Fragestellungen der Studie:

  • Mädchen sind besser in Sprachen und Jungen in Mathematik - gilt das unabhängig vom sozioökonomischen Status?

Rezension zur Studie

Lühe, J., Becker, M., Neumann, M. & Maaz, K. (2016). Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in Abhängigkeit der sozialen Herkunft. Eine Untersuchung zur Interaktion zweier sozialer Kategorien. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 20(3), 499–519.FIS Bildung

Es liegen empirische Befunde für Deutschland vor, dass Mädchen in einigen sprachlichen Domänen und Jungen bei mathematischen Anforderungen im Durchschnitt bessere Leistungen erbringen. Lühe et al. untersuchen, ob diese Zusammenhänge zwischen Geschlecht und schulischen Leistungen in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status (SES) der Schülerinnen und Schüler unterschiedlich ausfallen.

Die Stichprobe umfasste n = 3.935 Schülerinnen und Schüler der 6. Jahrgangsstufe von 87 zufällig ausgewählten Berliner Grundschulen. Die Schülerinnen und Schüler bearbeiteten standardisierte Leistungstests in den geschlechtlich konnotierten Domänen Leseverständnis, Mathematik und Englisch.

Regressionsanalysen bestätigen für die drei untersuchten Bereiche, dass geschlechtsbezogene Leistungsunterschiede in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status variieren, wobei dies für Jungen stärker gilt als für Mädchen: Mit steigendem SES hebt sich die durchschnittliche Leistung der Jungen in Mathematik deutlicher von der Leistung der Mädchen ab, während die Leistungsrückstände bei der Leseleistung und in Englisch geringer werden. Bei niedrigerem SES weisen die Jungen hingegen tendenziell größere Leistungsrückstände im Lesen und in Englisch im Vergleich zu Mädchen mit ähnlichem SES auf.

Verallgemeinernde Aussagen über die Leistungen der Mädchen oder der Jungen müssen somit eine wesentliche Spezifizierung erfahren. Deutlich wird, dass die Berücksichtigung der sozialen Herkunft bei der Interpretation geschlechtsspezifischer schulischer Leistungen unumgänglich ist.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen einer Lehrkraft:

  • Inwieweit können Sie für Ihre Klassen die ermittelten Unterschiede in den fächerspezifischen Schulleistungen bestätigen?
  • Inwieweit passt der Befund, dass geschlechtsbezogene Unterschiede in den fächerspezifischen Schulleistungen in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status variieren, zu Ihren Erfahrungen?
  • Welche Unterrichtsmethoden/Unterrichtskonzepte können dazu beitragen, Leistungsunterschiede, die aufgrund von sozialer Herkunft zustande kommen, zu reduzieren, z. B. schwache Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit niedrigem sozialen Status in sprachlichen Domänen?
  • Wie könnten die Ergebnisse der Studie in Förderprogramme integriert werden?

Reflexionsfragen einer Schulleitung:

  • Inwieweit ist es zweckmäßig, multiple Gruppenzugehörigkeiten bzw. den sozioökonomischen Status (SES) bei der Konzeption von Förderprogrammen zu berücksichtigen?
  • Inwiefern kann bei der Evaluation von Schulnoten oder Leistungsunterschieden der SES eine Rolle spielen.
  • Welche Kompetenzen sollten im Rahmen von Förderprogrammen sowie im Unterricht gefördert werden, um Geschlechterrollenvorstellungen oder Männlichkeitsentwürfe lernförderlich zu verändern?

Verschiedene Veröffentlichungen der letzten Jahre lassen Jungen als „neue Bildungsverlierer“ erscheinen. Eine untergeordnete Rolle spielt in dieser Debatte der Einfluss, den die mögliche Interaktion zwischen Geschlecht und sozialer Herkunft auf die Lern- und Bildungsergebnisse haben könnte. Lühe et al. greifen diesen Forschungsstand in der Einleitung auf und geben zu bedenken, dass Mädchen und Jungen nicht als zwei homogene soziale Gruppen angesehen werden können. Theoretische Ansätze zur Erklärung von Leistungsdisparitäten favorisieren jedoch größtenteils entweder das Geschlecht oder die soziale Herkunft. Das Wissen über geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in Abhängigkeit der sozialen Herkunft ist daher nur in eingeschränktem Maß gegeben.

