Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Maué, E. (2017). Emotionale Kosten des Zentralabiturs? Die Implementation zentraler Abiturprüfungen und deren potentielle Auswirkungen auf die Erfolgsunsicherheit im Abitur und die Angst vor Misserfolg von Schülerinnen und Schülern. Zeitschrift für Pädagogik, 63(6), 803–826.FIS BildungAm Beispiel von Bremen untersucht Elisabeth Maué, inwiefern der Übergang vom dezentralen zum zentralen Abitur mit Veränderungen von Misserfolgsängsten und Erfolgsunsicherheit bei den Prüflingen einhergeht.
Die Datenerhebung erfolgte anhand von Fragebögen, mit denen die Einschätzung unterrichtlicher und schulischer Gegebenheiten sowie das Ausmaß an Erfolgsunsicherheit und Angst vor Misserfolg von insgesamt 2.885 Schülerinnen und Schülern aus allen 19 Bremer Schulen mit gymnasialer Oberstufe erfasst wurde, und zwar in Jahren ohne (2007) und mit (2008, 2011) zentralen Leistungskursprüfungen im Abitur. Zusätzlich gingen Noten des Halbjahres 13/1 in die Untersuchung ein. Die Auswertung erfolgte deskriptiv sowie mit Strukturgleichungsmodellen.
Die Emotionen erweisen sich im Zeitraum vor und nach der Einführung zentraler Leistungskursprüfungen als stabil, lediglich im Jahr der Umstellung selbst ist ein geringer Anstieg der Erfolgsunsicherheit statistisch signifikant nachweisbar. Wenn Prüflinge den Unterricht als kompetenzunterstützend und als gute Vorbereitung auf das Abitur wahrnehmen, sind die negativen Emotionen schwächer ausgeprägt. Aus dieser – durchaus erwartbaren – Erkenntnis leitet die Autorin ab, dass Kompetenzunterstützung und gute Vorbereitung auf die Prüfung bei künftigen Reformen als Ansatzpunkte für weitere, aber von der Autorin nicht näher konkretisierte unterrichtspraktische Entwicklungen dienen können.
Durch die Untersuchung der Auswirkungen einer administrativ eingeleiteten Änderung der schulischen Abläufe auf die Emotionen der Schülerinnen und Schüler unter Einbeziehung der Wahrnehmung von Unterricht und einer Differenzierung nach Leistungsniveaus der Prüflinge erweist sich die Studie als innovativ. Die – zumindest langfristig festzustellende – Stabilität der Emotionen ist ein ebenso wichtiges Ergebnis wie die Bedeutung von Kompetenzunterstützung und Prüfungsvorbereitung im Unterricht.
Einige methodische Schwachpunkte stellen die (Allgemein-)Gültigkeit der Befunde allerdings in Frage (u. a. unkommentierte widersprüchliche Befunde zwischen deskriptiver Statistik und Strukturgleichungsmodellen, Annahme unidirektionaler Wirkzusammenhänge, geringe Rücklaufquote der Fragebögen, fehlende Festlegung auf ein Signifikanzniveau, mäßige Modell-Fit-Indizes). Auch hätte die Autorin die untersuchten Emotionen definitorisch nachvollziehbarer fassen können, und es bleibt unklar, ob der Übergang vom dezentralen zum zentralen Abitur in der Wahrnehmung der Prüflinge selbst überhaupt ein Problem darstellt, auf das sie mit bedeutsamen Emotionen reagieren.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen einer Lehrkraft:
Die Autorin der Studie betont die große Bedeutung von Emotionen im schulischen Kontext und verweist diesbezüglich auf die große Anzahl von Untersuchungen. Wenig bekannt sei bislang jedoch, ob und inwiefern administrative Veränderungen der Rahmenbedingungen von Schule und Unterricht Auswirkungen auf das emotionale Befinden der Schülerinnen und Schüler haben.
