Fragestellungen der Studie:

  • Wie entscheiden Lehrkräfte über die Empfehlung für die weiterführende Schule – datengestützt oder intuitiv?

Rezension zur Studie

Vanlommel, K., van Gasse, R., Vanhoof, J. & van Petegem, P. (2021). Sorting pupils into their next educational track: How strongly do teachers rely on data-based or intuitive processes when they make the transition decision? Studies in Educational Evaluation, 69, Artikel 100865.

Vanlommel, Van Gasse, Vanhoof und Van Petegem gehen in ihrer Studie der Frage nach, welche Rolle intuitive Prozesse auf der einen und datengestützte („data-driven“) Herangehensweisen auf der anderen Seite bei Entscheidungsprozessen von Lehrkräften spielen.

Im Rahmen einer Längsschnittstudie wurden im Verlauf eines Schuljahrs zu je drei Messzeitpunkten Interviews mit 16 Primarschullehrkräften aus der niederländischen Provinz Flandern geführt. In diesen Interviews wurden die Lehrkräfte dazu befragt, wie sie in Zweifelsfällen zu einer Entscheidung darüber kommen, auf welche weiterführende Schule ein Kind ihrer Klasse gehen soll und welchen Einfluss datengestützte und intuitive Prozesse in den verschiedenen Schritten der Entscheidungsfindung haben.

Die Forschenden finden ihre These bestätigt, dass sowohl intuitive als auch datengestützte Prozesse bei der Entscheidungsfindung eine Rolle spielen. So beginnt die Wahrnehmung eines Problems, d. h. die Befürchtung, ein Kind könnte die Primarstufe nicht erfolgreich absolvieren, oft mit beiläufigen, unsystematischen Beobachtungen. In ca. der Hälfte der Fälle geben die Lehrkräfte an, diese Beobachtungen durch Daten (z. B. Tests o. Ä.) zu ergänzen. Ähnliche Befunde berichten die Forschenden zu anderen Stationen der Entscheidungsfindung wie der Interpretation von Daten oder der Abwägung von Alternativen: Teilweise werden intuitive Annahmen durch systematische Daten ergänzt, teilweise werden vorhandene Daten wie durchschnittliche Leistungen ignoriert, indem individuell als wichtiger empfundene Kriterien wie eine im Unterricht wahrgenommene Motivation oder Anstrengungsbereitschaft höher gewichtet werden.

Die Autorinnen und Autoren schließen daraus, dass es notwendig ist, beide Komponenten – das Erfahrungswissen der Lehrkräfte und die Auswertung aussagekräftiger Daten – im Blick zu haben, wenn es darum geht, die Qualität schulischer Entscheidungsprozesse zu verbessern. Sie plädieren dafür, die Kompetenzen der Lehrkräfte in diesem Bereich systematisch zu fördern.

Die Studie liefert wichtige Impulse durch den tiefen Einblick in die Art und Weise, wie Lehrkräfte weitreichende Entscheidungen fällen. Auch wenn es sich nur um eine Fallstudie handelt und die Ergebnisse deshalb nicht verallgemeinerbar sind, lassen sich Ansatzpunkte für die Reflexion des eigenen Lehrkräftehandelns, notwendige Aus- und Weiterbildungsansätze und weitere Forschungsprojekte ausmachen.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Welche Faktoren beeinflussen mich beim Treffen wichtiger Entscheidungen?
  • Welche Rolle spielen meine Erfahrung und meine Intuition bei der Entscheidungsfindung?
  • Inwieweit beziehe ich systematisch gewonnene Daten in meine Entscheidungen mit ein? Welchen Stellenwert haben diese im Vergleich zu Intuition und Erfahrung?
  • Inwieweit nutze ich den systematischen Austausch mit anderen Lehrkräften, um meine Entscheidungen zu validieren?
  • Welche Fortbildungsmöglichkeiten habe ich, um meine Entscheidungsprozesse zu professionalisieren?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Faktoren beeinflussen mich beim Treffen wichtiger Entscheidungen?
  • Welche Rolle spielen meine Erfahrung und meine Intuition?
  • Welche Einblicke habe ich in Entscheidungsprozesse meiner Lehrkräfte?
  • Welche Unterstützungsangebote stehen diesen zur Verfügung, um wichtige Entscheidungen möglichst valide zu treffen?
  • Welche Mechanismen der Qualitätssicherung gibt es an meiner Schule?

Den Hintergrund der Studie bilden einerseits Modelle, wie Menschen in alltäglichen Situationen, die beispielsweise von Zeitdruck oder auch von Routinen geprägt sind, Entscheidungen treffen. Die Forschenden greifen dabei auf das Modell der auf Wiedererkennung beruhenden Entscheidungsfindung („recognition-primed decision") zurück (Klein, 1997; Klein 2008). Dieses beschreibt u. a., wie Expertinnen und Experten, z. B. Lehrkräfte, Muster und mentale Modelle entwickeln, die es ihnen ermöglichen, relevante Indikatoren zur Einschätzung einer Situation automatisch zu erkennen, ohne bewusst und systematisch nach Daten suchen zu müssen.

