Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Helmke, T., Helmke, A., Schrader, F.-W., Wagner, W., Nold, G. & Schröder, K. (2008). Die Videostudie des Englischunterrichts. In E. Klieme (Hrsg.), Unterricht und Kompetenzerwerb in Deutsch und Englisch. Ergebnisse der DESI-Studie (S. 345–363). Weinheim u. a.: Beltz.FIS BildungDie DESI-Studie (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International) kann insofern als grundlegend bezeichnet werden, als erstmalig – und bislang in dieser Komplexität einzigartig – Qualitätsmerkmale des Englischunterrichts umfassend und differenziert erhoben wurden. In einem Teilprojekt untersuchen Helmke et al. mit einer Videostudie die Äußerungen der Lehrkräfte sowie der Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht, vergleichen sie mit den fragebogenbasierten Selbsteinschätzungen der Lehrkräfte und bringen sie in Zusammenhang mit dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler im Hörverstehen.
Dabei zeigt sich: Die Sprechanteile der Lehrkräfte im Englischunterricht sind – entgegen der eigenen Selbsteinschätzung – hoch. Gleichzeitig ist die Wartezeit auf die Antworten der Schülerinnen und Schüler gering. Dadurch ergeben sich – unabhängig von der Qualität der Schüleraussagen – zeitlich gesehen wenige Möglichkeiten des Sprechens für die Schülerinnen und Schüler. Es erweist sich, dass Unterricht mit einem großen Zuwachs an Hörverstehen u. a. geprägt ist durch intensive Zeitnutzung und ausgeprägte Aufgabenorientierung, Störungsfreiheit, ein positives Fehlerklima und ein hohes Schülerengagement während des Unterrichts. Besonders erfolgreiche Klassen zeichnen sich demnach dadurch aus, dass überwiegend von den Schülerinnen und Schülern und überwiegend Englisch gesprochen wird, dass längere Dialoge stattfinden, kaum Ein-Wort-Sätze geäußert werden, die Lehrkäfte auf Schülerantworten warten und die Schülerinnen und Schüler Gelegenheit erhalten, sich selbst zu korrigieren.
Es ist davon auszugehen, dass die aus den belastbaren empirischen Ergebnissen der DESI-Studie hervorgegangenen Impulse die Ausrichtung des Englischunterrichts an kommunikativen Zielen befördern.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen einer Lehrkraft:
Reflexionsfragen einer Schulleitung:
Die Kultusministerkonferenz (KMK) gab 1999 eine bundesweit repräsentative Untersuchung der sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Jahrgangsstufe 9 in den Fächern Deutsch und Englisch in Auftrag (Deutsch-Englisch-Schülerleistungen-International, DESI). In diesem Zusammenhang wurde im Fach Englisch eine Videostudie durchgeführt, um Bedingungsfaktoren guten Englischunterrichts zu analysieren.
Zentrale Ziele waren zum einen, auf der Basis belastbarer empirischer Daten Qualitätsmerkmale des Englischunterrichts zu erfassen und Erklärungsansätze für mögliche Leistungsunterschiede zu finden, und zum anderen eine Bestandsaufnahme der mündlichen Kommunikation der Schülerinnen und Schüler.
Für die Konzipierung der Videostudie und ihrer Instrumente wurden Dokumente mit Bezug zur deutschen Fachdidaktik, Darstellungen aus dem US-amerikanischen Raum zum Forschungsstand des Fremdsprachenunterrichts sowie Theorien und empirische Ergebnisse der Lehr-Lern-Forschung aufgegriffen.
Im Rahmen der Videostudie wurden in 105 Klassen Videoaufnahmen gemacht. Da diese Teilstichprobe der DESI-Gesamtstichprobe nicht repräsentativ war, wurden die Daten gewichtet, sodass die Ergebnisse als verallgemeinerbar angesehen werden. Neben der Videografie des Unterrichts wurden stundenbezogene Ratings der Unterrichtsqualität vorgenommen, die Unterrichtsphasen nach Episoden kategorisiert sowie ein Schüler- und Lehrerkurzfragebogen eingesetzt.
Pro Klasse wurden zwei Unterrichtsstunden mit jeweils zwei unterschiedlichen thematischen Zugriffen (sprachlernorientiert und interkulturell) aufgenommen. Die Auswertung der Videos erfolgte softwaregestützt (‚Videograph‘). Die Aufnahmen wurden transkribiert und lückenlos kodiert, um ein vollständiges Bild des Unterrichtsgeschehens und der Lehrer-Schüler-Interaktion zu gewinnen. Grundlage der Kodierung waren Kategorien des COLT-Verfahrens (Spada & Fröhlich, 1995), die um eigene Konstrukte ergänzt wurden. Zusätzlich wurde die Unterrichtsqualität mithilfe von Ratingbögen, wie sie ähnlich in der Classroom Environment Study (Helmke & Schrader 1993) oder bei der Grundschulstudie SCHOLASTIK (Helmke & Schrader 1997) zum Einsatz kamen, auf einer vierstufigen Skala (‚trifft nicht zu‘ bis ‚trifft zu‘) hinsichtlich folgender Aspekte beurteilt:
Die Unterrichtsphasen wurden anhand folgender Episoden kategorisiert: Lehrervortrag, lehrerzentrierte Gesprächsführung, Schülervortrag, schülerzentrierte Gesprächsführung, Lernspiel, Verwendung von audiovisuellen Materialien, Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Übergang.
