Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Milde-Busch, A., Heinen, F., Blaschek, A., Borggräfe, I., von Kries, R. & Straube, A. (2010). Besteht ein Zusammenhang zwischen der verkürzten Gymnasialzeit und Kopfschmerzen und gesundheitlichen Belastungen bei Schülern im Jugendalter? Klinische Pädiatrie, 222(4), 255–260.In der Debatte um die Dauer der Schulzeit wird u. a. angenommen, dass die verkürzte Schulzeit negative gesundheitliche Folgen für Schülerinnen und Schüler haben könne. Die Autorinnen und Autoren untersuchen mit Hilfe einer standardisierten Befragung von 1.260 bayerischen Gymnasiasten des ersten G8- und letzten G9-Jahrgangs ihren Gesundheitszustand und ihre Lebensumstände.
Es zeigen sich zwischen den beiden Schülergruppen keine statistisch bedeutsamen Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit von Kopfschmerzen und anderen körperlichen Beschwerden. Neben den häufig berichteten Kopfschmerzen beklagen beide Gruppen vor allem Kreuz- und Rückenschmerzen, ein übermäßiges Schlafbedürfnis sowie Nacken- und Schulterschmerzen. Im Unterschied zu der G9-Gruppe verfügen die G8-Schülerinnen und Schüler über weniger Freizeit. Außerdem berichten sie, dass sie sich in ihrer Freizeit nicht ausreichend erholen können. Das subjektive Stresserleben wird von beiden Gruppen auf die Schule und das soziale Umfeld zurückgeführt.
Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse zu diesem bislang unzureichend untersuchten Aspekt im Kontext der G8/G9-Debatte. Aufgrund der Studienanlage sind die Befunde nicht verallgemeinerbar, aber – abgesehen von dem Befund zum beschränkten Zeitraum für Freizeitgestaltung – anschlussfähig an den bisherigen Forschungsstand.
Fast alle Bundesländer haben im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. In mehreren Bundesländern zeichnen sich vor dem Hintergrund anhaltender Diskussionen Tendenzen der Rück-Reform ab oder es ist bereits zur Rückkehr zum neunjährigen Bildungsgang gekommen. Unter anderem wird befürchtet, die verkürzte Schulzeit könne sich durch die Verdichtung des Lehrplans negativ auf den Gesundheitszustand der Schülerinnen und Schüler des achtjährigen gymnasialen Bildungsgangs auswirken. Befunde hierzu liegen bislang kaum vor. Der Beitrag von Milde-Busch et al. (2010) greift dieses Desiderat auf und untersucht die Häufigkeit von Kopfschmerzen und anderen Beschwerden, chronisches Stresserleben und die gesundheitsbezogene Lebensqualität von G8- und G9-Schülerinnen und Schülern in München.
In der Einleitung greifen die Autorinnen und Autoren die in der gesellschaftspolitischen Debatte insbesondere in den alten Bundesländern wiederholt geäußerte Kritik auf, dass G8-Schülerinnen und Schüler im Zuge der Schulzeitverkürzung durch die Verdichtung der Lehrpläne größeren schulischen Belastungen ausgesetzt seien, was sich negativ auf ihren Gesundheitszustand auswirken würde. Milde-Busch et al. (2010) stellen jedoch fest, dass zu diesem Diskursaspekt zum Zeitpunkt der Abfassung ihres Beitrags keine wissenschaftlichen Studien existieren. Anschließend beziehen sie sich auf den allgemeinen Forschungsstand zu gesundheitlichen Belastungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie stellen unter Bezugnahme auf verschiedene und mehrheitlich bundesweit repräsentative Studien heraus, dass ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen im Jugendalter eine hohe Schmerzprävalenz aufweist (v. a. Kopf-, Rücken- und Bauchschmerzen). Danach stellen sie das Ziel ihrer Arbeit heraus, inwiefern sich in der Prävalenz von Schmerzen sowie weiteren gesundheitsbezogenen Belastungen bedeutsame Unterschiede zwischen G8- und G9-Schülerinnen und Schülern beobachten lassen.
Stichprobe: Zur Beantwortung der o. g. Fragestellung haben die Autorinnen und Autoren Daten von 1.260 Schülerinnen und Schülern ausgewertet. Dabei handelt es sich um 651 Schülerinnen und Schüler der 10. Klassen des ersten G8-Jahrgangs und 609 Schülerinnen und Schüler der 11. Klassen des letzten G9-Jahrgangs aus 11 Münchner Gymnasien. Im Vorfeld der Studie wurde eine Poweranalyse durchgeführt, um die erforderliche Mindestzahl vollständiger Datensätze für den Nachweis signifikanter Unterschiede zwischen den beiden Gruppen ermitteln zu können. Der Wert lag bei 1.200 Schülerinnen und Schülern.
Untersuchungsablauf: Die Daten wurden mithilfe eines Fragebogens erhoben, der den Kindern und Jugendlichen im Anschluss an eine reguläre Schulstunde ausgeteilt wurde. Es wurden die Prävalenz von Kopfschmerzen, die subjektive Beeinträchtigung durch körperliche und Allgemeinbeschwerden, die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die individuell erlebten Belastungen durch Stress, die unverplante Zeit ohne feste Termine und die Einschätzung, ob diese Zeit zur Erholung ausreiche, abgefragt. Dabei kamen hauptsächlich Items und Skalen etablierter Instrumente zum Einsatz, die einen Vergleich mit klinischen Referenzgruppen zulassen.
Statistische Analysen: Die Autorinnen und Autoren benutzen für die Beantwortung ihrer Forschungsfrage neben dem Bericht deskriptiver Kennwerte Chi-Quadrat- und Cochrane-Armitage-Tests. Letzterer testet den linearen Trend bei relativen Häufigkeiten.