Andererseits beziehen sich die Forschenden auf Modelle der Datennutzung, wie sie z. B. Schildkamp et al. (2013) entwickelt haben. Diese teilen den Prozess der Datennutzung in verschiedene Phasen von der Problemerkennung bis zu einer Implementierung von Maßnahmen ein, die iterativ durchlaufen werden.

Aus der Kombination beider Ansätze zur Betrachtung von Entscheidungsfindungen entwickeln die Forschenden den Rahmen für ihren Interviewleitfaden, indem sie den Entscheidungsprozess in drei Phasen einteilen (1. Problemdefinition, 2. Datensammlung und ‑interpretation, 3. Bewertung der Handlungsalternativen und Entscheidung) und für jede Phase Merkmale definieren, die auf eine intuitive bzw. eine datengestützte Entscheidungsfindung hindeuten. Beispielsweise würde eine Lehrkraft in der Phase der Datensammlung in einem datengestützten Entscheidungsprozess ein Ziel definieren und dazu systematisch Daten sammeln. Dies kann z. B. mit einem standardisierten Beobachtungsbogen, auf dem das Unterrichtsgeschehen dokumentiert wird, geschehen. Einer Lehrkraft, die sich auf ihre Intuition und Erfahrung verlässt, würden dagegen zufällige, unsystematische Beobachtungen als Entscheidungsgrundlage ausreichen.

Für diese Längsschnittstudie interviewten die Forschenden 16 Lehrkräfte von Primarschulen der niederländischen Provinz Flandern. Zuvor waren 25 zufällig ausgewählte Lehrkräfte der Jahrgangstufe 6 mit mindestens 5 Jahren Lehrerfahrung kontaktiert worden, von denen 16 (5 männliche, 9 weibliche) bereit waren, an der Studie teilzunehmen. 10 Lehrkräfte hatten mehr als 10 Jahre Lehrerfahrung, 7 zwischen 5 und 10 Jahren. Die Provinz Flandern wurde ausgewählt, weil dort die Klassenlehrkräfte relativ autonom entscheiden, ob die Schülerinnen und Schüler die Primarstufe nach der 6. Klasse erfolgreich abschließen und ob sie auf eine reguläre Sekundarschule oder auf eine beruflich orientierte Schule wechseln.

Jede teilnehmende Lehrkraft wurde gebeten, sich für den ersten Interviewtermin zu Beginn des Schuljahres zwei Lernende auszusuchen, bei denen unsicher war, ob sie den Übergang auf eine reguläre Sekundarschule schaffen würden. Zu diesen Fällen wurden die Lehrkräfte dann bei den zwei weiteren Interviewterminen in der Mitte und zum Ende des Schuljahrs jeweils befragt. Da zwei der Schülerinnen und Schüler im Verlauf des Jahres die Schule verließen, konnten die Aussagen zu 30 Lernenden ausgewertet werden.

Den Interviews lag ein Leitfaden zugrunde, der die Facetten des theoretischen Hintergrunds (Entscheidungsprozesse in den drei Phasen) abdeckte. Er enthielt Fragen wie „Was ist Ihre Empfehlung für diesen Schüler bzw. diese Schülerin im Hinblick auf den Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe?“, „Welche überzeugenden Argumente gibt es für diese Empfehlung?“, „Welche Belege gibt es für dieses Argument?“. Im Durchschnitt dauerte jedes Interview eine Stunde. Es wurde aufgenommen und wörtlich transkribiert.

Auf der Grundlage des theoretischen Hintergrunds wurde ein Kodierleitfaden entwickelt, der durch den Vergleich von durch zwei Kodierer ausgewerteten Interviews präzisiert wurde. Die Interrater-Reliabilität (Cohen‘s Kappa) betrug .90 für Messzeitpunkt 1 und .72 für die Messzeitpunkte 2 und 3. Daraufhin wurden alle Interviews von Forscher 1 mit einem überarbeiteten finalen Kodierschema kodiert. Die Kodierung wurde genutzt, um sowohl die einzelnen Entscheidungsprozesse zu analysieren als auch um Vergleiche anzustellen.

Als erstes werteten die Forschenden ihre Daten im Hinblick auf die Frage aus, wie datengestützte und intuitive Prozesse die verschiedenen Schritte des Entscheidungsprozesses der Lehrkräfte im Laufe des Jahres beeinflussen. Sie stellen fest, dass der erste Schritt, die Problemdefinition, in den meisten Fällen auf Intuition beruht, die in der Hälfte der Fälle mit dem Heranziehen von Daten (z. B. Testergebnisse) kombiniert wird.

