Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Meyer, T., Thomsen, S. L. & Schneider, H. (2015). New Evidence on the Effects of the Shortened School Duration in the German States: An Evaluation of Post-Secondary Education Decisions. IZA, Discussion Paper Series, No. 9507, 1–36.FIS BildungIn der Schulzeitdebatte wird angenommen, dass Absolventinnen und Absolventen, die das Abitur nach 12 Schuljahren erworben haben, häufiger als diejenigen mit 13-jähriger Schulzeit eine freiwillige Auszeit zwischen Schule und Studium einlegen.
Die Autoren des rezensierten Beitrags untersuchen diesen Diskursaspekt, indem sie für Deutschland und einzelne Bundesländer repräsentative Daten des DZHW-Studienberechtigtenpanels auswerten. Sie analysieren, inwiefern Bildungsentscheidungen nach Erwerb der allgemeinen Hochschulreife durch die Verkürzung der Gymnasialschulzeit beeinflusst werden und inwiefern sich ähnliche oder bundeslandspezifische Wirkungen zeigen. Dabei wird deutlich: Die Wahrscheinlichkeit, direkt im Anschluss an das Abitur ein Studium zu beginnen, ist infolge der Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien um rund 15 Prozent für beide Geschlechter zurückgegangen. Die Absolventinnen und Absolventen nutzen das Jahr häufiger für Freiwilligendienste oder Auslandsaufenthalte. In einigen Bundesländern nehmen Abiturientinnen und Abiturienten auch im zweiten Jahr nach dem Abitur in Abhängigkeit vom Geschlecht und familiären Hintergrund seltener ein Studium auf.
Aufgrund der Datenqualität (Repräsentativität für Deutschland und die einzelnen Bundesländer) haben die Ergebnisse eine große Aussagekraft.
Die meisten Bundesländer haben im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. Ein Ziel der Reform war es, auf die veränderte Bevölkerungsstruktur zu reagieren und Schulabsolventinnen und Absolventen zur Sicherung der sozialen Systeme früher in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Dies soll durch eine frühere Aufnahme und Abschluss eines Hochschulstudiums bzw. einer beruflichen Ausbildung ermöglicht werden. Ob und inwieweit dieses Ziel erreicht wird, ist bislang empirisch kaum untersucht. Der Beitrag von Meyer et al. (2015) beschäftigt sich mit dieser Fragestellung und analysiert mit Hilfe von Daten des DZHW-Studienberechtigtenpanels für die Abiturjahrgänge 2006 bis 2012, inwiefern durch die Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien in mehreren Bundesländern Auswirkungen auf eine frühere Studienaufnahme männlicher und weiblicher Abiturienten zu beobachten sind.
In der Einleitung greifen die Autoren zunächst den in diesem Kontext bedeutsamen Diskurs zur verkürzten Schulzeitdauer auf und konfrontieren diesen mit bisherigen Forschungsbefunden. Sie verweisen darauf, dass effektiv genutzte Lernzeit die Schulleistungen bedingt und längere Schultage die Lernleistungen verbessern, wohingegen die Verkürzung der Unterrichtszeit zu einer Leistungsverschlechterung führt. Hieraus schlussfolgern sie Nachteile für die Qualität gymnasialer Bildung im Zuge der Einführung des achtjährigen Bildungsgangs und sehen diese mit Verweis auf eine Studie aus Sachsen-Anhalt (Büttner & Thomsen 2015) bestätigt. Außerdem rekurrieren sie in diesem Zusammenhang auf empirisch bedeutsame Faktoren für Bildungsentscheidungen nach Erlangung der allgemeinen Hochschulreife: hierzu gehören Unterrichtsinhalte aus der Schulzeit und bestimmte, in der Schule entdeckte und geförderte Talente. Die verkürzte Schulzeitdauer bedingt nach ihrer Aussage vor diesem Hintergrund die Unsicherheit und Orientierungslosigkeit im Hinblick auf die Wahl eines Studienfaches.
Im zweiten Kapitel werden das deutsche Bildungssystem und Erläuterungen zur Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien sowie ein Überblick über bisherige Forschungsbefunde gegeben. So zeigen sich in einer Studie negative Wirkungen auf die Mathematikleistungen von Schülerinnen und Schülern und es ist ein Anstieg der Klassenwiederholungsquote zu beobachten. Zudem liegen Hinweise vor, dass Absolventinnen des Doppeljahrgangs seltener ein Studium und häufiger eine Ausbildung aufnehmen, während dies bei den männlichen Absolventen umgekehrt ist. Weiterhin weisen einige Studien keinen Reformeinfluss auf den Studienerfolg nach. Die Autoren merken gleichwohl die derzeit uneinheitliche Befundlage an und betonen, dass in zukünftigen Studien zu prüfen ist, inwiefern die beobachteten Effekte verallgemeinerbar sind und auf alle Bundesländer angewendet werden können.
