Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Völlinger, V., Supanc, M. & Brunstein, J. C. (2018). Kooperatives Lernen in der Sekundarstufe. Häufigkeit, Qualität und Bedingungen des Einsatzes aus der Perspektive der Lehrkräfte. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20(1), 159–176.FIS BildungDas kooperative Lernen ist ein Unterrichtskonzept, für das wiederholt positive Wirkungen auf kognitive, soziale und motivationale Variablen beobachtet wurden. Zu dessen Umsetzungshäufigkeit und Umsetzungsqualität im Sekundarstufenunterricht fehlen jedoch datengestützte Informationen. In dem rezensierten Beitrag wird dieses Desiderat aufgegriffen, indem die Autorinnen und der Autor 76 Lehrkräfte der Sekundarstufe I zum kooperativen Lernen befragen. Es zeigt sich, dass fast alle Befragten dieses Konzept in ihrem Unterricht einsetzen. Die Häufigkeit und Qualität des kooperativen Lernens sind unabhängig voneinander. Eine hohe Qualität ist mit einer hohen Selbstwirksamkeit bezüglich des kooperativen Lernens assoziiert. Das kooperative Lernen wird seitens der befragten Lehrkräfte als flexibel einsetzbar eingeschätzt. Auffällig ist, dass die Lehrkräfte die Verwendung dieses Unterrichtskonzepts in heterogenen Lerngruppen – im Gegensatz zu den theoretischen Annahmen des kooperativen Lernens – kritisch sehen.
Das kooperative Lernen ist ein Unterrichtskonzept, für das wiederholt positive Wirkungen auf kognitive, soziale und motivationale Variablen beobachtet wurden. Zugleich wird die Heterogenität bei diesem Konzept als Ressource für daran geknüpfte Lernprozesse angesehen. Zu dessen Umsetzungshäufigkeit und Umsetzungsqualität im Sekundarstufenunterricht fehlen jedoch datengestützte Informationen.
In der Einleitung beziehen sich die Autorinnen und der Autor auf die Wirksamkeit des kooperativen Lernens und damit verbundene Empfehlungen für den Einsatz in heterogenen Lerngruppen. Sie stellen fest, dass bislang wenig darüber bekannt ist, ob und wie diese Empfehlungen im Unterricht aufgegriffen werden und womit die Qualität der Umsetzung des kooperativen Lernens verbunden ist.
Im weiteren Verlauf des Beitrags skizzieren sie im Rekurs auf verschiedene Literaturquellen grundlegende Merkmale des kooperativen Lernens, die sich in verschiedenen Settings des kooperativen Lernens (z.B. Gruppenpuzzle, Placemat) abbilden:
Im Anschluss hieran fassen sie den Forschungsstand zum kooperativen Lernen mit Blick auf dessen Wirksamkeit, Einsatzhäufigkeit und die Qualität des Einsatzes (gemessen an der Berücksichtigung der grundlegenden Merkmale des kooperativen Lernens; s.o.) zusammen.
Vor diesem Hintergrund werden die Fragestellungen der Studie präsentiert. Es soll beantwortet werden, wie häufig kooperative Methoden eingesetzt werden, wie die Lehrkräfte ihr eigenes Wissen über diese Methoden beurteilen, mit welcher Qualität sie das kooperative Lernen im Unterricht einsetzen und welche Zielsetzungen sie dabei verfolgen, welche Schülerinnen und Schüler besonders davon profitieren und wo Hürden, Probleme sowie Unterstützungsbedarf bestehen.
Stichprobe: Zur Beantwortung der o.g. Fragestellungen wurden Daten von 76 Lehrkräften der Sekundarstufe I ausgewertet. Die ausgewählte Stichprobe ist mit Blick auf Zahlen aus der amtlichen Statistik für die Variablen Schulform, Klassengröße und den Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungshintergrund verhältnismäßig unverzerrt. Es nahmen mehr Frauen als Männer teil, das Durchschnittsalter lag bei 41,4 Jahren. Die befragten Lehrkräfte wiesen im Mittel 13,9 Jahre Berufserfahrung auf.
