Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Datnow, A., Lockton, M. & Weddle, H. (2021). Capacity building to bridge data use and instructional improvement through evidence on student thinking. Studies in Educational Evaluation, 69.Datnow, Lockton und Weddle beschäftigen sich in ihrer Studie mit dem Problem, dass den Lehrkräften zwar zunehmend mehr Daten über die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen, diese aber nur selten genutzt werden, um den eigenen Unterricht anzupassen. Um diese Nutzung von Daten für die Unterrichtsentwicklung zu fördern, wurden in einem Forschungsprojekt Lehrkräfte darin fortgebildet, eine eher ungewöhnliche Art von Daten, nämlich das Denken ihrer Schülerinnen und Schüler, formativ in ihre Unterrichtsplanung einzubeziehen.
Konkret lautet die Forschungsfrage: Wie können Lehrkräfte „capacity building“ für einen datengestützten Unterricht betreiben, so dass sie das Denken der Schülerinnen und Schüler als eine Form von Daten nutzen?
Im Rahmen eines größeren Forschungsprojekts begleitete eine Coachin vier Mittelschulen eines US-amerikanischen Schulbezirks, deren Schülerinnen und Schüler durch unterdurchschnittliche Mathematikleistungen aufgefallen waren, in einem vierjährigen Prozess dabei, Einblicke in die Denkprozesse der Lernenden zu gewinnen und diese zur Planung von Unterrichtseinheiten und Anpassungen an die Bedürfnisse der Lernenden zu nutzen.
Es zeigte sich, dass die Zusammenarbeit in regelmäßig zusammenkommenden Arbeitsgruppen die Lehrkräfte dabei unterstützte, gemeinsam Unterrichtseinheiten zu entwerfen, die Einblicke in das Denken der Lernenden nutzten, um kognitiv anregende Lerngelegenheiten zu schaffen. Des Weiteren entwickelten die Lehrkräfte ein vertieftes Verständnis für das mathematische Denken der Lernenden, lernten neue Wege kennen, dieses im Unterricht zu fördern und nutzten dieses Verständnis zu einer Anpassung ihrer Unterrichtsplanung. Außerdem reflektierten sie vermehrt ihr unterrichtliches Handeln. Dabei nutzten die Lehrkräfte informelle Formen wie ein Gespräch über Lösungswege oder kleine Aufgaben zu Beginn oder am Ende der Unterrichtsstunde als formative Rückmeldungen. Abschließend plädieren die Forschenden dafür, den Datenbegriff möglichst weit zu fassen, damit solche Daten wie Einblicke in das Denken der Lernenden von den Lehrkräften genutzt werden. Dies sollte nach ihrer Ansicht formativ im Prozess der Unterrichtsplanung geschehen.
Der in dieser Studie vorgestellte Ansatz eines erweiterten Datenbegriffs und der formative und kontinuierliche Einsatz dieser Daten ist sehr interessant, weil nah am Unterrichtsalltag. Die Anordnung der Studie macht deutlich, dass Lehrkräfte Unterstützung brauchen, um Kapazitäten in diesem Bereich aufzubauen.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte
Reflexionsfragen für Schulleitungen
Die Forschenden setzen bei der Beobachtung an, dass es Lehrkräften oftmals schwerfällt, vorhandene Daten, beispielweise aus Vergleichsarbeiten, für ihre Unterrichtsplanung zu nutzen. Sie setzen bei der Idee an, “that teachers can plan more effective, targeted lessons if they have a good sense of what their students already know and where they are struggling” (Datnow et al., 2021, 2). Als Ausgangspunkt wählen sie deshalb das Konzept des “Backward Design“, das Lernprozesse von ihrem angestrebten Ziel – also dem Outcome – her denkt (vgl. Tyler, 1949). Des Weiteren nehmen sie Bezug auf Forschung im Bereich der Mathematikdidaktik, die das Einbeziehen des Denkens der Schülerinnen und Schüler als zentralen Faktor bei der Verbesserung von Unterricht sieht (vgl. Leatham et al., 2015). Sie schlussfolgern daraus, dass Lehrkräfte Strategien benötigen, um das Denken der Lernenden zu eruieren und kompetent zu interpretieren, um daraus adäquate Entscheidungen für die eigene Unterrichtsplanung ableiten zu können.
