Fragestellungen der Studie:

  • Wie gelingt die Identifikation und Förderung von Erstklässlerinnen und -klässlern mit Leseschwierigkeiten?

Rezension zur Studie

Volkmer, S., Galuschka, K. & Schulte-Körne, G. (2019). Early identification and intervention for children with initial signs of reading deficits - A blinded randomized controlled trial. Learning and Instruction, 59, 1–12. https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0959475217303924.

Leseschwierigkeiten beeinflussen die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern in allen Unterrichtsfächern und können den gesamten Schulverlauf, den Schulabschluss, die berufliche Zukunft sowie die psychische Gesundheit gefährden. Eine möglichst frühzeitige Identifikation von (beginnenden) Leseschwierigkeiten und eine entsprechende Förderung sind daher zentral, um potenziell negativen Auswirkungen entgegenzuwirken.

Volkmer et al. widmen sich diesem wichtigen Thema und untersuchen die frühe Identifikation und Förderung von Erstklässlerinnen und Erstklässlern mit beginnenden Leseschwierigkeiten in einer dreifach verblindeten, randomisiert-kontrollierten Studie. Sie testeten die Lesefähigkeiten einer kleinen Gruppe von Kindern (n=234) Mitte der ersten Klasse mittels standardisierter Tests und wiesen die Kinder (n=55), die im Lesegeschwindigkeitstest eine schlechte Leistung zeigten (unterhalb des 30. Perzentils) einer Gruppe mit Leseförderung (n=29) oder motorischer Förderung (n=26) als Kontrollgruppe zu. Die 6-wöchige Förderung erfolgte an den Schulen in Kleingruppen (3x20 Min./Woche; max. sechs Kinder), basierend auf einem festgelegten Curriculum mit detaillierten Instruktionen, zusätzlich zum Regelunterricht. Die Lesefördergruppe erhielt phonem- und silbenbasierte Leseförderung (Training von Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenanalyse und -synthese), die Kontrollgruppe motorisches Training mit Sportspielen und Koordinationsübungen. Nach der Förderung wurde die Lesefähigkeit nochmals getestet.

Die Ergebnisse der Studie deuten darauf hin, dass die Lesegeschwindigkeit in der ersten Klasse ein geeigneter Prädiktor für die Entwicklung der Lesekompetenz ist und sich zur Risikoidentifikation von Kindern mit Leseschwierigkeiten eignet. Sie zeigen außerdem, dass sich die Leseleistung (nicht jedoch die Lesegeschwindigkeit) der Kinder mit phonem- und silbenbasierter Leseförderung im Vergleich zu den Kindern aus der Kontrollgruppe signifikant verbesserte. Vielversprechend erscheint, dass bereits eine relativ kurze, aber sehr gezielte additive Förderung nachweisbaren Erfolg hat. In der Gruppe der lesegeförderten Kinder konnte die Anzahl der Kinder mit Leseschwierigkeiten signifikant reduziert werden.

