Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Helbig, M. & Nikolai, R. (2017). Ansturm auf „gute“ Schulen? Die Auswirkungen der Veröffentlichung von Abiturnoten auf die Zusammensetzung von Schülerinnen und Schülern an Berliner Schulen. Zeitschrift für Bildungsforschung, 7(2), 115–130.FIS BildungSeit dem Schuljahr 2013/2014 veröffentlicht die Berliner Senatsverwaltung die durchschnittlich an einer Schule erzielten Abiturnoten. Auf dieser Grundlage küren Tageszeitungen jährlich die „besten“ Schulen und auf Webportalen lassen sich die Schulen mit ihren Durchschnittsnoten u. a. nach Bezirken sortieren. Helbig und Nikolai gehen auf der Grundlage von Daten der Senatsverwaltung aus den Jahren 2009-2015 der Frage nach, ob dies Auswirkungen auf das Anmeldeverhalten der Eltern und die ethnische und sozioökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft hat.
Ergebnisse von linearen Regressionen zeigen, dass die Schülerzahlen bei Schulen mit guten Abiturergebnissen tendenziell steigen, bei schlechten Abiturergebnissen fallen. Eine bedeutsame Veränderung der ethnischen und sozioökonomischen Zusammensetzung der Schülerschaft lässt sich bislang nicht nachweisen. Das Autorenteam betont, dass die Abiturdurchschnittsnoten nicht mit der Qualität einer Schule gleichzusetzen sind, da sie maßgeblich durch die Schulform und die ethnische/sozioökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft bestimmt werden.
Angesichts des Mangels an Untersuchungen im deutschen Sprachraum zur Wahl der weiterführenden Schule durch die Eltern und zum Einfluss der Veröffentlichung von schulbezogenen Leistungsdaten auf diese Entscheidung liefert die Studie bedeutsame Erkenntnisse. Der ermittelte Zusammenhang zwischen Schulform sowie ethnischer/sozioökonomischer Zusammensetzung der Schülerschaft und dem Abiturnotendurchschnitt legt zudem nahe, die Abiturnote nicht unkritisch als Ausdruck der Qualität der jeweiligen Schule zu deuten, die das Wahlverhalten von Eltern entscheidend beeinflussen sollte – das vielleicht wesentlichste Ergebnis der Studie.
Problematisch an dieser insgesamt wichtigen Studie ist die unkritische Verwendung der Veränderung der Schülerzahl als Indikator für das Anmeldeverhalten der Eltern und die verkürzte Darstellung der statistischen Methoden und Befunde.
Seit dem Schuljahr 2013/14 werden in Berlin im Rahmen von Schulportraits die durchschnittlichen Abiturnoten der einzelnen Schulen auf den Internetseiten der Senatsverwaltung veröffentlicht, was die bisherige Praxis durchbricht, keine vergleichenden Informationen zum Leistungsstand einzelner Schulen zugänglich zu machen. Zwar stellt die Senatsverwaltung im Rahmen der Schulportraits jeweils nur die Daten der einzelnen Schulen und den Durchschnitt von Bezirk und Gesamt-Berlin zur Verfügung, aber durch die Medien werden die einzelnen Informationen teilweise zu Ranglisten zusammengefügt.
Die Veröffentlichung der Abiturnoten entspricht nach Helbig und Nikolai dem Informationsbedürfnis der Eltern, welche in diesen Noten einen Hinweis auf die Schulqualität sähen. Bislang seien die Eltern – neben Schulprofilen im Internet und Besuchen an Tagen der offenen Tür – vornehmlich auf stark subjektiv geprägte Mundpropaganda angewiesen gewesen, sodass hinsichtlich der Schulwahl für das eigene Kind eine große Unsicherheit bestand.
Im Hinblick auf die Schulwahl im Sekundarbereich gibt es in Deutschland bislang nur wenige Studien; der Einfluss von Ranglisten schulischer Leistungsdaten auf das Wahlverhalten stellt ein völliges Desiderat dar. Besser ist die Literaturlage im angloamerikanischen Bereich, in dem regelmäßig Leistungsranglisten publiziert werden, um den Wettbewerbsdruck auf die Schulen zu erhöhen und hierdurch eine Verbesserung der Unterrichtsqualität zu induzieren.