Die präsentierten Ergebnisse sind Teil von Daten eines größeren Forschungsprojekts, in dem vier amerikanische Mittelschulen (Jahrgangsstufen 6 bis 8 mit 364 bis 1 092 Schülerinnen und Schülern) eines Schulbezirks über vier Jahre begleitet wurden. Diese Schulen wurden vom Schulbezirk ausgewählt, weil sie bei landesweiten Lernstandserhebungen in Mathematik unterdurchschnittlich abgeschnitten hatten; nur 15 % bis 31 % der Schülerinnen und Schüler hatten die Standards erreicht oder übertroffen. Weiterhin zeichneten sich die Schulen dadurch aus, dass ein großer Anteil der Lernenden aus sozioökonomisch benachteiligten Familien kamen (73 % bis 98 %), 15 % bis 43 % Englisch als Zweitsprache lernten und 63 % bis 92 % aus Familien mit einem lateinamerikanischen Migrationshintergrund stammten.
Für die Studie trafen sich die Mathematiklehrkräfte der einzelnen Schulen regelmäßig, um gemeinsame Unterrichtseinheiten zu planen, wobei insgesamt 175 Treffen von den Forschenden beobachtet wurden. Dazu gab es 15 eintägige Workshops mit einer Coachin. In diesen Workshops wurden die Lehrkräfte angeleitet, Unterrichtseinheiten von den angestrebten Standards her zu planen, sich mit anspruchsvollen Mathematikaufgaben zu beschäftigen und auf dieser Basis Unterrichtseinheiten zu planen, die dann allen zur Verfügung gestellt wurden. Sie wurden außerdem dazu angeleitet, durch Maßnahmen wie offene Fragen („Was bemerkst du?“), Übungen zum Aufwärmen und zum Abschluss der Stunde („exit slips“) das Denken der Lernenden zu eruieren.
Die Forschenden führten über vier Jahre hinweg jährlich halbstrukturierte Interviews mit den beteiligten Mathematiklehrkräften (pro Jahr 32 bis 38), den Schulleitungen und der Projektcoachin, so dass insgesamt 165 Interviews ausgewertet wurden. Dabei kam ein a priori erstelltes Kodierschema auf der Basis bereits vorhandener Forschungsergebnisse zum Einsatz, das während des Kodierens ständig erweitert wurde.
Zusätzlich werteten die Forschenden die beobachteten Treffen sowie die in diesen Treffen benutzten Dokumente aus, wie Tagesordnungen, Arbeiten von Lernenden etc. Die Interrater-Reliabilität wurde dadurch sichergestellt, dass Interviews sowohl einzeln als auch gemeinsam kodiert und die Ergebnisse verglichen wurden. Dieser Prozess wurde so lange wiederholt, bis ein Einverständnis über die verwendeten Codes vorlag.
Bei der Auswertung der Daten stellten die Forschenden fest, dass die Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen, die die Lehrkräfte gemacht hatten, größer waren als die Unterschiede. Sie werteten die Daten deshalb nicht kontrastiv aus, sondern gemeinsam.
Zu Beginn der Untersuchung stellten die Forschenden eine große Bereitschaft bei den Lehrkräften fest, datengestützt zu arbeiten, aber gleichzeitig auch eine große Frustration, weil es diesen nicht gelang, die vorhandenen, eher „groben“ Daten (z. B. Abschneiden in zentralen Tests) zu einer Verbesserung ihres Unterrichts zu nutzen, und weil sie sich in einem Zwiespalt sahen, einerseits die Vorgaben der Bildungsadministration und andererseits die Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler zu erfüllen.
Die Zusammenarbeit in regelmäßig stattfindenden Arbeitsgruppen unterstützte die Lehrkräfte dabei, gemeinsam Unterrichtseinheiten zu entwerfen, die einerseits den administrativen Vorgaben entsprachen, andererseits aber Einblicke in das Denken der Lernenden nutzten, um kognitiv anregende Lerngelegenheiten zu schaffen.
Durch die Teilnahme an den Arbeitsgruppen entwickelten die Lehrkräfte ein vertieftes Verständnis für das mathematische Denken der Lernenden, lernten neue Wege kennen, dieses im Unterricht zu fördern und nutzten dieses Verständnis zu einer Anpassung ihrer Unterrichtsplanung. Außerdem reflektierten sie vermehrt ihr eigenes unterrichtliches Handeln.
