Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Conrad, M. & Schumann, S. (2017). Lust und Frust im Tablet-PC-basierten Wirtschaftsunterricht. Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 113(1), 33–55.FIS BildungAngesichts der zunehmenden Digitalisierung in nahezu allen Lebensbereichen wird eine verstärkte Einbindung von Computertechnologien in den Unterricht gefordert, wobei unklar ist, wie ein solcher Unterricht u. a. im Hinblick auf lernförderliche Erlebenszustände (Affekte) der Lernenden optimal gestaltet werden kann.
Conrad und Schumann untersuchen in einer quasi-experimentellen Studie die Entwicklung des affektiven Erlebens in Unterrichtsphasen, in denen Schülerinnen und Schüler mit Tablet-PCs im Internet selbstreguliert und zielgerichtet recherchieren. Daneben prüfen sie, ob ein vorgeschaltetes Informationskompetenztraining das Erleben günstig beeinflusst. Hierzu erfassten sie in drei Unterrichtseinheiten zum Thema Marketing die Entwicklung positiver und negativer Erlebenszustände von Lernenden (n = 103) aus 6 Eingangsklassen (3 EG, 3 KG) an baden-württembergischen Wirtschaftsgymnasien mithilfe der Continuous-State-Sampling-Methode.
Wünschenswerte Erlebenszustände (z. B. Glück) sind bei der Tabletnutzung mäßig ausgeprägt und nehmen über die Unterrichtseinheiten hinweg leicht ab. Sie werden jedoch stärker erlebt als negative Aktivierung (z. B. Stress), welche geringfügig zunimmt, was auf die anspruchsvolleren Lernziele der dritten Unterrichtseinheit und den fehlenden Wechsel von Medien-/Methodeneinsatz und Sozialform zurückgeführt wird. Die Erlebenszustände lassen sich teilweise durch die anfängliche Computeraffinität erklären, wobei Schüler auch bei rechnerischer Kontrolle dieses Aspekts die Tabletnutzung positiver erleben als Schülerinnen. Das Informationskompetenztraining beeinflusst das Erleben nicht bedeutsam.
Aufgrund der Untersuchungsanlage bleibt offen, ob die (Veränderungen der) Erlebenszustände durch den Technologieeinsatz beeinflusst wurden oder auch bei einem Unterricht ohne Tabletnutzung zu beobachten gewesen wären. Da auch die Intervention keine bedeutsamen Effekte hatte, ist der Erkenntnisgewinn aus der Untersuchung gering. Für die Praxis lässt sich die Forderung nach einer geschlechtersensiblen Gestaltung computergestützter Lehr-Lern-Settings ableiten.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen einer Lehrkraft:
Reflexionsfragen einer Schulleitung:
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche erscheinen Forderungen nach einer „Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft“ (BMBF, 2016) plausibel – sowohl um den Anschluss von Schülerinnen und Schülern an aktuelle Entwicklungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu gewährleisten als auch um langfristig einen Nachteil des Wirtschaftsstandortes Deutschland zu verhindern.
Conrad und Schumann verweisen auf Befunde der ICIL-Studie (Bos et al., 2014; Fraillon et al., 2014), nach denen die Nutzung digitaler Technologien an deutschen Schulen eher selten vorkommt und die computer- und informationsbezogenen Kompetenzen deutscher Schülerinnen und Schüler eher mittelmäßig ausgeprägt sind, was eine deutlich stärkere Nutzung von Computertechnologien im Unterricht nahelegt. Die Autoren messen dabei der Nutzung mobiler Endgeräte wegen ihres ortsunabhängigen Internetzugangs steigende Bedeutung zu, wobei nicht umfänglich beantwortet werden könne, inwieweit dies den individuellen Lernbedürfnissen gerecht werde und mit welchen Effekten dies, bezogen auf das Unterrichtserleben, einhergehe.
Studien zur Medienwirksamkeit beleuchteten bisher vorwiegend den Wissenserwerb und die Behaltensleistung. Auf die den Lernprozess beeinflussenden Prozessvariablen, z. B. Motivation und Emotionen (Affekte), wurde bislang selten fokussiert. Daher ist es das Ziel des rezensierten Beitrags, die Entwicklung des affektiven Erlebens in Unterrichtsphasen der selbstregulierten Internetrecherche mit Tablet-PCs zu analysieren und Zusammenhänge des Erlebens mit weiteren personalen Merkmalen (u. a. Geschlecht) zu untersuchen. Daneben wird geprüft, ob ein vorgelagertes Informationskompetenztraining das affektive Erleben in den Phasen der tabletgestützten Internetrecherche beeinflusst.
Stichprobe und Erhebungsplan: Der Untersuchung lag ein quasi-experimentelles Design mit einem Zweigruppen-Plan zugrunde. Sechs Eingangsklassen (n = 103, 58 weiblich) an drei Wirtschaftsgymnasien in Baden-Württemberg wurden zufällig der Experimental- (mit Informationskompetenztraining, EG) oder Kontrollgruppe (ohne Informationskompetenztraining, KG) zugeteilt (je Schule 1 EG/1 KG).
