Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Kessels, U. & Heyder, A. (2017). Die Wertschätzung schulischer Anstrengung als Mediator von Geschlechtsunterschieden in Noten. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 49(2), 86–97.FIS BildungMädchen erzielen im Hinblick auf Schulerfolg und schulische Leistungen im Durchschnitt häufig bessere Ergebnisse als Jungen, wobei die Ursachen nicht hinlänglich geklärt sind. Kessels und Heyer untersuchen, inwieweit sich bessere Schulnoten von Mädchen auf eine stärkere Wertschätzung von schulischer Anstrengung zurückführen lassen.
Hierzu wurden Deutsch- und Mathematiknoten und die Wertschätzung schulischer Anstrengung von 400 Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe an vier Gymnasien einer Großstadt per Fragebogen erhoben.
Die Untersuchungsergebnisse belegen, dass Mädchen schulische Anstrengung stärker wertschätzen als Jungen und dass ihre besseren Deutschnoten teilweise dadurch erklärbar sind. Die erhobenen Mathematiknoten weisen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede auf und stehen auch nicht im Zusammenhang mit der Wertschätzung schulischer Anstrengung.
Die Autorinnen geben zu bedenken: Je mehr die Wertschätzung oder das Zeigen von Anstrengung mit besseren Noten einhergeht, umso stärker werden Gruppen benachteiligt, die schulische Anstrengung nicht wertschätzen bzw. deren Norm das Zeigen von Anstrengung nicht erlaubt. Um die geringere Wertschätzung schulischer Anstrengung durch Jungen zu verringern, regen sie an, die Stereotypisierung von schulischer Anstrengung als feminines Verhalten beispielsweise durch positive Rollenmodelle zu verringern. Insbesondere in Fächern, in denen die Leistung häufig als in hohem Maße begabungsabhängig eingeschätzt wird (z. B. Mathematik), sollten die Überzeugungen der Schülerinnen und Schüler gestärkt werden, dass die eigenen Fähigkeiten durch Anstrengung gesteigert werden können. Weiterhin sollte im Hinblick auf die eigene Praxis reflektiert werden, ob Anstrengung bei der Notenvergabe in verschiedenen Fächern ähnlich honoriert wird und ob Unterschiede ggf. gut begründet sind.
Aufgrund der querschnittlichen Datenerhebung, der Beschränkung auf eine Schulform, auf eine Jahrgangsstufe sowie auf zwei Unterrichtsfächer haben die Ergebnisse eine eingeschränkte Aussagekraft.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen einer Lehrkraft:
Reflexionsfragen einer Schulleitung:
In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass Mädchen insbesondere im Unterrichtsfach Deutsch unabhängig von der Jahrgangsstufe die besseren Noten erzielen. Für das Fach Mathematik hingegen liegen widersprüchliche Ergebnisse vor. Die Geschlechtsunterschiede zugunsten der Mädchen fallen noch größer aus, wenn fachliche Kompetenzen oder allgemeine Intelligenz statistisch kontrolliert werden. In diesem Zusammenhang führen Kessels und Heyder Studien an, nach denen der Schulerfolg der Mädchen auch mit deren erwünschten Verhaltensweisen und Einstellungen im bzw. zum Unterricht zusammenhängen kann. Die Autorinnen gehen davon aus, dass dies insbesondere für solche Fächer von Relevanz ist, in denen schulische Anstrengung stärker berücksichtigt wird.
Im weiteren Diskurs referieren Kessels und Heyder Arbeiten, in denen der Begriff ‚Anstrengung‘ mithilfe verschiedener Indikatoren abgebildet wurde. Über alle Altersstufen hinweg zeigen Mädchen eine höhere schulische Anstrengungsbereitschaft als Jungen. Während die besseren Deutschnoten von Mädchen durch ihre Anstrengung vermittelt wird, liefert die Literatur keine eindeutigen Befunde für andere Fächer.
Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob neben Deutsch auch für Mathematik gilt, dass Mädchen in Folge ihrer stärkeren Wertschätzung schulischer Anstrengung bessere Schulnoten erhalten. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Forschungslage werden folgende Hypothesen geprüft (Kessels & Heyder, 2017, S. 90):
Zur Hypothesenprüfung nutzten die Forscherinnen das Datenmaterial von vier Gymnasien ohne fachspezifischen Schwerpunkt aus einer deutschen Großstadt. Die Stichprobe bildeten 400 Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe (53,8 % weiblich; Alter: M = 14.5 Jahre; SD = 0.6). Unter Aufsicht geschulter Testleiterinnen und Testleiter bearbeiteten die Schülerinnen und Schüler einen Fragebogen. Zur Erfassung der Wertschätzung diente die deutsche Version der Worker Scale (McCrea, Hirt, Hendrix et al., 2008). Acht Items waren auf einer Skala von 1 = "stimme gar nicht zu" bis 5 = "stimme sehr zu" einzuschätzen (z. B. "Meist mache ich für die Schule nur so viel, wie ich unbedingt muss"). Als Indikator für den Schulerfolg berichteten die Schülerinnen und Schüler ihre letzten Zeugnisnoten in Mathematik und Deutsch. Als demografische Merkmale wurden das Alter, Geschlecht und das Geburtsland erhoben.
Die Prüfung der Hypothesen erfolgte mittels T-Tests (Hypothesen 1, 2), Korrelationsanalysen (Hypothese 3) und einem Strukturgleichungsmodell (Hypothese 4), in dem Korrelationen zwischen der Mathematik- und der Deutschnote zugelassen wurden, der FIML-Algorithmus zur Modellschätzung genutzt wurde und dessen Fit-Indizes akzeptable bis gute Werte aufwiesen (Χ² = 70.53, df = 24, p < .001, CFI = .95, RMSEA = .07, SRMR = .04).