Gemäß dieser Forschungsbefunde legen Eltern aus mittleren und höheren sozialen Schichten größeren Wert auf Schulqualität und soziale Zusammensetzung der Schülerpopulation als Eltern niederer Schichten, bei denen Aspekte wie Erreichbarkeit und Freundlichkeit des Kollegiums eine vergleichsweise große Rolle spielen (Allen et al. 2014). Zudem sollen Ober- und Mittelschichteltern einen stärkeren Zugang zu Informationen über die Schulen haben, die Inhalte der Leistungsrankings besser verstehen und diese auch stärker für die Schulwahl nutzen.
Vor diesem Hintergrund werden folgende Annahmen formuliert:
Daten: Als Datenbasis dienten Informationen der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie bezogen auf die Schuljahre 2009/2010 bis 2014/2015: Von allen Berliner Schulen (N = 356) wurden die Zahlen aller Schülerinnen und Schüler für alle Jahrgänge übermittelt, wobei jeweils die Anzahl der Lernenden mit nichtdeutscher Herkunftssprache und mit einer Befreiung von der Zuzahlung des Eigenanteils der Lernmittel gesondert ausgewiesen wurde. Zudem wurden die jeweilige Schulform, der rechtliche Status (öffentlich/privat) und die durchschnittlichen Abiturnoten mitgeteilt.
Operationalisierung: Für die Bestimmung der Selektivität der Schulen vor und nach der Veröffentlichung der Abiturleistungen wurde der Anteil von Schülerinnen und Schülern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien herangezogen und der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund, da Hinweise vorlägen, dass viele Eltern gezielt Schulen auswählten, in denen dieser Anteil gering ist. Als Indikator für Migrationshintergrund wurde der Anteil der Lernenden mit nichtdeutscher Herkunftssprache an den jeweiligen Schulen verwendet und für die Bestimmung der sozioökonomischen Rahmenbedingungen der Anteil von Schülerinnen und Schülern, die von der Zuzahlung des Eigenanteils der Lernmittel befreit waren.
Auf die direkte Auswertung von Anmeldezahlen musste verzichtet werden, da die Qualität dieser Daten sich als nur bedingt brauchbar erwies. Der Einfluss der Veröffentlichung der Abiturnoten auf das Anmeldeverhalten wurde stattdessen anhand der Veränderung der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler ermittelt. Helbig und Nikolai merken an, dass dies bei Schulen problematisch sei, bei denen die Kapazitätsgrenzen erreicht sind, da an diesen die Schülerzahlen nicht weiter steigen können. Hier erwarten sie, dass sich die Veröffentlichung der durchschnittlichen Abiturnoten im Anteil der Lernenden mit/ohne Lernmittelbefreiung bzw. mit/ohne deutsche Herkunftssprache widerspiegelt.
Auswertung: Im Hinblick auf die Abiturdurchschnittsnote aus dem Schuljahr 2013/2014 wurden die Schulen einer von drei Gruppen zugeordnet: 2,2 und besser (17 % der Schulen), 2,3 bis 2,6 (64 %) und 2,6 bis 3 (16 %). Die Zusammensetzung der Schülerschaft in den 7. Klassen (Eingangsklasse) des Jahrganges 2014/15 wurde mit den beiden vorangegangenen Jahrgängen verglichen, in denen die Eltern die Abiturdurchschnittsnoten noch nicht für die Schulwahlentscheidung nutzen konnten.
Die Analysen erfolgten mithilfe linearer Regressionen, wobei als Robustness Checks alternative Modelle berechnet wurden (u. a. fixe Effekte, keine Kontrolle nach Bezirken), die jedoch vergleichbare Ergebnisse erbrachten. Kontrollvariablen waren jeweils die Bezirke Berlins und die Schulformen (Integrierte Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen, Gymnasien).
Neben der Prüfung der eingangs formulierten Annahmen wurde zusätzlich untersucht, in welchem Maße sich die Varianz der Abiturdurchschnittsnoten durch Merkmale der Schulen und ihrer Schülerschaft erklären lässt. Hierbei wurden Gymnasien, die nicht erst ab der 7. Klasse, sondern bereits ab der 5. Klasse besucht werden können, gesondert berücksichtigt, da dort besonders leistungsstarke und häufig aus höheren Schichten stammende Schülerinnen und Schüler vermutet werden.
Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den Eingangsklassen der 7. Jahrgangsstufe sinkt nach der Veröffentlichung der Abiturdurchschnittsnoten – jeweils im Vergleich zu den Schulen mit den besten Noten – an den Schulen mit mittleren Abiturergebnissen (Abi 2,3 - 2,6) um 4, an Schulen mit schlechten Noten (Abi 2,7 und schlechter) um 7,9, wobei die Ergebnisse tendenziell signifikant ausfallen (p < .10). Helbig und Nikolai sehen dadurch ihre Annahme bestätigt, dass mehr Schülerinnen und Schüler eine Schule mit guten Abiturnoten besuchen und Schulen mit mittleren und schlechten Abiturnoten eher gemieden werden. Eine differenzierte Analyse nach Schulformen legen sie nicht vor. Da keine Angaben zur durchschnittlichen Schulgröße gemacht werden, ist kaum abzuschätzen, ob die mitgeteilten Veränderungen quantitativ ins Gewicht fallen oder zu vernachlässigen sind. Auch ist unklar, ob die festgestellten Veränderungen einmalig sind oder in die Zukunft fortgeschrieben werden können.
Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Lernmittelbefreiung an den Schulen mit mittleren bis schlechten Abiturnoten steigt hingegen nur äußerst geringfügig gegenüber denjenigen mit gutem Abiturschnitt (Abi 2,3- 2,6: 0,53; Abi 2,7 und schlechter: 0,65; p < .10), im Hinblick auf die Schülerinnen und Schüler mit nichtdeutscher Herkunftssprache gibt es keinen eindeutigen Effekt (Abi 2,3- 2,6: 1,9; Abi 2,7 und schlechter: -3,1; p < .10). Allerdings gab es bereits vor der Offenlegung der Abiturnoten an Schulen mit mittleren und schlechten Abiturnoten höhere Anteile an Schülerinnen und Schülern mit Lernmittelbefreiung und nichtdeutscher Herkunftssprache als an Schulen mit guten Abiturergebnissen, so dass sich Eltern aus sozioökonomisch höheren Schichten und deutscher Herkunftssprache offenbar für die Schulen mit besseren Ergebnissen bereits in Zeiten entschieden, als deren Abiturnoten noch nicht veröffentlicht wurden. Inwiefern sich dieser Befund auch auf andere Weise – etwa durch Effekte einer sozial/ethnisch segregierten Wohnsituation – erklären ließe, wird vom Autorenteam nicht diskutiert.
Die anschließende Untersuchung, in welchem Ausmaß sich Abiturnoten aus der Schulform und aus Merkmalen der Schülerschaft vorhersagen lassen, erbringt, dass der Anteil der Lernenden mit Lernmittelbefreiung und der Lernenden mit nichtdeutscher Herkunftssprache die Varianz der Abiturnoten zu 22 % erklärt, wobei beide Faktoren in einem negativen Zusammenhang mit den Durchschnittsnoten stehen.
In Bezug auf die Schulformen zeigt sich, dass an Gymnasien bessere Abiturnoten erreicht werden als an anderen Schulformen. Diejenigen Gymnasien (= „grundständige Gymnasien“), in die Schülerinnen und Schüler bereits mit dem 5. Schuljahr eintreten können, erzielen die besten Ergebnisse. Möglicherweise bringt die Schülerschaft an Gymnasien (und hier besonders im Fall der „grundständigen Gymnasien“) bereits bessere Lernvoraussetzungen mit als diejenige der anderen Schulformen, so dass sich in Bezug auf die Schulformen keine Qualitätsunterschiede aus dem Ergebnis ableiten lassen.
Fasst man die Merkmale von Schülerschaft und Schulform kontrolliert nach Bezirken zusammen, so erklären diese 58 % der Varianz der Abiturnoten. Helbig und Nikolai schlussfolgern, dass maximal 40 % der Varianz der Abiturnoten auf die Qualität der Schule zurückgeführt werden können, wobei offen bleibt, in welchem Maße dieser Anteil durch die Qualität und von welcher Dimension von Schulqualität er ausgefüllt wird.
