Fragestellungen der Studie:

  • Unterscheiden sich die bilingualen von den monolingualen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der Quantität der Fehler?
  • Unterscheiden sich die bilingualen von den monolingualen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der Art der gemachten Fehler, betreffen sie also unterschiedliche Fehlerkategorien?

Rezension zur Studie

Nimz, K. (2022). Orthographische Kompetenzen deutsch-türkisch bilingualer Schüler*innen: Sekundäranalysen des MULTILIT-Korpus. In K. Nimz, K. Schmidt & C. Noack (Hrsg.). Mehrsprachigkeit und Orthographie. Empirische Studien an der Schnittstelle zwischen Linguistik und Erziehungswissenschaft. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 31-50.

Katharina Nimz analysiert für ihre Studie orthographische Fehlschreibungen in einem Textkorpus, das deskriptive und argumentierende Texte von Schülerinnen und Schülern aus 5., 7. und 10. Klassen umfasst. Etwa die Hälfte der Schreibenden hat einen monolingual deutschen Hintergrund, die andere Hälfte einen bilingual deutsch-türkischen.

In ihrer Sekundäranalyse des MULTILIT-Korpus der Universität Potsdam geht Nimz zwei Fragen nach:

1. Unterscheiden sich die Texte der bilingualen von den monolingualen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der Quantität der Fehler?

2. Unterscheiden sich die Fehlerquotienten der beiden Gruppen hinsichtlich der Art der gemachten Fehler, betreffen sie also unterschiedliche Fehlerkategorien?

Bezüglich der ersten Frage zeigt sich zunächst, dass die bilingualen Schreibenden mehr Fehler machen. Allerdings ist dieser Befund nicht signifikant. Andere Faktoren wie Geschlecht oder Klassenstufe müssen bei den Berechnungen mitberücksichtigt werden. Bei der Untersuchung der zweiten Fragestellung zeigen sich Unterschiede im Bereich der syntaktisch begründeten Schreibungen: Sowohl bei der Groß- und Kleinschreibung als auch bei der Getrennt- und Zusammenschreibung machen die bilingualen Schülerinnen und Schüler signifikant mehr Fehler.

Nimz vermutet dafür Gründe in den Strukturen der Erstsprache Türkisch. Diese Vermutungen lassen sich aus den Daten der Studie aber nicht belegen. Sie zieht das Fazit, dass der Bereich der syntaktischen Schreibungen für alle Lernenden ein sehr schwieriger ist, dass bilinguale Lernende in diesem Bereich aber besondere Unterstützung brauchen und weitere Forschung nötig ist, um möglicherweise spezifische Bedürfnisse je nach Erstsprache zu eruieren und berücksichtigen zu können.

Für den Unterricht lässt sich festhalten, dass es ratsam ist, beim Aufbau der Kompetenzen im syntaktischen Bereich die Lernenden mit einer anderen Erstsprache besonders im Blick zu haben. Die Studie unterstreicht außerdem den großen Stellenwert, den die syntaktischen Prinzipien in der Rechtschreibdidaktik einnehmen müssen, denn unabhängig von der Erstsprache sind sie der fehlerstärkste Bereich.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Wie beziehe ich die Erstsprachen meiner Schülerinnen und Schüler bei der Förderung ihrer orthographischen Kompetenzen ein?
  • Welches sind die Fehlerschwerpunkte meiner Schülerinnen und Schüler und welchen Stellenwert haben diese bei der Planung meines Orthographieunterrichts?
  • Welche gezielten Übungen kann ich in meinen Unterricht einbringen, um meine Schülerinnen und Schüler im Bereich der Laut-Buchstaben-Zuordnung zu unterstützen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Rolle spielen an unserer Schule die Erstsprachen der Schülerinnen und Schüler?
  • Wie werden diese gezielt bei der Förderung sprachlicher Kompetenzen mit herangezogen?

Die Studie stützt sich auf bereits vorhandene – bildungswissenschaftliche und sprachwissenschaftliche/sprachdidaktische – Studien zu den Unterschieden in der Rechtschreibkompetenz zwischen mono- und bilingualen Schülerinnen und Schülern.