Untersuchungsablauf und Konstrukte: Die Studie wurde im Rahmen einer standardisierten onlinebasierten sowie einer papierbasierten Befragung realisiert. Für die Erfassung der Häufigkeit und des Wissens wurden Itembatterien selbst entwickelt. Zur Erfassung qualitativer Aspekte der Umsetzung des kooperativen Lernens wurde eine bereits bestehende Skala aus vorherigen Arbeiten verwendet. Zudem wurden Informationen über die Häufigkeit von Problemen bei der Umsetzung sowie die Eignung der Methode für verschiedene Zielgruppen und Unterrichtsziele erhoben. Außerdem wurden die Lehrkräfte danach gefragt, wie sehr sie sich Hilfestellungen bei der Umsetzung wünschen. In einer offenen Frage wurde des Weiteren nach positiven und negativen Merkmalen des kooperativen Lernens gefragt. Daneben wurden die Lehrkräfte mit einer reliablen Skala nach ihrer Einstellung zum gemeinschaftlichen Lernen sowie in Anlehnung an ein bestehendes und valides Instrument nach ihrer individuellen Selbstwirksamkeit bezüglich kooperativer Methoden gefragt.
Statistische Analysen: Für die Beantwortung der Forschungsfragen werden absolute und relative Häufigkeiten, Mittelwerte und Korrelationsmaße zu den erhobenen Variablen berichtet.
Es zeigt sich insgesamt, dass nur ein sehr geringer Anteil an Lehrkräften das kooperative Lernen nie einsetzt (4%). Die Häufigkeit des Einsatzes nimmt mit steigendem Alter ab. Das eigene Wissen über kooperative Lernmethoden wird als durchschnittlich eingeschätzt. Jüngere Lehrkräfte schätzen ihre Kenntnisse höher ein als ältere Lehrkräfte. In erster Linie stammen diese aus dem Austausch mit Kolleginnen und Kollegen oder aus dem Referendariat. Mit steigendem Alter nimmt in diesem Kontext die Bedeutung von Fortbildungen zu. Die Qualität des kooperativen Lernens wird ebenfalls durchschnittlich eingeschätzt. Sie korreliert positiv mit dem selbsteingeschätzten Wissen und der Selbstwirksamkeit. Alter, Geschlecht, Quantität des kooperativen Lernens und Fortbildungsbesuche hängen nicht damit zusammen. Die Selbstwirksamkeit bei Gymnasiallehrkräften ist geringer als bei den Lehrkräften der anderen Schulformen. Sie sind auch negativer gegenüber dem gemeinschaftlichen Lernen eingestellt als ihre Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Schulformen.
Als Probleme beim kooperativen Lernen werden in erster Linie die zeitlichen Ressourcen, heterogene Schülerleistungen und fehlende räumliche Ressourcen benannt. Die Lehrkräfte sind der Meinung, dass sich das kooperative Lernen vor allem für ältere Schülerinnen und Schüler mit hohem Leistungsniveau eignet. Sie setzen die Methoden kooperativen Lernens hauptsächlich zur Förderung sozialer Kompetenzen, der Selbstständigkeit, Wertevermittlung und Stärkung des Klassenverbands ein. Im Zusammenhang mit der Frage nach nützlichen Hilfestellungen erscheinen ihnen insbesondere unterrichtsnahe Medien (Materialien, Beispiele, Videos), aber auch Fortbildungsbesuche hilfreich zu sein. Als positiv werden insbesondere Aspekte rückgemeldet, die auf die Merkmale des kooperativen Lernens zurückführbar sind (u.a. soziale Kompetenzen, gegenseitiges Helfen). Negativ erscheinen vor allem der zeitliche Aufwand und Fragen einer angemessenen Leistungsfeststellung und -bewertung.
Zum Hintergrund: Die Studie von Völlinger et al. (2018) greift ein für Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Die Untersuchung erhält vor dem Hintergrund einer durch die inklusive Beschulung wahrscheinlichen Zunahme leistungsheterogener Lerngruppen besondere Bedeutung. Das Autorenteam untersucht vor diesem Hintergrund die Quantität und Qualität des kooperativen Lernens. Außerdem werden die Einstellung zum gemeinschaftlichen Lernen und die Selbstwirksamkeit bezüglich kooperativer Methoden erfasst.
Die Autorinnen und der Autor beziehen sich bei der Herausstellung der Relevanz ihrer Untersuchung auf Befunde und Empfehlungen zum kooperativen Lernen. Diese werden nach der Skizzierung grundlegender Merkmale dieses Unterrichtskonzepts angerissen und im weiteren Verlauf vertiefend vorgestellt. Die Argumentationsweise und Hinführung zur eigenen Studie sind stringent und überzeugend. Jedoch fehlen im Forschungsüberblick Verweise auf Studien, aus denen die Wirksamkeit des kooperativen Lernens auf motivationale Aspekte hervorgeht. Es werden lediglich Studien aufgeführt, aus denen Effekte auf kognitive und soziale Leistungen ersichtlich sind. Informationen zum Einbezug von theoretischen Grundlagen sind nicht vorhanden, bzw. es wird die im Fragebogen dann auch wohl verankerte Definition des kooperativen Lernens, auf die die Autorinnen und der Autor ihre Untersuchung anlegen, nicht dargelegt.