Für die Rückmeldung zum Kompetenzaufbau der Lernenden nutzten die Lehrkräfte zunehmend informelle Formen wie ein Gespräch über Lösungswege oder kleine Aufgaben zu Beginn oder am Ende der Unterrichtsstunde und berichteten auch in anderen Feldern von Veränderungen in ihrer Unterrichtspraxis.
Bei den Lernenden beobachteten die Lehrkräfte eine Zunahme von Selbstvertrauen in Bezug auf ihre mathematischen Fähigkeiten.
Die Forschenden ziehen den Schluss, dass Einblicke in die Denkprozesse der Lernenden dann eine nützliche Datenquelle darstellen, wenn sie formativ genutzt werden, also stetig in unterrichtlichen Prozessen, um den Unterricht an die Bedürfnisse der Lernenden anzupassen. In diesem Sinne stellen diese Datenquelle und der Prozess ihrer Nutzung eine Ergänzung zu dem üblichen Verständnis von datengestütztem Handeln dar, da sie nicht in einem großangelegten Zyklus stattfinden, in dem die Evaluation von Maßnahmen erst am Schluss erfolgt, sondern ständig neue Evaluationsdaten kreiert werden, auf die kurzfristig reagiert wird. Sie plädieren dafür, Denkprozesse von Lernenden stärker als Quelle für datengestütztes Handeln zu nutzen und ein gezieltes und langfristig angelegtes Coaching in diesem Bereich einzusetzen.
Hintergrund
Die Forschenden stellen deutlich dar, in welchen didaktischen Konzepten die Grundannahmen ihrer Studie verortet sind. Diese liegen teilweise etwas abseits von den Diskussionen in Deutschland bzw. benutzen andere Begrifflichkeiten wie z. B. „Backward Design“.
Die Herkunft der deduktiv erstellten Kategorien bleibt etwas undeutlich.
Design
Die Datenauswertung erfolgt sehr zusammenfassend, ohne dass klar ist, welche Informationen aus welchen Quellen stammen. Beispielweise wird gesagt, dass die Antworten der Lehrkräfte mehr Verbindendes als Unterschiedliches hatten. So werden die Ergebnisse der Interviews zusammenfassend dargestellt, ohne dass nachvollziehbar wäre, ob eine Aussage nur in einem Interview gefallen ist oder in allen, oder ob es z. B. auch abweichende Antworten gegeben hat.
Ergebnisse
Die Forschenden gehen der Frage nach, wie bei den Lehrkräften „capacity building“ stattfindet, um ihren Unterricht datengestützt zu planen und durchzuführen, indem sie das Denken der Schülerinnen und Schüler als eine Form von Daten nutzen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die regelmäßigen Treffen in Arbeitsgruppen unter Anleitung einer Coachin Lehrkräfte dabei unterstützen konnten, Unterrichtseinheiten zu entwickeln, die sowohl den curricularen Vorgaben entsprachen als auch das Denken der Lernenden einbezogen, um anregende Lerngelegenheiten zu schaffen. Die Lehrkräfte vertieften ihr Verständnis für mathematisches Denken, förderten es gezielt im Unterricht und passten ihre Planung entsprechend an. Informelle Rückmeldungen wie Gespräche über Lösungswege oder kurze Aufgaben gewannen an Bedeutung. Zudem berichteten die Lehrkräfte von Veränderungen in ihrer Praxis und beobachteten bei den Lernenden ein gesteigertes Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten.
Die Forschenden betonen, dass Einblicke in die Denkprozesse der Lernenden eine wertvolle Datenquelle sind, besonders wenn sie formativ genutzt werden. Dies ergänzt das klassische Verständnis von datengestütztem Handeln, da hier fortlaufend Evaluationsdaten entstehen, die kurzfristige Anpassungen ermöglichen, anstatt Maßnahmen erst nachträglich zu bewerten. Dies kann ein wichtiger Impuls für Unterrichtsentwicklung sein und datengestütztes Handeln näher an die Lehrkräfte holen.
Die Forschenden machen aber auch die Notwendigkeit eines langfristigen Coachings in diesem Bereich deutlich, wenn Lehrkräfte zu dieser Art der Unterrichtsplanung und -adaption befähigt werden sollen. Dies bekräftigt, dass datengestützte Schulentwicklung Ressourcen benötigt.
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