Die Befunde verdeutlichen, dass in der Schule bereits ab Mitte der ersten Klasse die Identifikation und Förderung von Kindern mit (beginnenden) Leseschwierigkeiten möglich und sinnvoll sind. Denn dadurch könnten Leseschwierigkeiten verringert und einer Lesestörung vorgebeugt werden. In Deutschland besteht hier noch Handlungsbedarf, da im schulischen Bereich oftmals erst reagiert wird, wenn Probleme sehr offensichtlich sind („Wait-to-fail“). Die Studie kann zur Entwicklung eines Systems der Identifikation und evidenzbasierter Fördermaßnahmen im Grundschulbereich beitragen.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche diagnostischen Verfahren kenne und nutze ich, um den Lernstand und den Lernfortschritt meiner Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Bereichen der Lesekompetenz zu erheben / zu beobachten?
  • Wie schätze ich mein Wissen und meine Kompetenzen zur Erkennung und zum Umgang mit (beginnender) Lesestörung ein? Welche Unterrichtsmethoden / Unterrichtskonzepte kann ich auf diesem Gebiet anwenden? Welchen Unterstützungs- und Weiterentwicklungsbedarf habe ich?
  • Welche Maßnahmen kann ich in meinem Unterricht einsetzen, um beginnende Leseschwierigkeiten bei meinen Schülerinnen und Schülern zu vermeiden bzw. zu reduzieren?
  • Auf welche Weise fördere ich in meiner Klasse Schülerinnen und Schüler mit Leseschwierigkeiten? Welche Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenz kenne und nutze ich und über welche Erfahrungen verfügen meine Kolleginnen und Kollegen in diesem Bereich?
  • Welche speziellen Maßnahmen zur Identifikation und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit (beginnender) Lesestörung gibt es an meiner Schule? Besteht auch die Möglichkeit der regelmäßigen additiven Leseförderung?
  • Beobachte ich bei Kindern mit Lesestörungen auch Auffälligkeiten im Verhalten?
  • Welche Ansprüche (z. B. schulischer Nachteilsausgleich) haben Schülerinnen und Schüler mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen in meinem Bundesland? Wie setze ich / setzen wir im Kollegium diese Ansprüche von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten in der eigenen schulischen Praxis um?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Welches Wissen und welche Kompetenzen haben die Lehrkräfte meiner Schule in Bezug auf Erkennung und Umgang mit (beginnender) Lesestörung? Welchen Bedarf an evidenzbasierter Unterstützung und Weiterentwicklung (z. B. über Fortbildung) haben die Lehrkräfte? Welche Leseförderprogramme sind mir bekannt?
  • Welche speziellen Maßnahmen zur Identifikation und Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Leseschwierigkeiten gibt es an meiner Schule? Welche Maßnahmen werden von den Lehrkräften meiner Schule erfolgreich umgesetzt? Besteht Ergänzungs- und Weiterentwicklungsbedarf?
  • Wie kann ich das Kollegium dabei unterstützen, sich über den Themenbereich Lesestörung/-schwierigkeiten auszutauschen? Welche Ressourcen und Rahmenbedingungen können dazu zur Verfügung gestellt werden? Mit welchen Materialien wird gearbeitet bzw. welche Materialien werden benötigt?
  • Wie werden die Ansprüche von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten an meiner Schule umgesetzt?
  • Womit unterstütze ich das Kollegium darin, eine schulintern abgestimmte Vorgehensweise zur Förderung dieser Schülerinnen und Schüler zu entwickeln und anzuwenden?
  • Setzen wir an unserer Schule Verfahren ein, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu überprüfen?

Eine angemessene Lesekompetenz ist Voraussetzung sowohl für den Wissenserwerb als auch für das Erreichen höherer Kompetenzen und Grundlage für die Teilhabe am gesellschaftlichen und beruflichen Leben. Doch etwa 5% aller Kinder weisen laut Volkmer et al. eine Lesestörung auf, d. h. sie haben beispielsweise Defizite in Lesegenauigkeit, Lesegeschwindigkeit und im Leseverständnis. Damit ist die Lesestörung eine der häufigsten Entwicklungsstörungen. Die Autorengruppe belegt, dass die Lesestörung oftmals mit weiteren psychischen Störungen oder Verhaltensauffälligkeiten einhergeht, wie Verhaltensstörungen, Angststörungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) oder depressiven Symptomen. Die Lesestörung und ihre Begleiterscheinungen können die Leistungsfähigkeit in allen Unterrichtsfächern negativ beeinflussen und somit den gesamten Schulverlauf, den Schulabschluss, die berufliche Zukunft sowie die psychische Gesundheit der Betroffenen gefährden. Sie bleiben in ihrer Entwicklung oftmals weit hinter ihren kognitiven Fähigkeiten zurück.