Das 90-minütige Informationskompetenztraining der Experimentalgruppe zielte auf die Förderung der Informations- und Bewertungsstrategien bei der Internetrecherche ab. Die Kontrollgruppe erhielt lediglich eine 20-minütige Einführung in die Bedienung der Tablet-PCs mit der Anwendung (App) zum Continuous-State-Sampling.
Erhebungsinstrumente: Das affektive Erleben wurde mit den Dimensionen positive Aktivierung (PA, wünschenswerte emotionale Zustände wie z. B. Begeisterung, Tatkraft), negative Aktivierung (NA, weniger wünschenswerte Zustände wie z. B. Stressempfinden, Nervosität) und Valenz (VA, modelliert durch das persönliche Glücksempfinden) konzeptualisiert.
Die Erfassung der drei Dimensionen erfolgte mit Skalen des PANAVA-Modells (Schallberger, 2005). Die Probanden wurden aufgefordert, ihr affektives Erleben auf den Tablet-PCs zu bewerten. Hierzu wurden sie während der selbstregulierten Recherchephasen in einer 15-Minuten-Taktung durch die jeweiligen Endgeräte aktiviert, ihr aktuelles subjektives Erleben einzuschätzen (Continuous-State-Sampling). Sie beantworteten jeweils acht Items (PA: vier Items, Cronbach-α: .90 ≤ α ≤ .95; NA: zwei Items, Cronbach-α: .61 ≤ α ≤ .76; VA: zwei Items, Cronbach-α: .82 ≤ α ≤ .95), deren Ausprägungen mittels eines „Schiebers“ zwischen 0 (niedrigste Ausprägung) und 100 (höchste Ausprägung) anzugeben waren.
Das affektive Erleben wurde während der Tabletnutzung im Rahmen von drei je 90-minütigen Unterrichtsstunden im Fach Volks- und Betriebswirtschaftslehre zum Thema Marketing erhoben. Jede Einheit umfasste u. a. eine 55-minütige Phase selbstregulierten Lernens, bei der die Probanden in Einzelarbeit mittels Tablet-PCs im Internet Informationen zur Bearbeitung einer Fallstudie recherchierten, und eine 15-minütige Ergebnissicherung. Bei jeweils 15-minütigen Intervallen in drei Unterrichtsphasen à 55 Minuten ergeben sich 12 Messzeitpunkte.
Zusätzlich wurden vor Beginn der eigentlichen Untersuchung neben soziodemographischen Daten weitere als relevant erachtete Variablen erfasst: Hierzu gehörten die kognitive Leistungsfähigkeit (CFT 20-R, Reihenfortsetzen, Weiß, 2006), die Häufigkeit der Computernutzung (Computer Usage Questionnaire, Schroeders & Wilhelm, 2011; 17 Items, Cronbach-α: .71), die eigene positive Einstellung zur Computernutzung (5 Items, Cronbach-α: .83), das Selbstkonzept computerbezogener Kompetenzen (3 Items, Cronbach-α: .81), das fachbezogene Interesse (3 Items, Cronbach-α: .74) sowie die intrinsische Motivation bezüglich des Faches Wirtschaft (4 Items, Cronbach-α: .78).
Auswertungsmethoden: Die Auswertungen erfolgten mithilfe von Korrelationen und Varianzanalysen mit Messwiederholung.
Die Korrelation zwischen den Erlebenszuständen positive Aktivierung (PA) und Valenz (VA) fällt erwartungsgemäß positiv aus (r = .85), beide korrelieren negativ mit der negativen Aktivierung (NA, r = -.48 bzw. r = -.57).
Die positive Aktivierung verläuft über alle Messzeitpunkte kontinuierlich unterhalb der Skalenmitte (M = 43). Die Valenz liegt etwas darüber (M = 52). Die Ausprägung beider potentiell lernförderlicher Erlebenszustände nimmt über die 12 Messpunkte hinweg moderat ab (PA: F = 4.01; p = .00; η2partial = .07; VA: F = 6.41; p = .00; η2partial = .10); die negative Aktivierung beginnt am Übergang zwischen unterem und mittlerem Drittel der Skala und steigt dann tendenziell an (M = 35; F = 3.97; p = .00; η2partial = .06). Die drei Phasen der Tabletnutzung gehen demzufolge mit einer mäßigen Aktivierung und einer ungünstigen Entwicklung der Erlebenszustände einher, wobei die ungünstigsten Werte in der transferorientierten dritten Unterrichtseinheit auftreten, die durch eine komplexere Aufgabenstellung und höhere Lernziele geprägt war.
