Fragestellungen der Studie:

  • Wie kann eine gemeinsam erarbeitete Vision die Schulentwicklung fördern?

Rezension zur Studie

Toikka, T. & Tarnanen, M. (2024). A shared vision for a school: developing a learning community. Educational Research, 66(3), 295–311.

In dem Artikel von Toikka und Tarnanen wird von den Ergebnissen einer Interviewstudie berichtet, die sich mit der Bedeutung einer gemeinsamen Vision für die Entwicklung einer „Learning Community“ beschäftigt. Im Mittelpunkt der Studie steht folgende Frage: Wie verbinden die Leiterinnen und Leiter von Lehrerinnen- und Lehrerteams zur Schulentwicklung und Schulleiterinnen und Schulleiter eine gemeinsam erarbeitete Vision für die Schulentwicklung mit dem Prozess der Entwicklung einer „Learning Community“?

Die Forschenden begleiteten im Rahmen eines vom finnischen Bildungsministerium geförderten Projekts den Prozess des Zusammenschlusses zweier Schulen zu einer Gesamtschule. Dabei untersuchten sie, welche Rolle eine im Rahmen dieses Prozesses erarbeitete gemeinsame Vision für die weitere Entwicklung der gemeinsamen Schule im Bewusstsein der Mitglieder des Schulentwicklungsteams spielte.

Zur Beantwortung dieser Fragen wurden 7 Interviews mit Mitgliedern der Schulentwicklungsgruppe – darunter die beiden Schulleiter der fusionierten Schulen – geführt und thematisch ausgewertet.

Als wichtiges Ergebnis der Studie wird benannt, dass die Rahmenbedingungen und die Ausgangslage einer Schule einen großen Einfluss darauf haben, inwieweit eine gemeinsame Vision als Katalysator für Schulentwicklungsprozesse dienen kann. So nennen die interviewten finnischen Lehrkräfte beispielweise fehlende Kommunikation und zeitliche Ressourcen als Hemmnisse für die gemeinsame Arbeit und sprechen die Notwendigkeit an, die ganze Schulgemeinde bei der Verfolgung der gemeinsamen Vision miteinzubeziehen. Da der Umzug in ein gemeinsames, neues Schulgebäude ansteht, wird von einigen Befragten die Gefahr gesehen, dass diese räumlichen Gegebenheiten wichtige andere Themen der Unterrichtsgestaltung oder übergeordneter pädagogischer Ziele verdrängen könnten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anerkennung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Ausgangslagen von Schulen von entscheidender Bedeutung ist. Werden die individuellen Rahmenbedingungen beachtet, kann die Verbindung zwischen der gemeinsamen Vision und dem täglichen Handeln produktiv sein. Die Herausforderung, diese Vision kontinuierlich ins Bewusstsein zu rufen und sie stetig in den Prozess der „Learning Community“ einzubetten, bleibt aber bestehen.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Welche gemeinsame Vision für die Schulentwicklung liegt dem Handeln an unserer Schule zugrunde?
  • Wie verankert ist sie bei den Mitgliedern der Schulgemeinschaft?
  • Wie verbinden wir sie mit unserem täglichen Handeln?
  • Wie ist das Verhältnis von den dort formulierten Zielen zu unserem Schulalltag?
  • Inwiefern reflektieren wir diese Ziele vor dem Hintergrund unserer „eingefahrenen“ Handlungsmuster?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche gemeinsame Vision für die Schulentwicklung liegt dem Handeln an unserer Schule zugrunde?
  • Wie verankert ist sie bei den Mitgliedern der Schulgemeinschaft?
  • Wie verbinden wir sie mit unserem täglichen Handeln?
  • Wie ist das Verhältnis von den dort formulierten Zielen zu unserem Schulalltag?
  • Inwiefern reflektieren wir diese Ziele vor dem Hintergrund unserer „eingefahrenen“ Handlungsmuster?
  • Welche Ressourcen stelle ich zur Verfügung, um an und mit unserer gemeinsamen Vision zu arbeiten?
  • Wie stelle ich Kommunikation und Transparenz in diesem Bereich sicher?