Eine möglichst frühe Identifikation von Kindern mit beginnenden Leseschwierigkeiten bzw. einer Lesestörung und eine entsprechende Förderung sind daher zentral. Doch im schulischen Bereich wird - so die Einschätzung des Autorenteams - oftmals erst reagiert, wenn sich Probleme bereits manifestiert haben und sehr offensichtlich sind (sogenanntes „Wait-to-fail“-Vorgehen). Es besteht Bedarf an frühzeitiger, evidenzbasierter Identifizierung und daran anschließender adäquater Förderung von Kindern mit beginnenden Leseschwierigkeiten. Zentrale Fragen in diesem Kontext sind: Wie lassen sich beginnende Leseschwierigkeiten identifizieren, wann ist ein geeigneter Zeitpunkt zur Risikoidentifikation und worauf sollten sich Fördermaßnahmen konzentrieren?

Die Autorengruppe argumentiert, dass Interventionen und frühere Studien in Deutschland häufig entweder Kinder mit bereits sehr ausgeprägten Leseschwierigkeiten oder sehr junge Kinder fokussieren, bei denen die Risikoidentifizierung ungenau sein kann und Förderprogramme sich mehr auf das Training der phonologischen Bewusstheit auf Basis verbaler Sprache konzentrieren (phonologische Bewusstheit gilt als ein wichtiger Prädiktor für Leseleistung; man versteht darunter „die Fähigkeit der Wahrnehmung, Identifikation und Manipulation kleiner phonologischer Einheiten (Silben und Phoneme) innerhalb eines Wortes“; Schulte­Körne & Galuschka 2015: 40).

Forschung - insbesondere aus anderen Ländern - verweist aus Sicht des Autorenteams jedoch auf das Potential einer frühen Risikoidentifikation bei beginnenden Leserinnen und Lesern (der ersten Klasse) und daran anschließender Leseförderung in schulischen Kleingruppen mit Fokus auf phonem- und silbenbasierter Leseförderung (Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenanalyse und -synthese) bei der - anders als bei klassischen phonologischen Bewusstheitstrainings - geschriebene Sprache und Buchstaben im Mittelpunkt stehen. Die vorliegende Studie knüpft hieran an und untersucht dies in einer dreifach verblindeten, randomisiert-kontrollierten Studie. Leitende Fragestellungen sind:

  • Kann die Leseleistung von Kindern mit beginnenden Leseschwierigkeiten in der ersten Klasse durch 6-wöchige additive phonem- und silbenbasierte Leseförderung in Kleingruppen in der Schule verbessert werden?
  • Lässt sich die Anzahl der Kinder mit Leseschwierigkeiten in der ersten Klasse durch die Leseförderung reduzieren?
  • Können Unterschiede in Bezug auf Verhalten und akademischer Leistung zwischen Kindern mit und ohne Leseschwierigkeiten bereits in der ersten Klasse erkannt werden?

Datenbasis und Stichprobe
Die Leseleistung von 234 Kindern aus vier zufällig ausgewählten öffentlichen Grundschulen verschiedener Stadtbezirke einer deutschen Großstadt wurde Mitte der ersten Klasse getestet. Die finale, für statistische Analysen herangezogene Stichprobe betrug n=203 (n=201 im Posttest), da einige - z.B. Kinder, deren dominierende Sprache („dominant language“) nicht Deutsch ist - bei den Analysen ausgeschlossen wurden.
Von den 55 Kindern, die beim Lesegeschwindigkeitstest besonders schlecht abschnitten (unterhalb des 30. Perzentils), erhielt ein Teil (n=29) eine Leseförderung und der andere Teil (n=26) als Kontrollgruppe ein motorisches Training; die Zuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Um Vergleichbarkeit der beiden Interventionsgruppen zu gewährleisten, wurden für die Zuteilung Geschlecht und Lesefähigkeit als Ausgangsmerkmale kontrolliert.

Ablauf, Interventionen und Erhebungsinstrumente
Die Testung der Leseleistung erfolgte mittels zweier standardisierter Verfahren: Das Inventar zur Erfassung der Lesekompetenz im ersten Schuljahr (IEL-1; Diehl & Hartke 2012) und die Würzburger Leise Leseprobe Revision (WLLP-R; Schneider, Blanke, Faust & Küspert 2011). Das IEL-1 misst verschiedene Bereiche der Lesekompetenz (Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenerkennen, Silben verbinden, Wort-, Satz- und Textlesen, Schreiben). Die WLLP-R erfasst die Lesegeschwindigkeit.