Eine solche administrative Veränderung stellt der Übergang von der dezentralen zur zentralen Abiturprüfung dar. Er betrifft zudem eine Prüfung, welche für den zukünftigen beruflichen Werdegang der Schülerinnen und Schüler mutmaßlich von großer Bedeutung ist.
In Bremen, das in der Studie von Maué untersucht wird, wurden im Zeitraum 2007 bis 2008 die Abiturprüfungen im Leistungskursbereich von einem dezentralen auf ein weitgehend zentrales Verfahren umgestellt: Anstelle der Fachlehrkräfte entwickeln externe Kommissionen in allen Grundkursen und den meisten Leistungskursen sowohl die Aufgaben als auch Korrekturkriterien. Da die Lehrkräfte nun die Schülerinnen und Schüler auf eine Prüfung vorbereiten müssen, deren genauen Inhalt sie nicht mehr kennen, sind zudem Änderungen der Unterrichtsgestaltung zu erwarten.
Ältere Forschungen zeigten, dass zentrale Prüfungen mit größerer Angst, Unsicherheit und größerem Leistungsdruck verbunden sind. Die bisherigen Untersuchungen in Leistungskursen von Bremen im Rahmen der Einführung des Zentralabiturs belegen eine gestiegene Erfolgsunsicherheit für den Zeitraum 2007 – 2009, die sich aber reduzierte, wenn die Prüflinge den Eindruck hatten, durch den Unterricht gut vorbereitet zu sein. Allerdings ist für diesen Zeitraum für das Fach Mathematik keine Veränderung des Niveaus der Erfolgsunsicherheit und der Angst vor Misserfolgen zu erkennen.
Auf dieser Basis leitet die Autorin drei Forschungsschwerpunkte ab:
Die Autorin entnimmt ihre Daten einer Studie von Maag Merki (2012) zu den Auswirkungen der Einführung zentraler Abiturprüfungen in Bremen und Hessen. Da die Bremer Daten den Vergleich dezentraler und zentraler Prüfungen zulassen, liegen diese ihrer Studie zugrunde. Die Bremer Studie erfasst alle 19 Schulen mit gymnasialer Oberstufe. Ausgewählt wurden Angaben zu den Prüfungen 2007 (dezentrale Abiturprüfung in den Leistungskursen), 2008 und 2011 (zentrales Abitur). Durch die Verwendung zweier zentraler Abiturprüfungen ist es möglich, sowohl kurzfristige als auch längerfristige Folgen der Einführung zentraler Prüfungen zu erfassen.
In jeder Schule füllten am Ende des Halbjahres 13/1 jeweils die Lernenden eines Grund- und Leistungskurses der Fächer Mathematik und Englisch standardisierte Fragebögen für jedes ihrer drei schriftlichen Prüfungsfächer aus. Mit ihnen wurden anhand von 3 bis 9 Items
mittels 4- bis 5-teiliger Skalen (von trifft gar nicht zu / negativ bis trifft genau zu / positiv) erfasst.
Die Faktoren Lernumgebung, Leistungserwartung, Schulklima wurden damit ausschließlich aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler und nicht anhand „objektiver“ Kriterien erfasst.
Die Leistungsstärke der Schülerinnen und Schüler ergibt sich aus der Notenpunktzahl (0 bis 15) im Leistungskurs. Hierauf beruht die Zuordnung der Lernenden zum starken (= oberes Quartil), geringen (unteres Quartil) oder mittleren Leistungsniveau (die übrigen Schüler).
Während die Gesamtstichprobe 4.451 betrug, lagen in 4.359 Fällen die Halbjahresnoten vor, 2.885 Schülerinnen oder Schülern haben die Fragebögen bearbeitet. Da die Schülerinnen und Schüler jeweils 2 Leistungskurse belegt haben, von denen nicht alle, jedoch die meisten von den Umstellungen zum Zentralabitur betroffen waren, gehen von der Mehrzahl der Schüler und Schülerinnen 2 Fragebögen in die Statistik ein. Dies erklärt, warum die Gesamtstichprobe wesentlich größer ist als die Zahl der erfassten Schülerinnen und Schüler.