Die Autorin und die Autoren stellen theoretische Ansätze und empirische Befunde vor und merken an, dass die vorliegenden Forschungsarbeiten, die sich mit der Interaktion zwischen Geschlecht und sozioökonomischem Status (SES) befassen, hinsichtlich ihrer Operationalisierung sehr unterschiedlich seien. Während bisherige Untersuchungen zu Deutsch- und Leseleistungen eine Tendenz zugunsten der Mädchen andeuteten, seien für Mathematik und fremdsprachliche Kompetenzen keine eindeutigen geschlechtsspezifischen Unterschiede auszumachen. Hinsichtlich der Befunde zur Interaktion zwischen Geschlecht und SES verweist das Autorenteam auf die Untersuchungen von Legewie und DiPrete (2012) sowie der OECD (2015). Während nach OECD-Berechnungen keine Signifikanz bezüglich der Mathematikleistung gegeben ist, lässt die Leseleistung für den OECD-Durchschnitt eine signifikante Interaktion zwischen Geschlecht und SES erkennen. Legewie und DiPrete können diese für Berliner Grundschulkinder nicht bestätigen. Nach Lühe et al. liegen für den Bereich der Fremdsprachen keine Untersuchungen vor, die den Zusammenhang zwischen schulischer Leistung, SES und Geschlecht zum Gegenstand haben.

Den gegebenen Forschungsstand zugrunde legend, werden folgende Forschungsfragen abgeleitet:

  1. Bestehen bei Schulleistungen Interaktionseffekte zwischen dem Geschlecht und der sozialen Herkunft in Form des sozioökonomischen Status (SES)?
  2. Wie fallen die Interaktionseffekte in den geschlechtlich konnotierten Domänen (Leseverständnis, Mathematik, Englisch) aus?

Lühe et al. erwarten für die Domänen Leseverständnis und Englisch Leistungsvorteile bei Mädchen. Diese sollten bei Schülerinnen und Schülern mit niedrigerem SES größer ausfallen als bei Schülerinnen und Schülern mit hohem SES. In Mathematik erwarten sie Leistungsvorteile zugunsten der Jungen und gehen von geringeren Vorteilen bei Schülerinnen und Schülern mit niedrigerem SES aus.

Dazu stellen sie folgende Hypothesen auf:

  1. Der Effekt der Geschlechtszugehörigkeit variiert mit der sozialen Herkunft.
  2. Die Leistungen der Jungen stehen in allen Domänen (Leseverständnis, Mathematik, Englisch) in einem engeren Zusammenhang mit dem SES als die der Mädchen.

Zur Prüfung der Hypothesen nutzen Lühe et al. als Datengrundlage die BERLIN-Studie (vgl. Maaz et al. 2013). Für die Untersuchung wurden n = 87 Berliner Grundschulen per Zufall ausgewählt. Die Stichprobe umfasste Daten von n = 3.935 Berliner Grundschülerinnen und Grundschülern, die sich im Schuljahr 2010/11 am Ende der 6. Jahrgangsstufe befanden. Die Leistungstests entstammen der Studie „Erhebung zum Lese- und Mathematikverständnis: Entwicklungen in den Jahrgangsstufen 4 bis 6 in Berlin“ (ELEMENT) (Lehmann 2008).

Die standardisierten Testkonzepte weisen eine zufriedenstellende bzw. sehr gute Reliabilität auf: Leseverständnis (rWLE = 0,84), Mathematik (rWLE = 0,91), Englisch (rWLE = 0,95).

Zur Bestimmung des SES wurden die kodierten elterlichen Berufsangaben herangezogen, als zusätzliche Kontrollvariable fungierte der Migrationshintergrund.

In schrittweisen multiplen Regressionsanalysen wurden zunächst die geschlechtsspezifischen Unterschiede aufgenommen; es folgte der SES und schließlich der Migrationshintergrund. Mittels Interaktionsterm wurde der Konnex zwischen Geschlecht und SES bestimmt.

Als Haupteffekt stellt das Forscherteam fest, dass Mädchen bei der Leseleistung im Durchschnitt besser abschneiden (d = 0,12). In Mathematik werden die stärkeren Leistungen im Mittel von Jungen erbracht (d = 0,27). Den größten Leistungsvorsprung zeigen die Ergebnisse im Fach Englisch für die Mädchen (d = 0,37).

Unter Berücksichtigung des familiären SES bestätigen sich die signifikanten Geschlechtseffekte in den drei Domänen. Während Mädchen bei der Leseleistung (β = 1,5, p < 0,001) und in Englisch (β = 4,28, p < 0,001) besser abschneiden, erzielen Jungen die besseren Ergebnisse in Mathematik (β = 2,32, p < 0,001). Für beide Geschlechter zeigen sich größere Erfolge mit höherem SES, wobei die Effekte für Mathematik (β = -0,78, p < 0,05) und Englisch (β = -0,88, p < 0,05) signifikant ausfallen, marginal signifikant für die Leseleistung (β = -0,67, p < 0,1).

Grundsätzlich weist der Interaktionseffekt für Jungen mit hohem SES stärkere Abweichungen auf als für Mädchen. Hierbei heben sich mit steigendem SES die Leistungen der Jungen in Mathematik deutlicher von der Leistung der Mädchen ab, während die Leistungsrückstände bei der Leseleistung und in Englisch geringer werden. Einerseits steigen die Leistungen für Jungen mit höherem SES deutlicher an, fallen jedoch bei geringerem SES verglichen mit Mädchen auch prägnanter ab.