Kinder, die beim Lesegeschwindigkeitstest eine Leistung unterhalb des 30. Perzentils zeigten, wurden zufällig einer Leseförderung (n=29) oder einer Kontrollgruppe (n=26) zugeteilt. Beide Interventionen wurden über sechs Wochen in Kleingruppen (max. sechs Kinder; insgesamt 14 Gruppen) an den Schulen (3x/Woche je 20 Minuten) von geschultem Testpersonal basierend auf einem Manual mit sehr detaillierten Instruktionen durchgeführt, zusätzlich zum Regelunterricht. In der Lesefördergruppe wurde auch ein Arbeitsheft mit Übungen verwendet; Hausaufgaben gab es nicht. Die Leseförderung beinhaltete Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenanalyse und -synthese. Anders als bei klassischen phonologischen Bewusstheitstrainings standen geschriebene Sprache und Buchstaben im Mittelpunkt. Das motorische Training umfasste Sportspiele und Koordinationsübungen. Die Testleiter wussten nicht, dass es sich bei der Gruppe mit dem motorischen Training um die Kontrollgruppe handelte.

Am Ende der ersten Klasse, nach Abschluss der Förderungen, fand eine Posttestung mit allen Kindern (Lesefördergruppe, Kontrollgruppe mit motorischem Training und Gruppe ohne zusätzliche Intervention) statt, wieder mit den Lesetests WLLP-R und IEL-1.

Neben der Leseleistung der Kinder wurden ihre non-verbalen kognitiven Fähigkeiten mit dem Culture Fair Test, Grundintelligenztest Skala 1-Revision (CFT 1-R, Cattell, Weiβ & Osterland 1997) erfasst. Außerdem erfolgte eine Befragung der Eltern mittels zweier Fragebögen. Zum einen das Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ, Goodman 1997), einem in der Kinderpsychopathologie häufig genutzten Instrument zum Verhaltensscreening, mit dem sich u.a. Verhaltensprobleme, Hyperaktivität und emotionale Probleme erfassen lassen. Zum anderen ein Elternfragebogen, über den u. a. Informationen zum Bildungshintergrund der Eltern, zu daheim gesprochenen Sprachen, zur Sprachentwicklung des Kindes, zu Aufmerksamkeitsdefiziten oder psychiatrischen Diagnosen abgefragt wurden.

Analysen
Um die Effekte der Leseförderung auf die allgemeine Lesekompetenz (gemessen am IEL-1) und die Lesegeschwindigkeit (gemessen am WLLP-R) zu analysieren, wurden die Ergebnisse beider Testzeitpunkte (Mitte und Ende der ersten Klasse) mithilfe generalisierter linearer gemischter Modelle (GLMM) verglichen. Dabei dienten jeweils die Testergebnisse (IEL-1 und WLLP-R) als abhängige Variable und Gruppe (Interventions- und Kontrollgruppe) sowie Zeit (Test Mitte oder Ende der ersten Klasse) als Faktoren; zur Kontrolle möglicher Effekte auf Gruppenebene (z. B. Testpersonal, Gruppengröße, andere Kinder) wurde die Gruppennummer als zusätzlicher Faktor mit aufgenommen.

Um zu prüfen, ob die Leseförderung zur Reduktion von Leseschwierigkeiten beiträgt, wurde analysiert (mittels Chi-Quadrat-Test), ob am Ende der ersten Klasse weniger Kinder der Fördergruppe Leseschwierigkeiten zeigten als in der Kontrollgruppe.

Um festzustellen, ob gefährdete und nicht gefährdete Leserinnen und Leser abgesehen von ihrer Leseleistung auch Unterschiede in anderen Bereichen aufweisen, wurden verschiedene Variablen aus dem Elternfragebogen (mittels Chi-Quadrat-Tests) und die Daten aus dem SDQ-Fragebogen (mittels Mann-Whitney U-Tests) zwischen den Gruppen verglichen.