Es kommen v. a. Verfahren der deskriptiven Statistik zum Einsatz, so die Ermittlung von Mittelwerten, Standardwerten und Standardabweichungen. Jahresvergleiche (2007 vs. 2008, 2007 vs. 2011) werden auf Signifikanz überprüft, um kurzfristige und längerfristige Folgen der Einführung des Zentralabiturs abschätzen zu können. Allerdings verfährt die Autorin dabei nicht einheitlich, sondern verwendet unterschiedliche Signifikanzniveaus (p < 0,05; p < 0,01). In Tabelle 5 werden sogar Werte mit p < 0,10 als signifikant angesehen, was nicht mit üblichen Konventionen in Einklang steht.
Abschließend ermittelt die Autorin anhand eines Strukturgleichungsmodells, inwiefern die Einschätzung der Eigenschaften des Unterrichts durch die Schülerinnen und Schüler, die Halbjahresnote und das Schulklima Auswirkungen auf Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst haben und ob diese Auswirkungen kurzfristig (2008) oder langfristig (2011) wirken. Auch dieses Modell wird einmal für die Probengesamtheit und einmal für die unterschiedlich leistungsstarken Gruppen gerechnet.
Für das Strukturgleichungsmodell beschränkt die Autorin den Begriff der Erfolgsunsicherheit, indem sie nur noch 3 von 5 in den Fragebögen enthaltene Items berücksichtigt. Hierbei geht sie nicht ganz nachvollziehbar vor: einerseits begründet sie den Ausschluss zweier Items aufgrund statistisch ermittelter Nebenladungen. Andererseits hat sie im Rahmen der deskriptiven statistischen Untersuchungen mit allen 5 Items gerechnet. Durch diese unterschiedlichen Vorgehensweisen verliert die Erfolgsunsicherheit an begrifflicher Schärfe, so dass die Ergebnisse von deskriptiver Statistik und Strukturgleichungsmodell kaum noch vergleichbar sind. Dadurch können sich Befunde beider statistischer Verfahren grundlegend widersprechen – wie das beim Vergleich der Ergebnisse für 2007 und 2008 für die drei obersten Leistungsquartile auch geschieht. Damit werden aber die Ergebnisse letztlich beliebig. Das gilt umso mehr, als dass nicht konkret benannt wird, welche Items beim Strukturgleichungsmodell weggelassen wurden (und welche verblieben). Dadurch wird dem Leser nicht klar, welche inhaltlichen Aspekte des Konstruktes Erfolgsunsicherheit sich veränderten.
Legt man die Gesamtstichprobe zugrunde, so ergibt sich für den Vergleich der Jahre 2007 und 2008: die Erfolgsunsicherheit nimmt zu, bei der Angst vor Misserfolg zeigt sich kein nachweisbarer Unterschied. Die Schülerinnen und Schüler nahmen 2008 eine stärkere Kompetenzunterstützung, eine höhere Motivierungsfähigkeit und eine höhere Leistungserwartung der Lehrkräfte wahr. Für die hier (und im Folgenden) nicht besprochenen Faktoren lassen sich jeweils keine signifikanten Beziehungen erkennen.
Der Vergleich der Jahre 2007 und 2011 zeigt: Signifikante Unterschiede hinsichtlich Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst sind nicht feststellbar. Im Jahre 2011 wurden die Vorbereitung im Unterricht, die Autonomie- und Kompetenzunterstützung sowie die Motivationsfähigkeit positiver bewertet. Die Autorin merkt an, dass die Differenzen zwischen den Jahren bei der Gesamtstichprobe nur gering ausfallen.
