der Umstand, dass keine Aussagen zu ganzen Klassen, sondern – durch die Zusammensetzung der Studierenden – nur Individualaussagen getroffen werden, sind Aspekte, die zu Abstrichen in der Gültigkeit führen können. Dennoch kann festgehalten werden, dass die Ergebnisse sehr deutlich in dieselbe Richtung weisen wie die Befunde der Videostudie.

Diskussion: Da (unter Berücksichtigung der genannten Einschränkungen) nachgewiesen werden konnte, dass das Prozessmerkmal Qualität der Klassenführung das Produktmerkmal situationales Interesse direkt positiv beeinflusst und darüber hinaus das prozedurale pädagogisch-psychologische Professionswissen sowohl einen positiven Einfluss auf das genannte Prozessmerkmal als auch indirekt auf das Produktmerkmal situationales Interesse der Schülerinnen und Schüler hat, kommen Lenske et al. zu dem Schluss, dass der Vermittlung dieses prozeduralen Wissens in der Lehrkräftebildung an den Zentren für Lehrerausbildung, vor allem aber auch an den Universitäten, ein höherer Stellenwert eingeräumt bzw. überhaupt ein Stellenwert eingeräumt werden müsse, denn an manchen Universitäten stünde dies noch nicht auf den Lehrplänen in den Bildungswissenschaften. Die empirischen Befunde bestätigen die theoretischen Annahmen. Andere Studien konnten ähnliche positive Auswirkungen nachweisen. Eine Autorin dieser Studie hatte in der Vergangenheit bereits eine positive Beeinflussung des Produktmerkmals Leistung von Schülerinnen und Schülern nachweisen können, und zwar auch bezüglich des Merkmals Klassenführung.

Der Umgang mit Heterogenität bildet ein deutliches Desiderat. Der gemessene Grad der Differenzierung ist durchgängig als gering zu bezeichnen! Hier besteht ein starker Handlungsbedarf. Auch in diesem Bereich sei die Lehrkräftebildung zu modifizieren, denn nur die Lehrkraft, die Differenzierungsmöglichkeiten kennengelernt hat, könne diese auch (sinnvoll) einsetzen.

Die Frage danach, welche Aspekte bzw. welches Wissen und welche Fähig- und Fertigkeiten auf Seiten der Lehrkräfte einen guten Unterricht ausmachen, der zu positiven Ergebnissen im motivationalen wie im Leistungsbereich führt, ist sehr relevant und wird immer wieder diskutiert. Traditionell basieren diese Diskussionen eher auf heuristischen Annahmen oder philologischer Theoriebildung. Beides hat sicherlich seine Daseinsberechtigung; dennoch ist es in Zeiten, in denen der empirischen Lehr- und Lernforschung ein starkes Gewicht, wenn nicht sogar eine entscheidende bis ausschließliche Bedeutung beigemessen wird, essentiell, diese Annahmen und/oder Theorien empirisch zu prüfen.

Ein solcher Nachweis ist mit dieser Studie partiell (für den Physikunterricht in der Mittelstufe und beschränkt auf eine selektive Auswahl von Lehrkräften und Lernenden) geführt worden.

Hintergrund
Ausführlich und unter Rückgriff auf einschlägige Forschungsarbeiten und bildungswissenschaftliche Theorien legen Lenske et al. die Relevanz der Studie zu Beginn dar. Auf dieser Basis entwickeln sie stufenweise, indem sie einzelne Merkmale zueinander in Beziehung setzen und als aufeinander aufbauend deklarieren, die Begründung für die Konzeption ihres Designs. So werden beispielsweise die Kriterien, anhand derer die Qualität der Klassenführung später im Ratingmanual beurteilt wird, klar aus der zur Verfügung stehenden Forschungsliteratur abgeleitet und durch Validierungshinweise aus anderen Studien zusätzlich gesichert. Derart wird für alle Merkmale und Komponenten verfahren, die in dieser aufwendigen Versuchsanordnung Anwendung finden.

Design
Das (vorsichtig) formulierte Forschungsinteresse, die theoretisch/empirische Fundierung der einzelnen Komponenten, die untersucht wurden, die Vorgehensweise selbst, die Absicherung aller im Design verwendeten Instrumente, die ausführliche Erläuterung der Auswertungsstrategien, die formulierten Einschränkungen für die Validität und Reliabilität der Befunde und nicht zuletzt die Durchführung der Ergänzungsstudie entsprechen einer wissenschaftlich überzeugenden Herangehensweise. Dabei werden alle Details ausführlich beschrieben, die Anordnung wird plausibel gemacht und Entscheidungen, wie z. B. die, ob ein Einebenenmodell oder ein Mehrebenenmodell zur Auswertung herangezogen werden soll, werden transparent erläutert.