Mit dem Schülerkurzfragebogen wurden Einschätzungen zur Verständlichkeit des Unterrichtsstoffs, zur Aufmerksamkeit, zur subjektiven Schwierigkeit, zur Interessantheit, zur aktiven Beteiligung am Unterricht und zur Repräsentativität des videografierten Unterrichts erhoben. Die Lehrkräfte wurden befragt zu ihrer Nervosität, zum Verhalten der Schülerinnen und Schüler (Aufmerksamkeit, Über-/Unterforderung etc.), zum eigenen Verhalten (Sprechzeit, Häufigkeit der gestellten und beantworteten Fragen, der vorgekommenen und korrigierten Fehler, Repräsentativität der aufgezeichneten Stunde), zum zentralen Thema der aufgezeichneten Stunde, zur Zufriedenheit mit der Stunde und dem Verhalten der Klasse, zum geplanten Ablauf der Stunde und eventuellen Abweichungen.
Im Rahmen der DESI-Videostudie wurden neben der Aufnahme ausgewählter Englischstunden im Verlauf der 9. Jahrgangsstufe zusätzlich schulische Lernbedingungen durch eine Befragung der Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte erhoben.
Die Autorengruppe präsentiert ausgewählte Ergebnisse der Videostudie, die auf Analysen der videografierten Unterrichtsstunden beruhen, wobei ergänzend Bezüge zu den Selbsteinschätzungen der Lehrkräfte und zu den Schülerleistungen hergestellt werden.
Die deskriptive Auswertung der Videostudie zeigt, dass der größte Teil (84 %) der im Unterricht zu findenden Lehreräußerungen auf Englisch stattfindet. Die Schülerinnen und Schüler sprechen zu 76 % Englisch. Mit Blick auf den Sprechanteil entfallen auf die Lehrperson 51 %, auf Schülerinnen und Schüler 23 %, wobei letztere in knapp der Hälfte ihrer Sprechzeit frei in englischer Sprache sprechen, in einem Viertel ihrer Sprechzeit ablesen (z. B. vorlesen) und in einem Fünftel wiederholen, nachsprechen etc. In 26 % der untersuchten Fälle findet keine mündliche Sprachproduktion statt (Einzelarbeit, Wartezeit etc.). Helmke et al. folgern angesichts des geringen Anteils an Fragen und Rückmeldungen durch die Lehrkraft, dass der sprachliche Input der Lehrkraft nur bedingt als Lernanreiz für die Schülerschaft angesehen werden könne, zumal die Lehrerfragen in hohem Maße in die Kategorien ‚niedrige Authentizität‘ und ‚niedriger Lebensweltbezug‘ fielen. Der mittlere Sprechanteil der Schülerinnen und Schüler bezogen auf die Gesamtsprechzeit liegt in einer Unterrichtsstunde bei 32 %. Allerdings entfällt nur ein geringer Anteil der Unterrichtszeit auf frei formulierte Schüleräußerungen in englischer Sprache (11 %, entspricht 48 % des Sprechanteils von Schülerinnen und Schülern), wobei ein Drittel davon aus „Ein-Wort-Äußerungen“ besteht. Der sprachlichen Produktion durch die Lernenden seien somit enge Grenzen gesetzt.
Bezüglich der Selbsteinschätzungen der Lehrkräfte wurde untersucht, inwieweit selbst eingeschätzte und reale Lehrersprechzeit übereinstimmen. Insgesamt gesehen unterschätzen Englischlehrkräfte ihren Sprechanteil deutlich (Durchschnitt in der Videostudie: 68 %, laut Selbsteinschätzung im Fragebogen: 51 %). Die Möglichkeit der Lernenden, sich frei auf Englisch zu äußern, ist deshalb nur in eingeschränktem Maße gegeben.
Die Fehlerkorrektur der Schülerinnen- und Schüler-Äußerungen (ca. 1/5 der Äußerungen sind fehlerhaft) erfolgt hauptsächlich durch die Lehrkraft, und zwar ohne Erklärung des Fehlers (mehr als 2/3 der Korrekturfälle), wenig durch andere Schülerinnen und Schüler im Sinne einer Peer-Korrektur (14 %). In nur 8 % der Fälle erklärt die Lehrkraft den Fehler.
In knapp der Hälfte der Fälle wird eine Frage der Lehrkraft innerhalb von drei Sekunden von den Schülerinnen und Schülern beantwortet. Falls nicht, zeigt sich, dass eine längere Wartezeit der Lehrpersonen nach Fragen gering ist; in ca. 40 % der untersuchten Fälle wartet die Lehrkraft nicht auf eine Antwort der Schülerinnen und Schüler, ohne Hilfestellungen zu geben oder eine weitere Frage anzuschließen. Nur in 11 % der Fälle wartet die Lehrkraft auf die Antwort der Schülerinnen und Schüler.