Nach Prüfung der faktoriellen Validität und Ausschluss von zwei Items stellen die Autorinnen die Ergebnisse wie folgt dar:
Hypothese 1: Mädchen erreichen signifikant bessere Deutschnoten als Jungen (Mädchen M = 2.6; SD = 0.8; Jungen M = 2.9; SD = 0.9; t[391] = -3.0, p = .003). Der Unterschied in der Mathematikfachnote ist nicht signifikant (Mädchen M = 2.8, SD = 0.94; Jungen M = 3.0; SD = 1.0; t[391] = -1.5, p = .12). Die Abweichung im Fach Deutsch zugunsten der Mädchen ist statistisch nicht höher als im Fach Mathematik (Geschlechtsunterschied Deutschnote -0.24: 95 % KI [-0.40; -0.08]; Geschlechtsunterschied Mathematiknote -0.15: 95 % KI [-0.35; 0.04]).
Hypothese 2: Mädchen wertschätzen schulische Anstrengung höher als Jungen (Mädchen M = 3.2; SD = 0.8; Jungen M = 2.9; SD = 0.7, t[394] = 4.0; p < .001).
Hypothese 3: Die Wertschätzung schulischer Anstrengung korreliert mit besseren Deutschnoten (r = -.19; p < .001), nicht mit besseren Mathematiknoten (r = -.06; p = .22).
Hypothese 4: Die besseren Deutschnoten der Mädchen können zum Teil darauf zurückgeführt werden, dass Mädchen schulische Anstrengung mehr wertschätzen; für Mathematiknoten zeigt sich hingegen kein Mediationseffekt.
Hintergrund: Die Studie greift ein für Schule und Administration eher randständiges Forschungsdesiderat auf. Es wird untersucht, inwieweit die Wertschätzung schulischer Anstrengung die besseren Schulleistungen von Mädchen erklären kann. Zugleich soll eruiert werden, ob die Wertschätzung schulischer Anstrengung für das Erreichen besserer Noten im Fach Deutsch dienlicher ist als im Fach Mathematik. Die Autorinnen diskutieren die Relevanz der Fragestellungen vor dem Hintergrund der besseren Abschlüsse von Mädchen, den besseren Deutschnoten von Mädchen sowie den nicht eindeutigen Befunden bei Jungen in Mathematik.
Kessels und Heyder nehmen verschiedene Diskursbezüge vor, die der Stringenz des Vorhabens moderat gerecht werden. Diskutiert werden u. a. Konzeptualisierungen von akademischer Anstrengung und die Bedeutsamkeit von Anstrengung für akademische Leistungen. In einem weiteren Kapitel werden zudem Geschlechtsunterschiede, die schulische Anstrengung betreffen, sowie fachspezifische Zusammenhänge von Anstrengung und Noten erörtert. Der ausführlich dargestellte Forschungsstand macht die von Kessels und Heyder entwickelten Hypothesen nachvollziehbar.
Design: Die Instrumente werden ausführlich beschrieben. Die Stichprobenauswahl ist im Hinblick auf das Forschungsvorhaben zwar nachvollziehbar, die Aussagekraft ist jedoch durch die Querschnittsstudie eingeschränkt. Das Datenmaterial stammt lediglich von Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe von vier Gymnasien einer deutschen Großstadt. Die Gymnasien zeichnen sich durch keinen fachspezifischen Schwerpunkt aus. Andere Schulformen werden nicht berücksichtigt. Die Datenaufbereitung wird angemessen dargestellt.
Ergebnisse: Die Ergebnisse lassen erkennen, dass die höhere Wertschätzung schulischer Anstrengung die besseren Deutschnoten von Mädchen teilweise erklären kann. In der untersuchten Stichprobe unterscheiden sich die Mathematiknoten von Mädchen und Jungen nicht und es besteht in diesem Fach kein Zusammenhang mit der Wertschätzung schulischer Anstrengung. Die Autorinnen vermuten, dass bei Jungen Gruppennormen, die schulische Anstrengung abwerten, zu Grunde liegen könnten.
Die bereits von Kessels & Steinmayr (2013) gezogene Schlussfolgerung, dass Wertschätzung von schulischer Anstrengung nur mit Deutschnoten, nicht aber mit Mathematiknoten zusammenhängt, erfährt durch den vorliegenden Beitrag keine wesentliche Bereicherung, denn die These, dass sich schulische Anstrengung für das Fach Mathematik nicht lohnt, wird nicht differenzierter beleuchtet. Kessels und Heyder schränken ein, dass Untersuchungen zu Geschlechtsunterschieden in Bezug auf Noten dann von besonderer Aussagekraft sind, wenn Kompetenzen und kognitive Fähigkeiten kontrolliert werden, was in der vorliegenden Untersuchung nicht erfolgt ist. Die Aussagekraft der Studie wird insbesondere auch dadurch eingeschränkt, dass die Forscherinnen eine Jahrgangsstufe gewählt haben, in denen an allen Schulformen keine Abschlussprüfungen erfolgen. Die Beschränkung auf eine Schulform ohne besondere Merkmalsausprägungen lässt keine verallgemeinerbaren Aussagen zu. Wertvorstellungen und Normen, die durch einen höheren sozioökonomischen Status bedingt sind, bleiben unberücksichtigt. Die von den Autorinnen vermutete unterschiedliche Notenvergabepraxis in Deutsch und Mathematik erscheint an dieser Stelle spekulativ.
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