Bei der Filterung nach unterschiedlich leistungsstarken Gruppen ergibt sich für die Schülerinnen und Schüler mit der schwächsten Leistung: Weder beim Vergleich der Jahre 2007 mit 2008 noch beim Vergleich mit 2011 sind signifikante Unterschiede im Hinblick auf Erfolgsunsicherheit oder Angst vor Misserfolg zu erkennen. Für das Jahr 2008 werden eine bessere Kompetenzunterstützung und höhere Leistungserwartungen als zuvor wahrgenommen, die Werte des Jahres 2011 zeigen ein höheres Ausmaß von Vorbereitung im Unterricht und verstärkte Kompetenzunterstützung.
Bei den Schülerinnen und Schülern mittlerer Leistungsstärke wird 2008 eine größere Erfolgsunsicherheit festgestellt (für 2011 ist dies nicht nachweisbar). Bei der Misserfolgsangst gibt es keine signifikanten Befunde. Die Daten des Jahres 2011 legen eine verbesserte Vorbereitung im Unterricht und eine bessere Kompetenzunterstützung nahe.
Auch bei den leistungsstärksten Schülerinnen und Schülern besteht 2008 eine erhöhte Erfolgsunsicherheit (2011 nicht nachweisbar), hinsichtlich der Misserfolgsangst sind die Ergebnisse nicht signifikant. 2008 sind die verbesserte Vorbereitung im Unterricht, eine verstärkte Kompetenzunterstützung und bessere Motivation, aber auch erhöhte Leistungserwartungen feststellbar; 2011 werden eine bessere Vorbereitung im Unterricht, verstärkte Autonomie- und Kompetenzunterstützung sowie Motivationsfähigkeit erkennbar.
Auffällig ist, dass die Unterschiede zwischen den Jahren in den unterschiedlichen Leistungsgruppen stärker erkennbar sind als in der Gesamtstichprobe.
Die Anwendung des Strukturgleichungsmodells ergibt für die Erfolgsunsicherheit, dass sich diese nur kurzfristig, nicht aber langfristig ändert. Die Untersuchung verdeutlicht, dass die Erfolgsunsicherheit sowohl bei kurzfristiger als auch langfristiger Betrachtung geringer ausfällt, wenn sich die Prüflinge durch den Unterricht gut vorbereitet und im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung unterstützt fühlen. Andererseits korrelieren hohe Leistungserwartungen der Lehrperson negativ mit der Erfolgsunsicherheit, für Autonomieunterstützung und Motivierungsfähigkeit ergeben sich keine signifikanten Befunde.
Hinsichtlich der Misserfolgsangst sind die ermittelten Werte kurz- und langfristig stabil. Angst ist geringer beim Gefühl einer guten Vorbereitung im Unterricht, bei Kompetenzunterstützung, einem positiven Schulklima und einer guten Halbjahresnote, während hohe Leistungserwartungen der Lehrperson, Autonomieunterstützung und Motivierungsfähigkeit in negativem Zusammenhang stehen.
Eine Differenzierung des Modells im Hinblick auf die Leistungsstärke zeigt für die leistungsschwachen Prüflinge keine Änderung in der Erfolgsunsicherheit zwischen 2007 und 2008, sie steigt aber 2011 an, die Misserfolgsangst nimmt 2008 zu, um 2011 wieder auf das Niveau von 2007 zu sinken. Prüflinge des mittleren Leistungsniveaus hatten 2008 weniger Erfolgsunsicherheit als 2007, während zwischen 2007 und 2011 keine Differenz festzustellen ist. Die Misserfolgsangst zeigt keine zeitliche Veränderung. Die leistungsstarken Prüflinge wiederum hatten 2008 eine größere Erfolgsunsicherheit als 2007, 2011 jedoch eine geringere. Die Angst vor Misserfolg steigt tendenziell zwischen 2007 und 2011 an. Auffällig – und von der Autorin nicht näher erläutert – ist, dass die Befunde des Strukturgleichungsmodells im Hinblick auf die für unterschiedliche Leistungsniveaus ermittelten Emotionen sich mehrfach von den Ergebnissen der deskriptiven Statistik unterscheiden.