Die Studie knüpft an das Konzept der „Learning Organization“ an, das u. a. von Peter Senge (1990) in den 1990er Jahren entwickelt und später (2000) für Schulen spezifiziert wurde. Er nennt fünf Merkmale einer „Learning Organization“, die dieselbe befähigen, sich ständig weiterzuentwickeln und die sich immer verändernden Herausforderungen zu meistern: „self mastery“ (Fähigkeit zur persönlichen Weiterentwicklung und Selbstführung), gemeinsam entwickelte Zukunftsvisionen, das Lernen im Team, das Denken im System und mentale Modelle zur kritischen Reflexion (vgl. Senge, 1990).

Einer gemeinsam entwickelten Vision, die von allen Beteiligten geteilt und beständig weiterentwickelt wird, wird dabei eine zentrale Rolle zugemessen. Toikka und Tarnanen führen aus, dass sie den Entwicklungsprozess einer Organisation fördern kann, weil sie ein „shared picture of the desired future“ (Toikka & Tarnanen, 2024, 2) (etwa: gemeinsames Bild der gewünschten Zukunft) kreiert und damit den Beteiligten die Richtung zu dem gemeinsamen Ziel weist. Dabei sei besonders der Weg hin zu dieser Vision wichtig, da dafür Kollaboration, gegenseitiges Vertrauen und ein Gefühl von Sicherheit nötig seien, damit es zu einem Austausch und Aushandeln von Ideen kommen könne.

In der Schule, in der die Erhebung durchgeführt wurde, begleiteten die Forschenden den Prozess hin zu einer gemeinsamen Vision. Diese wurde in einem Video festgehalten und betont die Notwendigkeit einer positiven Lernumgebung, die Neues ausprobiert und von der Praxis ausgeht. Sie beruht auf der Vorstellung einer sicheren, sich entwickelnden, toleranten, das Wohlbefinden fördernden und offenen Schule, in der alle Mitglieder gleichberechtigt und in gegenseitigem Respekt zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

Die Forschenden führten 2019 insgesamt 7 teilstrukturierte Interviews mit Angehörigen der Leitungsebene einer finnischen Gesamtschule, die zum Zeitpunkt der Erhebung durch die Zusammenführung einer Grund- und einer Sekundarschule neu entstand. Interviewt wurden die beiden Schulleitungen und fünf weitere Mitglieder der Schulentwicklungsgruppe, in je ca. 60-minütigen Interviews, zu den Themen gemeinsame Vision, Teamarbeit, Zukunft der Schulgemeinschaft und berufliche Entwicklung und Lernen.

Zuvor hatten die Forschenden seit dem Frühjahr 2017 die beiden Schulen in ihrem Fusionsprozess und bei der Entwicklung einer gemeinsamen Vision begleitet und unterstützt. Dabei hatten sie mit allen Mitgliedern der Schulgemeinschaft, die dazu bereit waren, Interviews geführt, um sich ein besseres Bild der Ausgangssituation machen zu können. Die Interviews wurden in einem mehrstufigen Prozess von den beiden Forschenden nach den Grundsätzen der „Thematic Analyses“ (Nowell, Norris, White & Moules, 2017) ausgewertet.

Die eingehende Analyse ergab fünf Hauptthemen, die von den Interviewten im Zusammenhang mit der gemeinsamen Vision angesprochen wurden:

1. Kommunikation der gemeinsamen Vision und Transparenz

Die Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Vision für die Entwicklung der Schule wird im Großen und Ganzen positiv gesehen. Als Probleme werden fehlende Kommunikation, fehlende zeitliche Ressourcen und ein langwieriger Abstimmungsprozess genannt. Für die Zukunft wird als Aufgabe identifiziert, die Vision von und die Realität in der Schule miteinander zu verbinden, ohne Enttäuschungen und Irritation in der Schulgemeinschaft auszulösen.

2. Gegenwärtige und fehlende Themen in der gemeinsamen Vision

„Wellbeing“ und Sicherheit sind die vorherrschenden Themen im Schulentwicklungsprozess, weil der Umzug in ein neues Gebäude ansteht. Bei den Interviewten besteht die Sorge, dass dadurch andere wichtige Themen wie die pädagogische Entwicklung, Nachhaltigkeit oder fächerverbindendes Arbeiten, deren Bedeutung betont wird, zu wenig Beachtung finden.

3. Tradition und Innovation

Die Interviewten sehen althergebrachte Verhaltensmuster als hemmend für die Schulentwicklung an. Die Vision für die Schule kann ihrer Meinung nach positiv wirken, indem sie neue Denkwege öffnet.

