Fragestellungen der Studie:

  • Wie gelingt die Förderung im gemeinsamen Englischunterricht im Vergleich zu nicht-inklusiven Lerngruppen?

Rezension zur Studie

Springob, J. (2017). Inklusiver Englischunterricht am Gymnasium. Evidenz aus der Schulpraxis im Spiegel von Spracherwerbstheorie und Fremdsprachendidaktik. Frankfurt a. M.: Peter Lang.FIS Bildung

Der Autor der Studie illustriert am Beispiel seiner eigenen, inklusiv beschulten Gymnasialklasse die Komplexität der Arbeit mit einer heterogenen Lerngruppe unter Berücksichtigung der spezifischen Anforderungen des Englischunterrichts.

Neben einer Diskussion des Inklusionsbegriffs und seiner Relevanz aus fachdidaktischer Perspektive wird der Aspekt der Diagnostik des Lernstands im Englischunterricht berücksichtigt und genutzt, um die fremdsprachliche Progression einer detaillierter beschriebenen Lerngruppe über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren zu begleiten. Konkret wird untersucht, inwiefern die Förderung der Schülerinnen und Schüler und der gemeinsame Unterricht gelingt und wie die Lernfortschritte in der inklusiven Lerngruppe im Vergleich zu nicht- inklusiv unterrichteten Lerngruppen ausfallen.  

Die dabei multiperspektivisch und per Mixed-Methods-Ansatz erhobenen Daten zeigen fallbeispielartig heterogene Lernausgangslagen sowie unterschiedlich ausgeprägte, jedoch immer positive Entwicklungen der Leistungen innerhalb des inklusiven Englischunterrichts (insbesondere im Vergleich mit Daten nicht-inklusiv beschulter Parallelklassen). Der Autor gibt klare Empfehlungen zu nötigen Rahmenbedingungen und didaktisch-methodischen Prinzipien, die zum Gelingen eines inklusiven Englischunterrichts beitragen können, der zum Ziel hat, eine förderliche Sprachbildung für alle Lernenden zu gewährleisten. Hierzu gehören u.a. die Definition eines Gemeinsamen Gegenstands innerhalb der Unterrichtseinheiten, an dem alle Lernenden teilhaben können, ein ritualisierter Methodeneinsatz, der Transparenz im Unterrichtsvollzug gewährleistet sowie herausfordernde Aufgaben, die motivierend sind und alle Lernenden ernst nehmen.

Die vom Autor herausgearbeiteten Fallbeispiele, Empfehlungen sowie die durchaus sehr differenzierten Anmerkungen und Perspektiven, mit denen er seine Arbeit anreichert und sein Vorhaben reflektiert, spiegeln eine Authentizität wider, die seiner Funktion als Lehrkraft und Forschender gleichermaßen geschuldet ist. Hierdurch wird die Lektüre insofern bedeutsam, als dass gleichzeitig differenziert Hinweise auf Handlungsoptionen für die fremdsprachendidaktische Forschung sowie die Schul- und Unterrichtsentwicklung für inklusiven Fremdsprachenunterricht geliefert werden.

Mit der vorliegenden Dissertationsschrift wird ein bedeutendes Thema im deutschsprachigen Raum bearbeitet und gleichzeitig „Neuland“ betreten: Nicht nur findet Forschung hier im Feld von Inklusion und inklusivem Unterricht statt, welches ohnehin einige allgemein-pädagogische, aber auch professionell-kooperative sowie strukturelle Herausforderungen mit sich bringt. Insbesondere die fachdidaktische, genauer hier: die fremdsprachendidaktische Perspektive auf inklusiven Englischunterricht wird von Springob in den Blick genommen und erforscht. Er formuliert zwei Fragenkomplexe, die er im Rahmen der Dissertationsschrift theoretisch reflektiert wie empirisch gestützt untersucht:

„1. Was ist der Erkenntnisstand der wissenschaftlichen Forschung zum Zweit- und Fremdspracherwerb, zur Inklusionsforschung und zur Didaktik des Englischunterrichts, und welche Folgerungen und Konsequenzen ergeben sich daraus, um im Rahmen einer an den Schülerinnen und Schülern orientierten Vernetzung von Theorie und Praxis einen Gewinn für die schulische Realität der Inklusion für alle Schülerinnen und Schüler zu erzielen?

2. Gelingt inklusiver Fremdsprachenunterricht an einem Gymnasium so, dass alle Schülerinnen und Schüler der Klasse möglichst optimal gefördert sowie gefordert werden, ein messbarer Lernfortschritt erzielt wird und gleichzeitig die Konzepte eines modernen kommunikativen Englischunterrichts realisiert werden?“ (S. 32).