Für die Variablen, die Einfluss auf die Emotionen haben können, bestehen zwischen dem Gesamtmodell und dem nach Leistungsgruppen differenzierten Varianten geringe Unterschiede: Hinsichtlich des Schulklimas ist z. B. bei der mittleren und der leistungsstarken Gruppe eine (teilweise) reduzierende Wirkung auf die Erfolgsunsicherheit festzustellen. Bei der Misserfolgsangst werden für die Leistungsniveaus zwar größere Unterschiede von der Autorin erwähnt, aber nur anhand der Steigerung der Angst im Fall der Autonomieunterstützung bei der mittleren Leistungsgruppe konkretisiert.
Forschungsschwerpunkt I: Die Autorin folgert auf der Basis ihrer Berechnungen, dass die Hypothese einer kurzfristigen Verstärkung und langfristigen Reduktion von Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst nicht zutreffend sei. Auch sei die in der Forschungsliteratur für die zentralen Prüfungen der Sekundarstufe I festgestellte Verstärkung negativer Emotionen nicht auf die zentrale Abiturprüfung übertragbar. Allerdings könnte der 2007 bereits in den Grundkursen laufende Übergangsprozess zum Zentralabitur (die Leistungskurse folgten erst 2008) bereits einen Einfluss auf die in diesem Jahr festgestellten Werte von Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst gehabt haben.
Forschungsschwerpunkt II: Das Ergebnis, dass die Erfahrung einer guten Vorbereitung im Unterricht, einer Kompetenzunterstützung und eine gute Halbjahresnote Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst verringern, während hohe Leistungserwartungen und Angst vor Misserfolg sowie Motivierungsfähigkeit und Autonomieunterstützung sie erhöhen, deckt sich teilweise mit bereits bestehenden Forschungsbefunden. Die Autorin gibt in diesem Zusammenhang allerdings zu bedenken, dass Abschlussprüfungen für die Schülerinnen und Schüler generell eine so große Bedeutung haben, dass deren dezentrale oder zentrale Organisation zu einer nachrangigen Frage für die Herausbildung von Emotionen werden könnte. Zudem könnten die Lehrpersonen auf die Einrichtung der zentralen Abiturprüfung mit einer verbesserten Unterrichtsgestaltung reagieren und anhand der im Lauf der Jahre zunehmenden Informationen zum Zentralabitur und dementsprechender Materialien die Schülerinnen und Schüler gezielter auf die Prüfung vorbereiten.
Forschungsschwerpunkt III: Zwar treten bei den leistungsschwächeren Schülerinnen und Schülern in allen untersuchten Jahren ungünstige Einschätzungen der schulischen und unterrichtlichen Dimensionen in Verbindung mit hoher Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst auf, doch kommen diese Emotionen abgeschwächt auch bei den Prüflingen der anderen Leistungsgruppen vor. Die Autorin postuliert zwar, dass die von ihr zunächst präferierte Hypothese einer längerfristigen ungünstigen Entwicklung der Emotionen beim leistungsschwachen Quartil der Prüflinge nur hinsichtlich der Erfolgsunsicherheit zu erkennen sei. Dieser Befund ist aber nach den von ihr präsentierten Zahlen nicht signifikant nachweisbar. Im Hinblick auf die Wirkung von unterrichtlichen und schulischen Merkmalen auf die Ausbildung von Emotionen ist – neben den bereits oben mitgeteilten Befunden – festzuhalten, dass Autonomieerleben im Gegensatz zum bestehenden Forschungsstand keine positiven emotionalen Auswirkungen erkennen lässt.
Die Autorin äußert selbst Einwände bezüglich ihrer Untersuchung und entwirft Forschungsperspektiven. So empfindet sie den Zeitraum und den Untersuchungsausschnitt angesichts des komplexen Gefüges von Emotionen, anderen Dimensionen und des Kontextes als möglicherweise zu eng begrenzt. Die Übertragbarkeit auf Grundkurse und andere Bundesländer müsse einstweilen offen bleiben. Auch regt sie die Einbeziehung persönlicher Merkmale, Motivationen, Attributionen, Selbstkonzepte und Emotionen anderer Akteure in die Untersuchungen an. Weiterhin könnte die Wirkung von Emotionen auf das Abschneiden im Abitur untersucht werden.