Bei der Einführung weiterer Variablen (Schulabschluss der Eltern, Anzahl der Bücher im Haushalt) bleiben die Ergebnisse im Wesentlichen stabil.

Hintergrund: Die Studie greift ein für Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede werden einer differenzierten Betrachtung unterzogen und ermöglichen dadurch die Entwicklung wirksamer Förderprogramme. Es wird untersucht, inwieweit Zusammenhänge zwischen Geschlecht und schulischen Leistungen in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status variieren. Das Forscherteam diskutiert die Relevanz der Fragestellung vor dem Hintergrund des vorliegenden Forschungsstandes. Insbesondere der bisher nicht eindeutig nachzuweisende Interaktionseffekt zwischen Geschlechtszugehörigkeit und sozialem Hintergrund machen die Studie konvenabel. Die theoretische Einbettung erfolgt überzeugend, so dass die Forschungsfragen sowie die aufgestellten Hypothesen nachvollziehbar werden.

Design: Die Untersuchungsstichprobe besteht aus Kindern, die sich vor dem Übergang zur weiterführenden Schule befinden. Erhoben werden Schülerleistungen im Leseverständnis, in Mathematik und in Englisch. Lühe et al. beschreiben die Instrumente ausführlich. Die Stichprobenziehung wird nachvollziehbar dargestellt und die Datenaufbereitung angemessenen erläutert. Die methodische Vorgehensweise ist dabei sachgerecht angelegt.

Kontrollvariablen werden erhoben und der Umgang mit fehlenden Werten ist bedacht. Die Verfahrensweisen erscheinen als geeignet.

Ergebnisse: Die von dem Forscherteam aufgestellten Hypothesen werden durch die Studie bestätigt. In den untersuchten Domänen Leseverständnis, Mathematik und Englisch werden im Vergleich zu Mädchen positivere Interaktionseffekte für Jungen mit hohem sozioökonomischem Status (SES) und negativere Effekte für Jungen mit niedrigem SES ermittelt. Dabei ist die Ausprägung in den Fächern unterschiedlich.

Einschränkend räumen die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler ein, dass die genutzten Daten ausschließlich in Berlin erhoben worden sind. Die großen Unterschiede im Hinblick auf den sozioökonomischen Status in einer Großstadt könnten die Interaktionseffekte beeinflussen, so dass die Aussagekraft der Studie für kleinere Städte oder den ländlichen Raum nicht in gleicher Weise gegeben ist.

Zudem wird die Grundschulzeit nicht in allen Bundesländern mit der 6. Jahrgangsstufe beendet. Das Ergebnis ist aus diesem Grund nicht uneingeschränkt auf andere Bundesländer übertragbar. Eine weitere Einschränkung erfährt die Aussagekraft der Studie dadurch, dass die Untersuchungen mit Ende der Grundschulzeit zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt erfolgten. Lühe et al. vermuten einen zunehmenden Interaktionseffekt in den Sekundarstufen.

Die Befunde lassen deutlich erkennen, dass die ausschließliche Betrachtung der Geschlechtszugehörigkeit bei Leistungsunterschieden in den geschlechtlich konnotierten Domänen unzulänglich ist. Mit Blick auf zukünftige Beratungsformate reicht es nicht aus, von den Leistungen der Jungen oder der Mädchen zu sprechen. Der wesentliche Befund des Autorenteams, dass geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede nicht als „naturgegeben“ aufzufassen sind, kann als eine über die Stichprobe hinausgehende Erkenntnis festgehalten werden. Der grundsätzlich stärkere Zusammenhang zwischen SES und Leistungen bei Jungen im Vergleich zu Mädchen kann als bedeutsame Anregung für die schulische Praxis, aber auch für bildungspolitische Maßnahmen angesehen werden. Er zeigt an, dass differenzierte Analysen, die den sozialen Hintergrund sowie die dazugehörigen Männlichkeitsentwürfe einschließen, für die Individualisierung von Förderprogrammen unerlässlich sind.

In ihrem Ausblick fordern Lühe et al., dass auch bei der Evaluation von Schulnoten den durch den SES begründeten geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden nachgegangen werden sollte. Dies ist ein wesentliches Forschungsdesiderat und als Hintergrundwissen bereichernd. Für die schulische Beratungs- und Bewertungspraxis birgt dies allerdings auch die Gefahr des Objektivitätsverlustes. Die von dem Forscherteam geforderte Integration von Geschlechterrollenvorstellungen, Männlichkeitsentwürfen oder schulischen Verhaltensweisen bei der Analyse von schulischen Leistungen erfordert diesbezüglich einen ähnlich sensiblen Umgang in der Praxis.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Jutta Kolloch, Lehrerin am Berufskolleg Ehrenfeld, Köln

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