Zum Design: Das Studiendesign und die Durchführung werden komprimiert und nachvollziehbar benannt. Detaillierte Angaben zum Forschungsinstrument werden gegeben. Die Ergebnisdarstellungen in schriftlicher und tabellarischer Form beschränken sich auf den Bericht absoluter und relativer Häufigkeiten, Mittelwerte und Korrelationsmaße. Die methodische Vorgehensweise erscheint für eine explorative Studie angemessen. Methodische Einschränkungen werden von der Autorengruppe sehr ausführlich und nachvollziehbar diskutiert. Hier werden die geringe Stichprobe, die Überrepräsentation von jungen Lehrkräften und Gesamtschullehrkräften, die Verzerrung durch möglicherweise ein besonderes Interesse an der Befragung, die geringe Rücklaufquote sowie die geringe Datenqualität aufgrund der Selbstberichte von Lehrkräften als zentrale Limitationen der Studie diskutiert.
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Der Rückzug der Ergebnisse zu den literaturbasierten Anfangsausführungen gelingt. Das Autorenteam arbeitet gut heraus, dass sich die Lehrkräfte bei der Bewertung des kooperativen Lernens eher von eigenen Überzeugungen und Erfahrungen leiten lassen, die mit der wissenschaftlichen Befundlage nicht korrespondieren. Demnach erscheint ihnen der Einsatz des Unterrichtskonzepts eher in leistungshomogenen, leistungsstarken und älteren Lerngruppen günstig zu sein, obwohl der Einsatz kooperativer Lernmethoden insbesondere in heterogenen Lerngruppen empfohlen wird und wirksam ist, und zwar in jüngeren und älteren Lerngruppen.
Schließlich führen die Autorinnen und der Autor praktische Implikationen für die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften aus: Sie betonen insbesondere die Rolle der Einstellungen, der eigenen Erfahrung und der Selbstwirksamkeit bezüglich des kooperativen Lernens für die Unterrichtspraxis der Lehrkräfte. Diese gilt es ihrer Ansicht nach durch mehrschrittige Trainingsmaßnahmen zu modifizieren. Außerdem sprechen sie sich dafür aus, durch Team-Teaching und Coaching-Prozesse positive Erfahrungen zu evozieren, durch die wiederum theoriekonform Selbstwirksamkeitserwartungen gefördert werden können.
Aus Sicht des Rezensenten erscheint insbesondere der widersprüchliche Befund zur Einschätzung der leistungsbezogenen Heterogenität der Schülerinnen und Schüler als hinderlicher Faktor bei der Nutzung kooperativer Lernformen bedeutsam: Einen inhaltlichen Kern der von der Autorengruppe benannten mehrschrittigen Trainingsmaßnahmen sollte die Sensibilisierung und Einstellungsänderung im Blick auf diesen widersprüchlichen Befund darstellen, da das professionelle Handeln von Lehrkräften insgesamt von ihren Überzeugungen und Erfahrungen determiniert zu sein scheint und kurz-, mittel- und langfristige Veränderungen von unterrichtlicher Praxis ohne eine damit verbundene positive Grundhaltung nicht gelingen werden.
In diesem Zusammenhang kristallisiert sich insbesondere die Gruppe der gymnasialen Lehrkräfte als eine bedeutsame und unterstützungswürdige Gruppe heraus. Hierfür sprechen ihre im Vergleich zu den Lehrkräften anderer Schulen geringfügiger ausfallende Selbstwirksamkeit für das kooperative Lernen und die negativere Bewertung der Vorteile des gemeinschaftlichen Lernens. Welche individuellen, unterrichtlichen und schulbezogenen Faktoren erweisen sich in diesem Zusammenhang als wirksam? Wie können insbesondere diese Lehrkräfte in ihren subjektiven Kompetenzerwartungen gestärkt und positivere Einstellungen zu den Vorteilen kooperativer Lernformen aufgebaut werden? Diesen Fragen sollte in der Lehrerbildung noch fokussierter nachgegangen werden.
Institut für Bildungsanalysen (IBBW)
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