Die Studie basiert auf Daten des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten DZHW-Studienberechtigtenpanels, in welchem seit 2005 für jede Kohorte drei Erhebungswellen durchgeführt werden: sechs Monate vor, sechs Monate nach und 3 ½ Jahre nach Schulabschluss. Die Paneldaten sind für Deutschland und die einzelnen Bundesländer repräsentativ, da sie auf einer zweifach geschichteten zufällig gezogenen Klumpenstichprobe der Grundgesamtheit aller Schülerinnen und Schüler beruhen, die an einer allgemeinbildenden oder beruflichen Schule eine Studienberechtigung erlangt haben. Das ungeplante Ausscheiden von Teilnehmerinnen und -teilnehmern wird durch verschiedene Gewichtungsverfahren ausgeglichen.
Die Autoren werten für ihre Studie DZHW-Paneldaten der Abiturjahrgänge 2006, 2008, 2010 und 2012 aus, da die Einführung des achtjährigen Bildungsgangs in den einzelnen Bundesländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten zwischen 2001 und 2008 erfolgte. Für ihre Analysen benutzen sie einen Difference-in-Difference-Ansatz , um die Reformwirkungen in den einzelnen Bundesländern zu schätzen. Der Difference-in-Difference-Ansatz wird vor allem in der (Bildungs-)Ökonomie gebraucht, um kausale Effekte einer Intervention (z.B. eine Reform) zu schätzen. Es handelt sich um ein Verfahren, dass insbesondere dann genutzt wird, wenn eine zufällige Verteilung von Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmern auf eine Versuchs- und Kontrollgruppe nicht möglich ist. Bei diesem Verfahren wird eine bereits definierte Personengruppe (z.B. Abiturientinnen und Abiturienten eines Bundeslandes X) als Versuchs- und eine andere bereits definierte Personengrupp (z.B. Abiturientinnen und Abiturienten eines Bundeslandes Y) als Kontrollgruppe bestimmt. Anschließend wird der Trend für das interessierende Merkmal (hier: Bildungsentscheidungen nach dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife) innerhalb der Gruppe mit Intervention (hier: Bundesländer mit/nach G8-Reform) mit dem Trend innerhalb einer Gruppe ohne Intervention (hier: Bundesländer ohne/vor G8-Reform) unter der Annahme gleicher Entwicklung in beiden Gruppen verglichen.
Zur Überprüfung der Gültigkeit der Reformeffekte legen die Autoren verschiedene Modellierungen von Treatment- und Kontrollgruppen zugrunde und führen mehrere Robustheitsprüfungen durch. Die Zahl der berücksichtigten Rückmeldungen von Absolventinnen und Absolventen pro Kohorte liegt zwischen 2.855 (im Jahr 2008) und 5.690 (im Jahr 2012).
Zu den in die Analyse einfließenden Variablen zählen der geplanter Studienbeginn, Aktivitäten nach Schulabschluss mit den drei Antwortmöglichkeiten Bundeswehr- oder Zivildienst, Praktikum oder Nebentätigkeit, Freiwilligendienst oder Auslandsaufenthalt und Studienfach. Als Kontrollvariablen werden in der Studie das Alter, der Migrationshintergrund und der soziale Hintergrund (gemessen über den sozio-ökonomische Index, ISEI) berücksichtigt.
Die Wahrscheinlichkeit, direkt im Anschluss an das Abitur ein Studium zu beginnen, ist infolge der Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien um rund 15 Prozent für beide Geschlechter zurückgegangen. Die Wahrscheinlichkeit für ein Freiwilliges Jahr oder ein Jahr im Ausland hat hingegen bei beiden Geschlechtern zugenommen. Dieser Effekt lässt sich in allen untersuchten Bundesländern beobachten. Er bezieht sich nicht nur auf die erste von der Reform betroffene Kohorte, sondern auch auf die nachfolgenden Jahrgänge, insbesondere auf Absolventinnen und Absolventen aus nicht-akademischen Elternhäusern. Eine Reformwirkung auf die Wahl des Studienfaches ist nicht feststellbar.