Ergebnisse
Folgerichtig können Lenske et al. – bei aller Auswertungsvorsicht und allen selbst formulierten möglichen Einschränkungen – ihre Forschungsfrage positiv beantworten, ihre diesbezüglichen Erwartungen bestätigen und hinsichtlich der deskriptiven Fragestellung Antworten generieren.

Die Einschränkung, dass die Studie nur für den Physikunterricht in der Mittelstufe mit selektiv zusammengestellten Lehrkräften durchgeführt werden konnte und es noch keine Längsschnitt-Ergebnisse dazu gibt, mag durchaus gelten. Aus der schulischen Erfahrung heraus erscheinen die Befunde als nachvollziehbar und zutreffend, da sie sich mit Beobachtungen decken, die viele Lehrkräfte in dieser Weise machen (können).
Beispielsweise lässt sich in der Praxis häufig beobachten, dass im Bereich der Binnendifferenzierung (Umgang mit Heterogenität) noch einiges an schulischer Fortbildungs- und universitärer bzw. ZfsL-bezogener Ausbildungsarbeit zu tun ist.

Dass die Qualität der Klassenführung ein wichtiges Prozessmerkmal von Unterricht ist und einen direkten positiven Einfluss auf die Motivation (in dieser Studie gemessen an der Komponente situationales Interesse) und die Leistung von Schülerinnen und Schülern hat (gemessen in anderen, hier zitierten Studien), leuchtet ebenfalls ein. Dass das pädagogisch-psychologische Professionswissen einen positiven direkten (auf den Prozess) und indirekten Einfluss (auf das Ergebnis) hat, mag auch einleuchten.

Dennoch drängen sich einige Fragen im schulischen Bereich auf, vor allem wenn es um die Ausbildung der Referendarinnen und Referendare sowie die Betreuung der Studierenden in den (relativ neuen) Praxisphasen (hier: in NRW) geht: Sind solche Fähig- und Fertigkeiten von jeder Person gleichermaßen lehr- und lernbar, wie es für das pädagogisch-psychologische Professionswissen per definitionem postuliert wird, oder sind es – zumindest teilweise – relativ stabile Persönlichkeitsmerkmale?

Daher sei eine weitere denkbare Einschränkung formuliert: Ist es tatsächlich das pädagogisch-psychologische Professionswissen, das die Qualität der Klassenführung und indirekt auch die Motivation der Lernenden positiv bestimmt, oder ist es die durch die Unterrichtspraxis gewonnene Erfahrung sowie eine individuelle Disposition, die die Lehrkräfte, die in der Videostudie bewertet wurden (und die sich freiwillig dazu gemeldet hatten!) dazu befähigen, eine Klassenführung zu zeigen, die den formulierten Gütekriterien entspricht? Und haben diese Lehrkräfte in dem vorangegangenen Paper-Pencil-Test zu ihrem PPK die Fragen richtig beantworten können, weil sie es einmal theoretisch in den Bildungswissenschaften oder bei Fortbildungen oder durch selbsttätige Lektüre etc. gelernt haben oder weil sie sie aus ihrer Unterrichtserfahrung und aus ihrer besonderen persönlichen Befähigung heraus so beantworten konnten? Nimmt man nur das genannte Kriterium „Monitoring und Withitness“ als Beispiel, das als eines von vieren von den Ratern/-innen zu begutachten war (vgl. Design), dann wird man einschränkend konstatieren, dass es bei diesen auf Wahrnehmung beruhenden Konzepten interindividuelle Unterschiede gibt und dass Wahrnehmung nur eingeschränkt erlernbar und nur schwierig veränderbar ist.

Es ist sicherlich unverzichtbar, so, wie die Autorengruppe es ausdrücklich fordert, (nicht nur) prozedurales pädagogisch-psychologisches Professionswissen zu stärken, zu lehren und dieses in die Lehrpläne der Universitäten und auch stärker in die Lehrkräftebildung in den verschiedenen Praxisphasen zu integrieren. Ein leiser Zweifel, ob es sich um vollständig erlernbares und lehrbares Wissen handelt, sei jedoch erlaubt.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Suja-Era Merkamp, Lehrerin am Städtischen Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung, Leverkusen

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