Als wesentliche Ergebnisse hebt sie hervor, dass die Annahme, die Einrichtung des Zentralabiturs sei nur um den Preis erhöhten Drucks und Stresses zu haben, nicht bestätigt werden könne und dass negative Emotionen sich verringern, wenn bei den Prüflingen der Eindruck entsteht, durch kompetenzunterstützenden Unterricht gut auf das Abitur vorbereitet worden zu sein. Hier bestehe eine Ressource – sowohl für den alltäglichen Unterricht als auch im Fall künftiger schulischer Reformen.
Der unzweifelhafte Wert der Studie liegt darin, die große Bedeutung von Emotionen im schulischen Geschehen mit dessen administrativ verursachten Veränderungen (hier in Bezug auf das Prüfungsgeschehen) zusammenzubringen. Da es sich um eine für die weitere berufliche Entwicklung (und damit langfristig für das Leben des Prüflings) bedeutsame Prüfung handelt, erscheint auch der Ansatz richtig, die Schülerschaft nicht als erratischen Block zu behandeln, sondern unterschiedlich leistungsstarke Gruppen getrennt zu betrachten. Da es um Emotionen – und damit um etwas vollkommen Subjektives – geht, ist es zudem sinnvoll, schulische und unterrichtliche Faktoren ebenfalls in ihrer subjektiven Bewertung durch die Schülerinnen und Schüler zu erfassen und mit der Herausbildung von Emotionen in Beziehung zu setzen.
Auch fällt auf, dass die Autorin zwar zu Beginn Ihrer Studie einen – inhaltlich gelegentlich sprunghaften – Überblick über die Forschungslage zur Bedeutung von Emotionen in Bezug auf Prüfungssituationen zu geben versucht, dass sie aber ihre eigenen Forschungsergebnisse hierzu kaum in Beziehung setzt.
Kritisch ist die statistische Vorgehensweise zu bewerten: Auf den stellenweise (zu) liberalen Umgang der Autorin mit statistischen Konventionen wurde im Methodenteil bereits am Beispiel der Signifikanzniveaus hingewiesen. Er setzt sich auch beim Strukturgleichungsmodell fort, wenn etwa bei der Betrachtung der unterschiedlichen Leistungsniveaus von einem sehr guten Modellfit gesprochen wird, obwohl z. T. sowohl beim CFI als auch dem TLI Werte von < 0,95 auftreten. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rücklaufquoten der Fragebögen hinzuweisen, die lediglich zwischen 51 % und 74 % liegen; ausgerechnet der einzige untersuchte Jahrgang mit noch nicht zentral gestalteten Leistungskursprüfungen (2007) weist den niedrigsten Wert auf. Das wirft Fragen nach der Repräsentativität der Befunde auf.
Bei den Ergebnissen ist gerade deren geringe Signifikanz das Entscheidende: offenbar ist die Auswirkung der Umstellung vom dezentralen zum zentralen Abitur auf die Gefühle Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst zumindest in der langfristigen Entwicklung zu vernachlässigen, lediglich bei der Erfolgsunsicherheit gibt es in der kurzfristigen Betrachtung einen schwachen Effekt (der auch nur bei den Prüflingen mit guten und mittleren Leistungen statistisch signifikant belegbar ist). Aus dem berechneten Strukturgleichungsmodell ergibt sich schließlich, dass der Eindruck der Schülerinnen und Schüler, gut auf das Abitur vorbereitet worden zu sein und Kompetenzunterstützung erfahren zu haben, der Erfolgsunsicherheit und Misserfolgsangst entgegenwirkt – ein Ergebnis, das schulische Praktiker allerdings wenig überraschen dürfte.