Die geschlechtsspezifischen Analysen ergeben signifikante Differenzen bezüglich der positiven Aktivierung und der Valenz; in beiden Dimensionen geben die Schüler über alle 12 Messzeitpunkte hinweg höhere Werte an als die Schülerinnen (jeweils d = .75; p < .00; PA: F = 10.1; p = .00; η2partial = .15; VA: F = 8.03; p = .00; η2partial = .12). Parallel dazu sind deutlich höhere Werte bei der Computernutzung der Schüler zu verzeichnen. Da die Computernutzung mit den Erlebenszuständen in Zusammenhang steht (r ≤ .39), wurden die entsprechenden Merkmale in einer weiteren Analyse kontrolliert. Infolgedessen nehmen die geschlechtsspezifischen Unterschiede ab und bleiben nur für die positive Aktivierung signifikant (PA: F = 4.67; p = .04; η2partial = .10). Die negative Aktivierung lässt keine geschlechtsspezifisch signifikanten Differenzen erkennen.
Von den weiteren personalen Merkmalen stehen die intrinsische Motivation (PA: r = .29; VA: r = .25) und das Selbstkonzept computerbezogener Kompetenzen (PA: r = .24) in signifikantem Zusammenhang mit einzelnen Erlebenszuständen; die kognitive Leistungsfähigkeit korreliert nicht signifikant.
Bezüglich des Informationskompetenztrainings weisen die Daten der Experimental- und der Kontrollgruppe nur geringfügige Unterschiede auf und fallen erwartungswidrig zuungunsten der Experimentalgruppe aus: Der Vergleich zeigt eine Zunahme der negativen Aktivierung bei der Experimentalgruppe (F = 3.39; p = .00; η2partial = .06), analog dazu sinken die positive Aktivierung (F = 3.20; p = .04; η2partial = .03) und die Valenz (F = 2.57; p = .03; η2partial = .04).
Zum Hintergrund: Die lernförderliche Einbindung digitaler Medien in den Unterricht ist angesichts der zunehmenden Bedeutung von Digitalisierung in nahezu allen Lebensbereichen ein wichtiges Forschungsfeld. Bisherige Studien fokussierten in erster Linie den Wissenserwerb und die Behaltensleistung der Lernenden. Vor diesem Hintergrund greifen die Autoren ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf und untersuchen zum einen das affektive Erleben von Schülerinnen und Schülern in Unterrichtsphasen der selbstregulierten Internetrecherche mit Tablet-PCs und zum anderen, ob ein vorgeschaltetes Informationskompetenztraining das affektive Erleben (günstig) beeinflusst.
Zum Design: Das Forschungsdesign ist als quasi-experimentelle Feldstudie angelegt, um die Effekte des Informationskompetenztrainings unter realen Bedingungen möglichst aussagekräftig zu bestimmen. Allerdings fällt die Stichprobe klein aus, was von den Autoren als Einschränkung diskutiert wird. Bei den eingesetzten Fragebogenskalen handelt es sich um etablierte Verfahren und die computergestützte Erhebung der Erlebenszustände auf Grundlage der Continuous-State-Sampling-Methode ist gut geeignet, um die Entwicklung des affektiven Erlebens der Schülerinnen und Schüler zu erfassen.
Zu den Ergebnissen: Im Verlauf der drei Unterrichtseinheiten werden die von den Schülerinnen und Schülern während der Tabletnutzung dokumentierten und durchgängig mäßig ausgeprägten Erlebenszustände zunehmend weniger positiv bzw. stärker negativ eingeschätzt. Die Autoren argumentieren, dass die ungünstige Entwicklung auf die anspruchsvolleren Lernziele der dritten Unterrichtseinheit und den fehlenden Wechsel von Medien-/Methodeneinsatz und Sozialform zurückgeführt werden könne (Frustrations-, Sättigungseffekt). Da keine Kontrollgruppe ohne Technologieunterstützung lernte, bleibt leider völlig unklar, inwiefern die beobachteten Phänomene auf die Tabletnutzung zurückzuführen sind oder in einem alternativen Unterricht ohne Computer ebenfalls zu beobachten gewesen wären, was eine erhebliche Einschränkung darstellt.
Aus den geschlechterdifferenten Ergebnissen zur positiven Aktivierung und Valenz leiten die Autoren der Studie die Notwendigkeit einer Sensibilität für die Geschlechterzugehörigkeit bei der Planung und Durchführung von computergestützten Settings ab, ohne dies näher zu erläutern. Hier wären weitere Ausführungen im Blick auf mögliche Sensibilisierungsaspekte (z. B. Auswahl von Inhalten, Inszenierung) wünschenswert gewesen.
Aus Sicht der Rezensentin sollte in zukünftigen Studien das subjektive Erleben beim tabletgestützen Lernen mit der objektiven Qualität der Arbeitsergebnisse der Lernenden in Beziehung gebracht werden. Hieraus ließe sich ableiten, inwiefern das computerunterstützte Lernen über die positive Aktivierung hinaus – so sie denn stärker ausfällt als das rein analog gestützte – einen vergleichbaren bzw. stärkeren Kompetenzzuwachs bei den Lernenden unterstützt als nicht-PC-basierte Lernsettings.
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