Diese Fragen bearbeitet er folgendermaßen: Er zeigt in seiner theoretischen Herleitung auf, welche Forschungslücken und -desiderate sich im Kontext des inklusiven Englischunterrichts ergeben – der weiterhin bedeutendsten ersten Fremdsprache in deutschen Schulen, welche auch für die meisten inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler eine starke Relevanz in Schule wie auch Alltagsbedeutung beispielsweise durch Medien besitzt. Um seine Forschungsfragen zu beantworten, nähert er sich zunächst dem Begriff „Inklusion“ in einem weiten Verständnis von Diversität und Heterogenität an und zeigt Perspektiven inklusiver Beschulung auch unter Berücksichtigung deutscher wie internationaler Studien auf. Er stellt jedoch auch die schulische Bedeutung des Themas Inklusion insbesondere bezüglich des „engeren Inklusionsbegriffs“ und der damit verbundenen förderpädagogischen Diagnostik heraus. Innerhalb dieser Annäherung diskutiert er den Leistungsbegriff bzw. die Entwicklung von Leistung in inklusiven Settings und betont die Wichtigkeit, Lernausgangslagen zu diagnostizieren, kritisiert aber (auch später im Fazit) richtigerweise die (ja durchaus bei Bedarf auch positiven) Folgen einer Feststellung sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs, wenn entsprechendes Personal unterstützend eingesetzt werden kann, hinterfragt dabei gleichzeitig aber auch den damit einhergehenden „Labelingapproach“ von Schülerinnen und Schülern und die mangelnde Unterstützung für Lernende mit anders gelagerten Schwierigkeiten, die aktuell noch nicht auf Grundlage einer entsprechenden Diagnostik zielführende Unterstützung erhalten (können).

Die Bedeutung einer Diagnose bezieht er sodann auf den Zweit- und Fremdspracherwerb, indem er darstellt, welche Faktoren den Spracherwerb negativ wie positiv bedingen; und er diskutiert Prinzipien für guten Englischunterricht: Hier spielen für den Autor nicht nur Aspekte von kompetenzorientierter Grammatik- und Wortschatzvermittlung eine Rolle sowie die angemessene Sicht auf Fehler und ihre Korrektur, auch der nordrhein-westfälische Kernlehrplan für Englisch wird als inhaltlich rahmengebend vorgestellt wie auch der Aspekt der Leistungsbewertung, diesmal aus der Sicht des Faches, der fachlichen Inhalte und zu diagnostizierenden Kompetenzen. Die Scharnierstelle zwischen theoretischer Vorarbeit und der eigenen empirischen Studie bildet sodann eine Zusammenstellung von theoretisch-empirisch hergeleiteten Prinzipien für inklusiven Englischunterricht, die Beantwortung der ersten Fragestellung, mitsamt konkreten Vorschlägen und sich damit auch ergebenden Herausforderungen.

Um diese Prinzipien zu untersuchen bzw. zu überprüfen, geht der Autor aktionsforschend vor, d. h. er untersucht seinen eigenen (inklusiven) Englischunterricht über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren (Klassen 5-6) im Sinne von Praxisforschung bzw. Aktionsforschung längsschnittlich datengenerierend und in ständiger Anpassung und Rückkoppelung dessen, was im Unterricht und auf Lernendenseite geschieht. Die detailliert untersuchte Lerngruppe besteht aus 21 Schülerinnen und Schülern (Jahrgangsstufe 5, später 6), von denen sechs sonderpädagogische Förderschwerpunkte haben, fünf Lernende andere Muttersprachen zeigen oder zweisprachig aufgewachsen sind. Auch darüber hinaus charakterisiert der Autor die Schülerinnen und Schüler – auch mithilfe der Eindrücke anderer Lehrkräfte der Klasse – als sehr leistungsheterogen und mit zahlreichen individuellen Schwierigkeiten, die verschiedenster Unterstützung in verschiedensten Bereichen bedürfen. In sieben detaillierteren Falldarstellungen gibt der Autor einen Überblick über die Lernenden der Klasse, d. h. die Leistungsniveaus und individuelle Entwicklung sowie verschiedene Förderansätze, außerdem auch Testergebnisse der Parallelklassen im Vergleich zur genauer untersuchten Lerngruppe. Er beschreibt hierzu auch die schulischen Rahmenbedingungen, Ressourcen sowie schulspezifische Kontextfaktoren, in denen sein inklusiver Englischunterricht stattfindet, und zeigt an einzelnen Unterrichtsbeispielen das methodisch-didaktische Vorgehen in diesem Setting auf. Aufgrund dessen, dass die Untersuchung an sich einen hoch-explorativen Charakter hat, verbindet Springob – auch aufgrund der (der Natur von Aktionsforschungsprojekten aber auch innewohnenden) geringen Teilnehmerzahl – verschiedene Methoden (Mixed Methods) wie halbstrukturierte Interviews (Reflexionsgespräche) mit einem Teil der Elternschaft, teilnehmende und strukturierte Unterrichtsbeobachtung, schulische Testverfahren, Vergleichs- und Klassenarbeiten sowie mündliche Prüfungen in zwei 6. Klassen (die zweite Klasse dient als Vergleichsgruppe), Dokumentenanalysen von Förderplänen sowie Fallstudien von einzelnen Lernenden. Die Eingangsdiagnose zu Beginn der 5. Klasse ermittelte z. B. den allgemeinen Leistungsstand der Lernenden sowie ihre sprachlich-kognitiven Fähigkeiten.