Zu Recht sieht die Autorin darin eine Ressource schulischer Arbeit – auch und gerade in Reformsituationen. Jedoch bleibt sie hinsichtlich einer möglichen Ausgestaltung dieser Ressource – etwa im Rahmen eines von ihr ins Spiel gebrachten Emotionsmanagements bezogen auf die Leistungsgruppen – äußerst vage, was die Praxisrelevanz ihrer Arbeit einschränkt.
Die Studie weist weitere problematische Punkte auf: So wäre es wünschenswert gewesen, einige häufig verwendete zentrale Grundbegriffe detaillierter zu erläutern. Was genau meint die Autorin z. B., wenn sie von „Erfolgsunsicherheit im Abitur“ oder „Angst vor Misserfolg“ spricht? Zur Klärung hätte es schon wesentlich beigetragen, wenn sie – statt wie in Tabelle 1 nur Beispielitems anzugeben – die entsprechenden Items vollständig aufgelistet hätte. Auf die problematischen begrifflichen Änderungen des Begriffs der Erfolgsunsicherheit beim Übergang von der deskriptiven Statistik zum Strukturgleichungsmodell wurde bereits im Methodenteil verwiesen. Inwiefern sich dadurch die z. T. eklatanten Unterschiede der Befunde des Strukturgleichungsmodells gegenüber denjenigen der deskriptiven Statistik ergeben, wird von der Autorin nicht geklärt. Damit bewegt sich ein Teil der Befunde am Rande der Beliebigkeit.
Auch in Bezug auf andere Zusammenhänge hätte sich eine detaillierte Wiedergabe der abgefragten Items gelohnt: So fallen unterschiedliche Bewertungen von Unterrichtsgestaltung, Schulklima und den Leistungserwartungen der Lehrkraft auf, je nachdem, ob leistungsstarke oder -schwache Schülerinnen und Schüler befragt wurden. Da die Items nicht wiedergegeben werden, fällt es schwer zu rekonstruieren, ob hier möglicherweise keine unidirektionalen Ursache-Wirkungs-Beziehungen vorliegen. Das könnte z. B. unmittelbare Konsequenzen für das von der Autorin angeregte Emotionsmanagement je nach Leistungsgruppe haben.
Auch wäre der Versuch sinnvoll gewesen zu erfassen, ob der Übergang von einer dezentralen zu einer zentralen Prüfung von den Schülerinnen und Schülern überhaupt als so bedeutendes Problem wahrgenommen wird, dass es von ihnen mit einer emotionalen Reaktion beantwortet werden müsste. Hierfür hätte der zugrundeliegende Fragebogen ein Item wie z. B. „Es ist mir gleichgültig, ob mein Fachlehrer oder eine externe Kommission die Prüfungsaufgaben entwickelt.“ zur Bewertung durch die Schülerinnen und Schüler enthalten können.
Die Autorin hätte zudem stärker problematisieren können, dass im Jahre 2007, aus dem die ersten Datensätze vorliegen, die Umstellung zum Zentralabitur in Bremen bereits insofern angelaufen war, als dass bei den Grundkursen bereits zentrale Prüfungen erfolgten, während die meisten Leistungskurse erst 2008 nachzogen. Das bedeutet, dass zum Zeitpunkt der ersten Datensätze bereits wesentliche Strukturen des Zentralabiturs im Bereich der Grundkurse bestanden, wodurch vielleicht Aspekte, welche die Schüler hätten verunsichern können (z. B. erwartetes Leistungsniveau, Verfahrensabläufe), bereits in Grundzügen geklärt waren. Der Vergleich der Zahlen von 2007 mit 2008 oder 2011 erfasst also nicht die Zustände „dezentrales Abitur“ vs. „Zentralabitur“ in Reinkultur, sondern „Umbauphase eines dezentralen Abiturs“ vs. „Zentralabitur“.
Aus dem Gesagten ergibt sich letztlich der kaum befriedigende Eindruck, dass eine durchaus relevante Fragestellung auf eine teilweise fragwürdige methodische Weise angegangen wurde, so dass die Befunde nicht ohne starke Vorbehalte akzeptiert werden können.
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