Verbesserte Leseleistung von Kindern mit beginnenden Leseschwierigkeiten in der ersten Klasse durch schulbasierte Leseförderung in Kleingruppen
Die allgemeine Lesekompetenz (gemessen mit IEL-1) der Kinder, die Leseförderung erhielten, verbesserte sich signifikant gegenüber der Lesekompetenz der Kinder in der Kontrollgruppe mit motorischem Training. Bei der Verbesserung der Lesegeschwindigkeit (gemessen mit WLLP-R) konnte jedoch kein signifikanter Unterschied festgestellt werden.

Kinder, die eine Leseförderung erhalten haben, konnten sich in ihrer Lesekompetenz den Kindern, die oberhalb der 30. Perzentile im Lesegeschwindigkeitstest lagen, zwar etwas annähern, sie konnten diese allerdings nicht einholen; signifikante Unterschiede blieben bestehen.

Leseförderung reduziert die Anzahl der Kinder mit Leseschwierigkeiten am Ende der ersten Klasse
In der Gruppe der Kinder mit Leseförderung konnte die Anzahl der Kinder mit Leseschwierigkeiten signifikant reduziert werden: Am Ende der ersten Klasse zeigten nur noch vier von anfangs 29 Kindern Leseschwierigkeiten, bei der Kontrollgruppe mit motorischem Training waren es noch 11 von anfangs 26 Kindern.

Über die Testung der Lesegeschwindigkeit in der ersten Klasse können Kinder mit Leseschwierigkeiten frühzeitig identifiziert werden
Es gab nur ein Kind, das am Ende der ersten Klasse Leseschwierigkeiten zeigte, obwohl bei diesem Kind in der Mitte des ersten Schuljahres keine Leseschwierigkeiten diagnostiziert wurden. Die Lesegeschwindigkeit in der ersten Klasse (gemessen mit WLLP-R) scheint daher ein guter und valider Prädiktor für die spätere Leseentwicklung zu sein und sich zur Risikoidentifikation von Kindern mit Leseschwierigkeiten zu eignen.

Unterschiede in Bezug auf das Verhalten von Kindern mit und ohne Leseschwierigkeiten zeigen sich bereits in der ersten Klasse
Die Ergebnisse der Elternbefragung zeigen, dass Erstklässlerinnen und Erstklässler mit beginnenden Leseschwierigkeiten bereits ein ähnliches Verhaltensprofil (z.B. Hyperaktivität, problematisches Verhalten gegenüber Mitschülerinnen/Mitschülern) aufweisen wie Kinder mit Lesestörung. Die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass das Studiendesign keine Rückschlüsse dazu erlaubt, ob diese Probleme eine Folge beginnender Leseschwierigkeiten sind oder ob sie gleichzeitig auftreten. Hierzu wären Längsschnittstudien nötig.

Bedeutung und Einordnung
Die Lesestörung zählt zu einer der häufigsten schulischen Entwicklungsstörungen. Eine möglichst frühzeitige Identifikation der (beginnenden) Leseschwierigkeiten bzw. der (beginnenden) Lesestörung und eine entsprechende Förderung sind zentral, um den potentiell negativen Auswirkungen (z. B. auf schulische Leistungen und psychische Gesundheit) entgegenzuwirken. Daher widmet sich die Studie einem sehr wichtigen Thema, das insbesondere auch für Schulen zentral ist, denn Diagnose von Leseschwierigkeiten und darauf aufbauende Förderung liegen in ihrem Aufgabenbereich (KMK 2007: 1).

Forschung auf dem Gebiet Leseschwierigkeiten und Lesestörung kommt aus verschiedenen Disziplinen - der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik - und ist zum Teil kontrovers (siehe z. B. Valtin 2015); dies gilt es zu beachten, wenn man sich mit Befunden und Empfehlungen zu diesem Thema auseinandersetzt. Unstrittig sind jedoch die Bedeutung des Themas und der Forschungs- und Handlungsbedarf, insbesondere hinsichtlich Diagnostik und Förderung in Deutschland.