Zu den zentralen Erkenntnissen der Arbeit gehört:

  • Die aufgrund der zunehmenden sprachlichen Komplexität steigenden Anforderungen des Englischunterrichts werden von der Lerngruppe insgesamt als zunehmend belastend wahrgenommen mit unterschiedlichen Motivationslagen und Lernvoraussetzungen.
  • Eingangstestungen zu Beginn des Untersuchungszeitraums, die auch Aspekte wie Intelligenz prüfen, und ihr Zusammenhang mit den fremdsprachlichen Leistungen sind nicht eindeutig; gleichzeitig ist bei allen Lernenden ein fachlicher wie sprachlicher Fortschritt erkennbar, der erwartungsgemäß aufgrund der starken Heterogenität in vielerlei Dimensionen unterschiedlich ausfällt.
  • Die untersuchten Lernenden ohne sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf erbringen ähnliche Leistungen wie Schülerinnen und Schüler in nicht-inklusiven Parallelklassen.

Zu den Kernerkenntnissen in fachdidaktischer Hinsicht zählt, dass moderner, kommunikativer Englischunterricht auch inklusiv durch eine Arbeit am Gemeinsamen Gegenstand sowie durch eine relative Öffnung in inhaltlicher wie methodischer Hinsicht gelingen kann. Springob betont die Notwendigkeit herausfordernder Aufgaben, um die Motivation und ernsthafte Beschäftigung der Lernenden zu sichern; gleichzeitig erfordert Inklusion ein Höchstmaß an Ritualisierung und Transparenz. Der Autor diskutiert im Anschluss an die Darstellung der Ergebnisse diese hinsichtlich verschiedener schulischer, unterrichtlicher und curricularer Faktoren. Insbesondere vor dem Hintergrund seiner (Forschungs-)Tätigkeit an einem Gymnasium stellt er heraus, dass die von ihm diagnostizierten Heterogenitätsdimensionen, welche in seiner Lerngruppe offenbar wurden, zunächst einmal keine Relevanz für einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf nach sich ziehen, sondern primär zunächst unterrichtsrelevante, methodisch-didaktische Problemstellungen des Fremdsprachenunterrichts sind, die mittels einer sprach- und förderdiagnostischen Brille vorerst in das Bewusstsein der Lehrkraft treten müssen. Entsprechend fällt auch die Gesamtbewertung seiner Ergebnisse in Zusammenschau mit den theoretischen Erkenntnissen sowie oftmals diskutierten Chancen und Grenzen von Inklusion aus. Er extrahiert aus seiner Untersuchung Best-Practice-Elemente, die einen lern- und sprachförderlichen inklusiven Englischunterricht positiv beeinflussen können in den Dimensionen Rahmenbedingungen (z. B. multiprofessionelle Kooperation, individuelle Förderung durch räumliche Aufteilung der Klasse) sowie fachdidaktischen Aspekten (beispielhaft: Orientierung am Gemeinsamen Gegenstand als Unterrichtsprinzip, intensive Übungsphasen, Ritualisierung, Transparenz).

Der Autor reflektiert seine eigene Rolle im Forschungsprojekt kritisch und differenziert; dem Prinzip von Praxis- bzw. Aktionsforschung eigen ist es, dass man selbst als beteiligte Person in Interaktion mit den Forschungssubjekten steht, die Springob allerdings durch die mehrperspektivisch erhobenen vielfältigen Daten zu kontrollieren versucht. Bei der Vielzahl der verwendeten Erhebungsinstrumente wäre im Rahmen der Ergebnisdarstellung und Fallbeschreibung eine differenziertere Darstellung wünschenswert gewesen, die klarer herausstellt, wann welche Daten mit welcher Gewichtung einbezogen wurden. Die Arbeit bleibt – trotz des auch klassenübergreifend und längsschnittlich angelegten Untersuchungsdesigns – eine explorative Fallstudie, deren Ergebnisse nicht verallgemeinert werden dürfen, dennoch aber bedeutende Einblicke in die Praxis inklusiven Englischunterrichts sowie nötige Rahmenbedingungen offenlegen und auch fachdidaktische Diskussionen fördern werden, die weiterhin von großer Bedeutung sind und Schul- wie Unterrichtsentwicklung anregen müssen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. David Gerlach, Vertretungsprofessor für Englischdidaktik an der Universität Regensburg. Arbeitsschwerpunkte: Lernschwierigkeiten und Inklusion im Englischunterricht, Fremdsprachenlehrerprofessionalität und -professionalisierung in verschiedenen Phasen der Lehrer/innenbildung.

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