Es zeigt sich, dass ein hoher Anteil der befragten Schülerinnen und Schüler regelmäßig Kopfschmerzen hat und starken Stress empfindet. Die Prävalenz für Kopfschmerzen liegt bei der Stichprobe deutlich über den Schätzungen der Referenzstudien. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wird seitens der befragten Kinder und Jugendlichen negativer eingeschätzt als bei der altersentsprechenden Referenzstichprobe. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Befunde unabhängig von der Verkürzung der gymnasialen Schulzeit. Mit Blick auf die Freizeitgestaltung zeigen sich unterschiedliche Antwortmuster zwischen den G8- und G9-Schülerinnen und Schülern. Die Kinder und Jugendlichen aus dem G8-Jahrgang geben an, täglich weniger Zeit zur freien Verfügung zu haben als diejenigen aus dem G9-Jahrgang. Zudem reiche die verfügbare Freizeit nicht zur Erholung aus.
Zum Hintergrund: Die Studie von Milde-Busch et al. (2010) greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es wird die Prävalenz von Kopfschmerzen und anderen Beschwerden, chronisches Stresserleben und die gesundheitsbezogene Lebensqualität von G8- und G9-Schülerinnen in München untersucht.
Die Autorinnen und Autoren beziehen sich bei der Herausstellung der Relevanz ihrer Untersuchung auf die gesellschaftspolitische Debatte zu den Wirkungen der gymnasialen Schulzeitverkürzung auf den Gesundheitszustand der betroffenen Schülerinnen und Schüler sowie die zum Zeitpunkt der Durchführung ihrer Studie nicht vorliegende empirische Evidenz zu diesem Diskursaspekt. Anschließend referieren sie den allgemeinen Forschungsstand und leiten die Zielstellung ihrer Studie ab. Die Argumentationsweise sowie die Diskursbezüge sind stringent und überzeugend.
Zum Design: Das Studiendesign und die Durchführung werden detailliert und gut nachvollziehbar beschrieben. Dabei fällt insbesondere die im Vorfeld vorgenommene Poweranalyse positiv auf, durch welche die Identifikation etwaiger signifikanter Unterschiede zwischen den G8- und G9-Schülerinnen und Schülern durch eine Mindestzahl an vollständigen Datensätzen gewährleistet werden soll. Die Vorgehensweise bei der statistischen Datenanalyse wird angemessen berichtet. Die methodische Vorgehensweise erscheint sachgerecht angelegt und wird im Hinblick auf die Identifizierung von mit der Schulzeitverkürzung zusammenhängenden Unterschieden zu den betrachteten gesundheitsbezogenen Aspekten nachvollziehbar begründet. Die methodischen Nachteile eines Screenings im Vergleich zu den Möglichkeiten einer ärztlichen Diagnose werden von der Autorengruppe selbst diskutiert.
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Als mögliche Ursachen für die von den Referenzgruppen abweichenden Ergebnisse zur Prävalenz von Kopfschmerzen werden die Stichprobenspezifik und das abweichende Alter benannt. Auch für die hohe Prävalenz der anderen untersuchten Schmerztypen werden plausible Gründe benannt. Für die im Vergleich zur Referenzgruppe negativere Beurteilung der körperlichen Lebensqualität wird berichtet, dass durch die Erhebung in den Wintermonaten und damit häufiger einhergehende Erkältungserkrankungen an dieser Stelle eine systematische Verzerrung vorliegen könne. Der schulzeitbezogene Unterschied in der Freizeitgestaltung wird als Kompensationswirkung der hohen Anforderungen in der Schule gedeutet. Leider berichten die Autorinnen und Autoren zu diesem signifikanten Unterschied keine Effektstärke (z. B. Cramers V), sodass unklar bleibt, inwieweit dieser Unterschied als praktisch bedeutsam eingeschätzt werden kann. Eine eigenständige Berechnung einer Effektgröße für die interessierte Leserschaft ist nicht möglich, da keine tabellarische Darstellung mit absoluten und relativen Häufigkeiten, sondern geschachtelte Säulendiagramme gewählt wurden. Aus diesen sind für die einzelnen Kategorien weder die genauen absoluten noch die relativen Häufigkeiten zu entnehmen. Milde-Busch et al. (2010) diskutieren zudem, dass nicht identifizierte schulzeitbezogene Unterschiede auch damit zusammenhängen könnten, dass die G8-Schülerinnen und Schüler ein Jahr jünger seien als die Vergleichsgruppe und die Prävalenz mit zunehmendem Alter steige.
Die Autorinnen und Autoren beziehen sich weiterhin angemessen auf zentrale Limitationen der Studie: Einerseits diskutieren sie die Stichprobenspezifik (überproportional hoher Anteil von Schülerinnen und Schülern mit hohem sozialen Status aus einer Großstadt), die eine Verallgemeinerung der Ergebnisse nicht gestattet. Des Weiteren erwähnen sie mögliche Kohorteneffekte, die in ihrer Studie nicht kontrolliert werden können. Außerdem führen sie kritisch an, dass die Ergebnisse auf Selbstbeurteilungen der Kinder und Jugendlichen beruhen würden und nicht durch ärztliche Diagnosen bestätigt wurden. Abschließend sprechen die Autorinnen und Autoren die allgemeine Empfehlung einer gesunden Lebensweise für alle Schülerinnen und Schüler aus, die vor allem durch viel körperliche Aktivität, ausreichend Schlaf und Einrichtung von Freiräumen erreicht werden könne.
Kultusministerium BW
Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW
Schulentwicklung NRW
Sie haben Fragen oder Anregungen?