Zudem zeigt sich mit Blick auf die Ursache für den reduzierten bzw. verzögerten Studienbeginn ein Unterschied zwischen den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern: Demnach absolvieren westdeutsche Abiturientinnen häufiger ein Freiwilliges Jahr oder verbringen ein Jahr im Ausland. Die Abiturientinnen in Ostdeutschland beginnen deutlich häufiger eine Berufsausbildung anstelle eines Studiums. Dies hat zur Folge, dass die Studierneigung im zweiten Jahr nach dem Abitur in Westdeutschland nicht mehr geringer ist als vor der Reform. In Ostdeutschland hingegen bleibt sie auch über das erste Jahr hinaus reduziert. Bei Abiturientinnen und Abiturienten aus nicht-akademischem Elternhaus sowie bei männlichen Abiturienten ist die Studierneigung im zweiten Jahr nach dem Schulabschluss jedoch auch in Westdeutschland verringert.
Die Autoren sehen mögliche Erklärungen darin, dass sich Abiturienten nach der kürzeren, lernintensiveren Schulzeit von 12 Jahren schlechter auf ein Studium vorbereitet erachten, unsicherer über ihren weiteren Bildungs- und Berufsweg sind oder vor der Aufnahme einer nachschulischen Bildung erst einmal andere Erfahrungen sammeln wollen. Angesichts der Ergebnisse wird seitens der Autoren empfohlen, die verkürzte Gymnasialschulzeit so zu organisieren, dass die Abiturientinnen und Abiturienten gleichermaßen auf ein Hochschulstudium vorbereitet und dazu motiviert sind wie nach 13 Schuljahren. Außerdem gilt es ihrer Meinung nach sicherzustellen, dass genügend Angebote zur beruflichen Orientierung bereitgestellt sowie genutzt werden.
Zum Hintergrund: Die Studie greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es wird untersucht, inwiefern die Einführung des achtjährigen Bildungsgangs an Gymnasien einen Einfluss auf den Zeitpunkt der Studienaufnahme besitzt. Die Autoren diskutieren die Relevanz der Fragestellung vor dem Hintergrund des Diskurses zur verkürzten gymnasialen Schulzeitdauer und Befunden zur Nutzung der Lernzeit. Hieraus leiten sie eine Gefährdung der Qualität gymnasialer Bildung ab. Zudem nehmen sie unter Bezugnahme auf Forschungsbefunde zu Determinanten der Aufnahme eines Studiums an, dass die verkürzte Schulzeitdauer zu Unsicherheit und Orientierungslosigkeit bei der Studienwahl führt. Die Auswahl der Forschungsergebnisse zur Nutzung von Lernzeit und Determinanten für die Studienaufnahme wirkt willkürlich und wird lediglich additiv berichtet, ohne dass diesen ein theoretisches Rahmenmodell zugrunde gelegt wird. Neben diesen Bezugslinien berichten die Autoren bisherige relevante Befunde aus dem Forschungskontext zur Einführung des achtjährigen gymnasialen Bildungsgangs. Der Überblick über den Forschungsstand erscheint nicht differenziert genug wiedergegeben. So berichten sie z.B., dass die Reform einen Effekt auf die schulische Leistung – erhoben durch den Indikator Note der Abschlussprüfung – habe. In der Studie, auf die sie sich beziehen, ist jedoch zu entnehmen, dass es sich dabei um Effekte für das Fach Mathematik handelt. Im Fach Deutsch ließ sich dieser Befund nicht nachweisen. Die Autoren merken gleichwohl die derzeit uneinheitliche Befundlage an und betonen, dass die Verallgemeinerung und Anwendung der Befunde auf andere Bundesländer in zukünftigen Studien noch zu prüfen sind.
Zum Design: Die Instrumente werden ausführlich beschreiben und der Erhebungsplan ist nachvollziehbar. Die Datenaufbereitung wird angemessen berichtet. Die methodische Vorgehensweise ist sachgerecht angelegt. Es wird sich eines Verfahrens zur Schätzung von Reformeffekten bedient, welches häufig in bildungsökonomischen Forschungskontexten zur Anwendung kommt. Die berücksichtigten Kontrollvariablen erscheinen als geeignet.
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellung der Untersuchung wird erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. Abweichende Ergebnisse werden diskutiert. Aufgrund fehlender Erkenntnisse über die Wirkung der Einführung des achtjährigen gymnasialen Bildungsgangs auf die Studienaufnahme besitzen die Ergebnisse neue Erkenntnisse mit praktischem Wert für den aktuellen bildungspolitischen Diskurs. Aufgrund der Datenqualität (Repräsentativität für Deutschland und die einzelnen Bundesländer) haben die Ergebnisse eine große Aussagekraft.
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