Helbig und Nikolai kommen zu folgenden Schlussfolgerungen:
Die Veröffentlichung von Schülerleistungen an einzelnen Schulen ist für Deutschland ein neues Phänomen, seine Folgen – z. B. für die Wahl der weiterführenden Schulen – waren bislang nicht bekannt und es ist fraglich, inwiefern Befunde aus angelsächsischen Ländern auf Deutschland übertragbar sind. Generell scheinen Ergebnisse zur konkreten Schulwahl im Sekundarstufenbereich in Deutschland nur spärlich vorzuliegen. Schon aus dieser Aufzählung der Forschungsdesiderate zeigt sich der inhaltlich innovative Charakter der Studie.
Zudem ist der Ansatz hervorzuheben, die Abiturmittelwerte nicht einfach als Beleg für die Qualität einer Schule zu werten, sondern zu ihrer Erklärung auch die Schulart sowie Faktoren der Zusammensetzung der Schülerschaft heranzuziehen: Da sich ca. 60 % der Varianz der Abiturnoten durch Schulform und Eigenschaften der Schülerschaft erklären lassen, ist deren Aussagekraft hinsichtlich der Qualität der Schule – die für Eltern bei der Wahl einer weiterführenden Schule für ihr Kind wichtig sein dürfte – entscheidend eingeschränkt. Das Ergebnis macht deutlich, dass eine Veröffentlichung von Abiturdurchschnittsnoten Eltern zu falschen Annahmen hinsichtlich der Qualität einer Schule verleiten und damit zu einem fragwürdigen Anmeldeverhalten führen kann.
Diese insgesamt positive Bewertung der Studie muss allerdings bezüglich der Darstellung und unter methodischen Gesichtspunkten eingeschränkt werden. Im Hinblick auf die Darstellung wären detailliertere Angaben zu den statistischen Vorgehensweisen wünschenswert gewesen, die Ergebnistabellen sind nur mit Mühe nachvollziehbar. Auch wären eindeutigere Angaben zu den Fallzahlen hilfreich.
Des Weiteren ermitteln Helbig und Nikolai das Schulwahlverhalten nicht anhand der Anmeldedaten der Schulen, sondern mithilfe der vermeintlich zuverlässigeren Daten der Veränderung der Schülerzahlen in den Eingangsklassen der weiterführenden Schulen. Diese Zahlen sind aber nicht unproblematisch, wie das Autorenteam selber diskutiert, denn wenn die Anmeldekapazitäten erschöpft sind, kann die Schule nicht weiter wachsen. Darüber hinaus können Veränderungen eine Folge von unabhängigen gesellschaftlichen Tendenzen (z. B. steigende Gymnasialquote) oder der lokalen Demographie sein: in welchen Stadtvierteln gibt es – etwa aufgrund der Ausweisung von Neubaugebieten – eine zunehmende Zahl junger Familien, in welchen gibt es aufgrund der Alterung der Bevölkerung eine natürliche Abnahme von Kindern? Wie verzahnen sich diese Effekte mit dem Effekt der Wahlentscheidung der Eltern?
Schließlich ist noch ein schulformenspezifischer Effekt zu beachten: Die neuen Integrierten Sekundarschulen umfassen die früheren Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Man kann also davon ausgehen, dass es dort relativ viele Schülerinnen und Schüler gibt, für die das Abitur kein relevantes Ziel darstellt, sondern die einen mittleren Schulabschluss etc. anstreben. Für sie und ihre Eltern könnte die Mitteilung der Abiturnoten bei der Schulwahl möglicherweise überhaupt keine Rolle gespielt haben. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die gar kein Abitur als Abschluss anstrebt, dürfte aber eine wesentliche Einflussgröße für die Anmeldezahlen an dieser Schulform sein.
Um an diesem Punkt weiterzukommen, wäre es evtl. sinnvoll, durch eine stichprobenartige Befragung von Eltern zu ermitteln, ob sie überhaupt die Veröffentlichung der Abiturnoten wahrgenommen haben und ob diese einen nennenswerten Einfluss auf ihre Entscheidung hatte.
Kultusministerium BW
Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW
Sie haben Fragen oder Anregungen?