Die Ergebnisse der Studie ermöglichen auch eine Analyse von Ketten der sprachlichen Interaktion zwischen einzelnen Schülerinnen und Schülern und der Lehrkraft. Dabei zeigt sich, dass zum einen Standardsituationen vorliegen (Lehrerfrage – Schülerantwort – Lehrerreaktion), zum anderen längere Dialoge im weiteren Verlauf dieses Frage-Antwort-Schemas eher selten vorkommen. Die Kette beendet häufig die Lehrkraft mit ihrer abschließenden Antwort.
Helmke et al. kommen zu dem Schluss, dass Unterricht mit einem großen Zuwachs an Hörverstehen geprägt ist durch intensive Zeitnutzung und ausgeprägte Aufgabenorientierung, Störungsfreiheit, ein positives Fehlerklima und ein hohes Schülerengagement während des Unterrichts. Dabei zeichnen sich besonders erfolgreiche Klassen durch Folgendes aus:
Während der Sprechanteil der Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Klasse 9 nicht von ihrem Leistungsniveau im Hörverstehen abhängt, hat ihre Hörverstehenskompetenz einen hohen Einfluss auf die Unterrichtssprache, die die Lehrkraft einsetzt, d. h. je besser die Voraussetzungen im Hörverstehen, desto mehr Englisch wird verwendet. Gleichzeitig nimmt auch die Wartezeit auf die Antworten der Schülerinnen und Schüler zu.
Ein weiterer Aspekt, der im Rahmen der Videostudie untersucht wurde, betrifft eine mögliche Wechselwirkung zwischen der kognitiven Grundfähigkeit der Schülerinnen und Schüler und ihrem Leistungszuwachs (Bereich Textrekonstruktion, C-Test). Es zeigt sich, dass diese Wechselwirkung schwach positiv ist. Je unklarer der Unterricht ist, desto stärker wirken sich kognitive Grundfähigkeiten auf den Leistungszuwachs aus. Damit kommt der Qualität des Unterrichts ein großer Einfluss zu.
Während das Vorlesen selbstproduzierter Texte für die Entwicklung des Hörverstehens einen leistungsfördernden Effekt hat, sind Merkmale von Lehrerfragen, wie Antwortspielraum oder Authentizität, kaum bedeutsam, ebenso wie das Ausmaß an Strukturierung (Vorausschau, Zusammenfassungen), ganz anders als im Mathematikunterricht.
Bis zur DESI-Studie erfolgte eine empirische Wirkungsforschung im Fach Englisch eher punktuell und häufig in Form von (qualitativen) Einzelfallstudien. Die vorgestellte Studie ist die erste – und bislang einzige – groß angelegte quantitative Studie, mit der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Englisch überprüft und Qualitätsmerkmale von Englischunterricht untersucht wurden.
Mit Blick auf den Sprechanteil von Lehrkräften zeigen die empirischen Analysen der Videostudie, dass dieser nicht nur im Vergleich zum Anteil der Schülerinnen und Schüler zu hoch ist, sondern die Wartezeit auf Schülerinnen- und Schüler-Antworten auch nicht ausreichend ist. Auf der Basis der empirischen Ergebnisse empfehlen die Autoren eine Wartezeit von 3 Sekunden. Darüber hinaus sollte der Anteil der Mündlichkeit und die Möglichkeiten der Selbstkorrektur der Fehler durch die Schülerinnen und Schüler gestärkt werden. Rein zeitlich gesehen haben die Schülerinnen und Schüler durch den hohen Sprechanteil der Lehrkraft wenig Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen.
Die Erhebungsinstrumente der Videostudie sind gerade auch im Sinne einer Grundlagenforschung sinnvoll gewählt.
Die u. a. über das nationale Bildungsmonitoring gesteuerte Output-Orientierung und durch die DESI-Studie beförderte Schülerinnen- und Schüler-Kompetenzmessung können Unterrichtsentwicklungsprozesse anregen, die auf einer breiten empirischen Datenbasis stehen. Möglicherweise hat sich die Ausgangssituation in den Jahren nach der Erhebung bereits verändert und die Empfehlungen unterliegen aus empirischer Perspektive einer gewissen Einschränkung. Auch wenn es aufwendig wäre, diese Studie zu wiederholen, wäre es dennoch wünschenswert, um mögliche Entwicklungs- und Veränderungsprozesse aufzuzeigen. Außerdem könnten – unter Berücksichtigung der individuellen Freigaberechte – Teile der Videostudie auch in der Lehreraus- und -fortbildung eingesetzt werden und durch Kombination mit den Erkenntnissen aus der DESI-Studie einen weiteren Anwendungskontext finden bzw. als Diskussionsanlass dienen.
Institut für Bildungsanalysen (IBBW)
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