Im zweiten Schritt der Datensammlung und -interpretation berichteten alle Lehrkräfte sowohl über systematische als auch über unsystematische Datensammlung. Diese Daten bezogen sich zum überwiegenden Teil auf kognitive Output-Indikatoren wie nichtstandardisierte Tests und nur sehr selten auf nicht-kognitive und prozessbezogene Indikatoren (z. B. das Wohlbefinden eines Kindes). Letztere wurden – wenn überhaupt – aus spontanen Beobachtungen, wie unaufmerksamem Verhalten im Unterricht, abgeleitet. Die Dateninterpretation erfolgte in zwei Dritteln der Fälle auf der Grundlage vorher definierter Kriterien, die z. B. auf Lehrplänen beruhten. In einem Drittel der Fälle bildeten von den Lehrkräften selbst erstellte Kriterien die Basis für die Interpretation, wobei die Forschenden zu dem Schluss kommen, dass es in diesen Fällen individuelle Überzeugungen waren, die zu der Interpretation führten, indem z. B. überlegt wurde, ob sich eine Schülerin/ein Schüler für das erzielte Ergebnis angestrengt hat.

Für den dritten Schritt der Entscheidungsfindung – die Bewertung der Alternativen und das Treffen der Entscheidung – finden die Forschenden, dass alle Lehrkräfte sowohl systematisch zusammengestellte als auch spontan gesammelte Daten nutzten, wenn sie die verschiedenen Optionen der Übergangsentscheidung prüften. Bei der endgültigen Entscheidung nutzten sie aber nicht alle vorliegenden Informationen. Bei 3 der 5 Fälle, in denen kein erfolgreicher Abschluss der Primarstufe bescheinigt wurde, gründete diese Entscheidung allein auf dem Befund unzureichender Niederländischkenntnisse. Andere Lehrkräfte begründeten ihre ablehnende Entscheidung ausschließlich mit Erkenntnissen aus unsystematischen Beobachtungen wie mangelndem Einsatz oder ungenügende kognitive Fähigkeiten. Diese Beobachtungen gaben sogar dann den Ausschlag, wenn für die Lernenden durchschnittliche Testergebnisse vorlagen, die eine andere Entscheidung nahegelegt hätten.

Zum Hintergrund
Die Verankerung der Studie in schon vorhandenen Modellen zur datengestützten Entscheidungsfindung macht das Entstehen des Interviewleitfadens transparent und in seinen einzelnen inhaltlichen Aspekten nachvollziehbar. Damit gelingt eine systematische Darstellung der Interviewinhalte.

Zum Design
Eingeschränkt wird die Aussagekraft der Studie zum einen – wie die Forschenden selbst betonen – durch die geringe Fallzahl der Befragten. Zum Zweiten ist zu beachten, dass die in der Studie herausgearbeiteten Prozesse der Entscheidungsfindung nicht mit der Qualität der Ergebnisse, d. h. der Korrektheit der Entscheidungen in Beziehung gesetzt werden können, da entsprechende Daten nicht erhoben wurden.

Wünschenswert wären in der Darstellung mehr Beispiele aus den Antworten der Lehrkräfte, um mehr Einblicke in die Breite der Antworten zu bekommen.

Zu den Ergebnissen
Die Ergebnisse zeigen, dass Lehrkräfte oft auf ihre Intuition vertrauen, anstatt ihre Entscheidungen auf Daten und Fakten basieren zu lassen; das gilt selbst dann, wenn geeignete Daten vorliegen. In der Studie zeigte sich zudem, dass Lehrkräfte oft nur auf einen einzigen Aspekt in den Daten achten, anstatt alle verfügbaren Informationen zu berücksichtigen. Dies kann – so die Befürchtung der Forschenden – zu einer Verstärkung von Vorurteilen und einer Ungleichbehandlung von Schülerinnen und Schülern führen. Ob bzw. in welchem Ausmaß diese Gefahr tatsächlich gegeben ist, ist jedoch aufgrund der geringen Fallzahl und der wenigen im Text angeführten Beispiele schwer einzuschätzen.

Abschließend wird in der Studie die Wichtigkeit betont, sowohl datengestützte als auch intuitive Prozesse bei der Entscheidungsfindung von Lehrkräften zu berücksichtigen. Die Forschenden plädieren dafür, entsprechende Kompetenzen in der Lehrkräfteaus- und ‑fortbildung zu verankern, d. h. sowohl den Umgang mit Daten im Sinne einer „data-literacy“ als auch die Fähigkeit, die eigene intuitive Entscheidungsfindung kritisch zu reflektieren. Es wird argumentiert, dass eine Kombination aus beiden Ansätzen notwendig ist, um faire und gerechte Entscheidungen zu treffen.

Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich Implikationen für die Bildungspolitik und -praxis, insbesondere im Hinblick auf die Förderung von Gerechtigkeit und Chancengleichheit in der Bildung ableiten, da die von Lehrkräften getroffenen Entscheidungen weitreichende Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler haben. Da erscheint das Plädoyer der Forschenden für mehr Forschung zum Zusammenspiel verschiedener Komponenten bei der Entscheidungsfindung von Lehrkräften und mehr Anstrengungen diese Thematik in der Lehrkräfteaus- und ‑fortbildung aufzugreifen nachvollziehbar.

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Unterstützung für die Praxis
Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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