4. Der langfristige Charakter der Schulentwicklung

Die Interviewten betonen, dass Schulentwicklung ein Prozess ist, der auf lange Sicht angelegt sein muss. Dabei ist es zum einen wichtig, dass Raum für Aushandlungsprozesse gegeben wird, zum anderen, sich die Vision(en) immer wieder vor Augen zu halten.

5. Die Rolle der Vision im Schulalltag

Für die Interviewten scheint der Abstand zwischen der gemeinsamen Vision und dem Schulalltag groß zu sein und es wird die Notwendigkeit gesehen, diesen Abstand zu überwinden, und die Kommunikation mit den Eltern und Erziehungsberechtigten, aber auch innerhalb der Beschäftigten an der Schule, zu diesem Thema zu stärken.

Die Analyse macht deutlich, wie die Vergangenheit und die Gegenwart einer Schule eine gemeinsame Vision und die Schulentwicklung beeinflussen. Sie liefert damit Hinweise, dass innerschulische Prozesse immer in einem engen Zusammenhang mit den organisatorischen Rahmenbedingungen, aber auch den sozialen Beziehungen zwischen den am Schulleben Beteiligten stehen. Dass die Studie die Bedeutung einer gemeinsamen Vision in den Mittelpunkt stellt und betont, dass die Arbeit mit dieser ständig am Leben gehalten und ins Bewusstsein der Beteiligten gerückt werden muss, könnte für deutsche Schulen ebenfalls Impulse liefern.

Hintergrund
Die Studie basiert auf Studien, die bereits zu dem Konzept der „Learning Communitiy“ durchgeführt wurden und sich teilweise auch auf Schulen beziehen. Dies macht die Grundlegung dieses Konzepts mit dem zentralen Element einer „shared vision“ plausibel.

Design
Die Forschenden weisen selbst darauf hin, dass die Ergebnisse der Studie nicht verallgemeinert werden können. Die Daten stammen aus nur einer Schule und dort nur von Mitgliedern des Leitungsteams. Das schmälert jedoch nicht ihre Aussagekraft, denn es ist gerade das Anliegen der Forschenden, darauf hinzuweisen, dass es die unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Ausgangslagen sind, die dazu führen, dass eine gemeinsame Vision unterschiedlich in die Entstehung einer „Learning Community“ hineinwirken kann.

Ergebnisse
Die Themen, die sich aus der Analyse der Interviews ergeben, stellen verschiedene Aspekte und Überlegungen in den Vordergrund, die für die Schulentwicklung wichtig sind. Dazu gehören Kommunikation und Transparenz, Tradition und Innovation, die Langfristigkeit der Schulentwicklung und die Rolle einer gemeinsamen Vision für den Schulalltag. Sie unterstreichen die Bedeutung einer klaren Kommunikation über die gemeinsame Vision einer Schule und die Notwendigkeit von Diskussionen und Verhandlungen während der Entwicklung einer Schule. Es wird deutlich, dass Transparenz innerhalb der Schulgemeinschaft als wichtig angesehen wird, da eine Kultur der mangelnden Transparenz zu Konflikten führen kann. Weiterhin stellen die Befragten die Bedeutung alter Gewohnheiten heraus, die trotz einer gemeinsamen Vision Entwicklungsprozesse hemmen können. Aus der Perspektive der Schulentwicklung sehen es die Forschenden als wichtig an, gewohnte Vorgehensweisen infrage zu stellen. Darüber hinaus finden die Forschenden bei den befragten Lehrkräften ein Bewusstsein für den langfristigen Charakter der Schulentwicklung und dafür, dass nicht alle Konzepte, die mit der gemeinsamen Vision verbunden sind, innerhalb eines einzigen Schuljahres verwirklicht werden können. Als bemerkenswert sehen es die Forschenden weiterhin an, dass die Lehrkräfte einen Abstand zwischen der gemeinsamen Vision und der alltäglichen Realität der Schule sehen und deshalb eine kontinuierliche Information der Schulgemeinde für notwendig erachten.

Insgesamt mahnt die Studie zu einem sorgsamen Umgang mit dem Element einer gemeinsamen Vision im Prozess der Schulentwicklung und weist auf viele Faktoren hin, die Beachtung finden müssen, wenn das Projekt einer „Learning Community“ positive Impulse erhalten soll. So ist sie geeignet, Impulse für die Schulentwicklung zu setzen.

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Unterstützung für die Praxis
Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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