Die vorliegende Studie eröffnet einige bisher wenig betrachtete, erfolgversprechende Ansatzpunkte (siehe unten unter „Relevanz der Ergebnisse“). Sie untersucht die Diagnose von beginnenden Leseschwierigkeiten Mitte der ersten Klasse (d. h. bei Kindern, die i. d. R. gerade angefangen haben, Lesen zu lernen) mittels standardisiertem Test und die Wirkung schulbasierter kurzer (sechswöchiger) Förderung in Kleingruppen (3x20 Min./Woche) über phonem- und silbenbasierte Leseförderung (Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenanalyse und -synthese) mit Fokus auf geschriebener Sprache und Buchstaben.

Forschungsdesign
Hinsichtlich des Forschungsdesigns ist als positiv hervorzuheben, dass es sich um ein dreifach verblindetes, randomisiert-kontrolliertes Design handelt, erprobte standardisierte Tests zum Einsatz kamen und auf eine sehr sorgfältige Durchführung geachtet wurde (z. B. intensive Schulung und Begleitung des Personals, das die Interventionen durchführte). Kritisch zu sehen ist jedoch die relativ kleine Stichprobe. Auch die Autoren verweisen darauf, dass eine größere Stichprobe nötig gewesen wäre, um weitere Analysen durchzuführen (z. B. Vergleich der Kinder mit und ohne Interventionseffekt in der Lesefördergruppe).

In der Kontrollgruppe (motorisches Training) befinden sich mehr als doppelt so viele mehrsprachige Kinder wie in der Fördergruppe. Um die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen zu gewährleisten, wäre es sinnvoll gewesen, bei der randomisierten Zuteilung nicht nur Geschlecht und Lesefähigkeit als Ausgangsmerkmale zu kontrollieren, sondern auch Mehrsprachigkeit, denn dieses Merkmal könnte Auswirkungen auf den Fördereffekt haben. Die Autoren gehen jedoch davon aus, dass dies nicht der Fall ist; in ihren Berechnungen haben sie jedenfalls den Interventionseffekt unter Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit rekalkuliert und keine signifikanten Effekte gefunden. Sie verweisen außerdem nochmals darauf, dass Kinder, deren ‚dominante Sprache‘ nicht Deutsch ist, von vornherein ausgeschlossen wurden; unklar ist allerdings, wie dieses - über den Elternfragebogen abgefragte - Kriterium genau definiert war (z. B. Familiensprache). Dass in Bezug auf das Thema Mehrsprachigkeit und Lesestörung allgemein ein kritischeres Vorgehen nötig wäre, wird aus einer Studie von Lenhard & Lenhard (2018) deutlich. Sie fordern u. a. die Verwendung adaptierter Testnormen und den Einbezug differenzialdiagnostischer Informationen zur Diagnose von Lesestörungen bei Mehrsprachigkeit und weisen auf das Problem mangelhafter Differenzierung zwischen einem allgemeinen Sprachrückstand und einer spezifischen Lesestörung bei mehrsprachigen Kindern hin.

Interessant wäre es außerdem gewesen, den Sprachentwicklungsstand der Kinder mit zu berücksichtigen, da Sprachentwicklungsstörungen das Risiko der Entwicklung von Leseschwierigkeiten deutlich erhöhen (vgl. z. B. Tischler et al. 2015; Schneider et al. 2002).

Relevanz der Ergebnisse
Die Ergebnisse deuten insgesamt darauf hin, dass eine Identifikation erster Leseschwierigkeiten und eine wirksame Förderung in der Schule bereits ab Mitte der ersten Klasse möglich und sinnvoll sind. Betrachtet man die Studie im Kontext bisheriger Forschung und Praxis im Bereich Leseschwierigkeiten bzw. Lesestörung, dann erscheinen einige Aspekte von besonderer Relevanz:

Die Autoren verweisen im Kontext ihrer Studie zu Recht auf die Potenziale des sogenannten Response-to-Intervention (RTI) Modells, das u. a. in den USA, Kanada und Finnland weit verbreitet ist, in Deutschland aber bislang kaum Verwendung findet (eine Ausnahme ist das Rügener Inklusionsmodell https://www.rim.uni-rostock.de/). Das RTI-Modell ist ein mehrstufiges Fördermodell, bei dem durch systematisches Monitoring des Lernprozesses die Fortschritte von Schülerinnen und Schülern gemessen und daran anknüpfend gezielt evidenzbasierte, frühzeitige Fördermaßnahmen für Lernende angeboten werden. Dabei erhalten diejenigen, bei denen (beginnende) Schwierigkeiten diagnostiziert wurden, zunächst zeitlich begrenzt gezielte Förderung in Kleingruppen. Sollte dies nicht ausreichen, erfolgt eine intensive Einzelförderung. Beim RTI-Modell ist der Präventionsgedanke zentral, d. h. Ziel ist eine frühestmögliche Identifikation von Schwierigkeiten und Förderung, bevor sich Defizite manifestieren. In Deutschland - so die Kritik der Autorengruppe - vergeht vom Zeitpunkt der Problemwahrnehmung bis zur Einleitung konkreter Maßnahmen zu viel Zeit („Wait-to-fail“-Problem). Die vorliegende Studie zeigt, dass frühzeitige Identifikation innerhalb der ersten Klasse (hier durch den Lesegeschwindigkeitstest WLLP-R) und Förderung von Kindern, die in diesem Test weniger gut abschneiden, möglich und wirksam sind. Vielversprechend erscheint, dass bereits eine relativ kurze additive Förderung (3x20 Min./Woche über sechs Wochen) in Kleingruppen zu einer deutlichen Verbesserung der Leseleistung führt. Nicht vernachlässigt werden darf allerdings, dass sich der Großteil der geförderten Kinder in ihrer Lesekompetenz den Kindern der nicht geförderten Gruppe („gute“ Leserinnen und Leser) zwar annähern, sie jedoch nicht einholen konnten; es ist zu vermuten, dass eine sechswöchige Förderung hierfür zu kurz war. Nach der Logik des RTI-Modells würden die Kinder, bei denen auch nach der Förderung Leseschwierigkeiten diagnostiziert wurden, in die nächste Förderstufe (intensive Einzelförderung) kommen. Mit ihrem Beitrag bieten die Autoren einen wichtigen - mit empirischen Ergebnissen belegten - Anstoß, um über die Einführung des RTI-Modells in Deutschland nachzudenken.

Sie geben auch einen Anstoß, sich mit Zeitpunkten für die Erhebung von Fähigkeiten im Bereich Lesen zu beschäftigen. So sollte zum einen bereits im frühkindlichen Bereich eine Erhebung von als Prädiktoren für den schulischen Leseerwerb identifizierten Fähigkeiten wie z. B. Sprachverständnis, Schriftwissen und Satzgedächtnis erfolgen, gefolgt von einer gezielten individuellen Unterstützung der Kinder. Zum anderen kann ab Mitte der ersten Klasse eine Risikoidentifikation über die Testung der Lesefähigkeit erfolgen. Die Autoren weisen darauf hin, dass es wichtig ist, bereits in der ersten Klasse flächendeckend entsprechende Tests und daran anschließende Förderung zu implementieren. Hier herrscht ihrer Meinung nach in Deutschland noch Handlungsbedarf.

Die Studie verdeutlicht auch, dass Art und Inhalte von Förderung überdacht werden sollten. Interventionen sollten sich direkt auf die betroffenen Fertigkeiten beziehen; Mitte der ersten Klasse geht es insbesondere um das Erlernen und Automatisieren von Graphem-Phonem-Entsprechungen. Fördermaßnahmen sollten sich daher auf das Trainieren von Buchstabe-Laut-Zuordnung, Silbenanalyse und -synthese konzentrieren.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Alexandra Dehmel, Dipl.-Hdl., MSc., Referentin am Landesinstitut für Schulentwicklung, Stuttgart. Arbeitsschwerpunkt: Wissenschaftstransfer.

Dr. Ulrike Philipps, beschäftigt in der Bildungsadministration von Baden-Württemberg, Arbeitsschwerpunkte: Schulentwicklung, Elementarbereich.

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