Der Blick in die bildungswissenschaftlichen Studien zeige ein uneinheitliches Bild. Den großen Schulleistungsstudien KESS (Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern) und VERA (Vergleichsarbeiten) sei gemein, dass bilinguale Schülerinnen und Schüler fast durchweg eine geringer ausgeprägte Rechtschreibkompetenz zeigen als die monolingualen. Die DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistung International, DESI-Konsortium 2008) stelle dagegen im Bereich der Rechtschreibung keine schlechteren Leistungen bei den bilingualen Jugendlichen fest. Nimz weist darauf hin, dass sich die Studien in der Methodik stark unterscheiden und ihre Ergebnisse deshalb nur schwer vergleichbar seien: Während manche Studien komplexe Texte verfassen oder ein Diktat schreiben ließen (z. B. die DESI-Studie), mussten in anderen nur Lückentexte ausgefüllt oder Multiple-Choice-Aufgaben beantwortet werden.

Die herangezogenen sprachwissenschaftlichen bzw. sprachdidaktischen Studien betrachten die Rechtschreibkompetenz differenzierter. Sie führen nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Fehleranalysen durch. Ihnen ist gemein, dass sie sich auf frei geschriebene Texte beziehen und durchweg eher geringe Probandenzahlen untersuchten. Ein Teil der Ergebnisse wurde zudem nur deskriptiv ausgewertet (Fix, 2002, und Steinig et al., 2009). Die Studien beleuchten unterschiedliche Fehlerkategorien und nehmen nur Schülerinnen und Schüler bis zur Jahrgangsstufe 8 in den Blick. Jeuk (2012) und Thomé (1987) untersuchen, ob zweisprachig deutsch-türkische Schülerinnen und Schüler vermehrt orthographische Fehler aufgrund der unterschiedlichen Phonem- und schriftlichen Umsetzung im Graphemsystem der beiden Sprachen machen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die bilingualen Kinder insgesamt mehr Rechtschreibfehler machen, Interferenzfehler aber eher selten sind. Fix und Steinig stellen fest, dass die Gesamtfehlerquote der bilingualen Kinder und Jugendlichen höher ist und sie besonders bei der Groß- und Kleinschreibung und der Doppelkonsonantenschreibung mehr Probleme haben als monolinguale.

Für die Studie wurden 166 Texte aus dem Textkorpus MULTILIT, die von 83 Schülerinnen und Schülern (28 monolingual deutsch und 55 bilingual deutsch-türkisch) aus 5., 7. und 10. Klassenstufen unterschiedlicher Berliner Schulen stammen, analysiert.

Von allen Schreibenden lagen jeweils zwei Texte vor: Der eine Text beschrieb anschließend an einen Schreibimpuls durch einen Stummfilm Alltagsprobleme in der Schule, der andere kommentierte diese.

Ergänzend zu den geschriebenen Texten lagen von allen Personen ausgefüllte Fragebögen vor. Diese enthielten neben demographischen Daten Angaben zu Sprachhintergrund und Sprachgebrauch.

Für die Auswertung wurden die orthographischen Fehler in fünf Kategorien untersucht: phonographische Abweichungen, silbische Abweichungen, morphologische Abweichungen, syntaktische Abweichungen und Abweichungen in der Zeichensetzung. Diese Einteilung erfolgte in Anlehnung an die linguistische Beschreibung der deutschen Rechtschreibung von Eisenberg (2013) und Fuhrhop (2020). Grammatische Fehler, die nicht ausdrücklich orthographisch bedingt waren, wurden ausgeschlossen. Die Daten wurden mit dem Statistikprogramm R (R Core Team 2021) ausgewertet und interferenzstatistisch überprüft, indem linear gemischte Modelle mit den Faktoren Sprachhintergrund (monolingual, bilingual), Fehlerkategorie (s. o.) und den Kontrollfaktoren Geschlecht, Klassenstufe und Textsorte gerechnet wurden. Zudem wurden Interaktionen zwischen diesen Faktoren und dem Sprachhintergrund analysiert.

In Bezug auf die Frage, ob sich die bilingualen von den monolingualen Schülerinnen und Schülern hinsichtlich der Quantität der Fehler unterscheiden, fand Nimz, dass sich die Unterschiede, die sich in den Rohdaten fanden, als (knapp) nicht signifikant (p = 0.06) herausstellten. Bei der Quantität der Fehler waren dagegen die Variablen Klassenstufe und Textsorte von signifikantem Einfluss. Der Fehlerquotient (= Anzahl aller orthographischen Fehler geteilt durch die Anzahl aller Wörter und Zeichen im Text) nahm von der Jahrgangsstufe 5 zur Jahrgangsstufe 10 von ca. 0.24 auf ca. 0.08 ab. Der anspruchsvollere Text Argumentation provoziert mehr Fehler als der beschreibende (0.16 im Vergleich zu 0.13).

Signifikante Unterschiede zwischen monolingualen und bilingualen Schreibenden fanden sich nur in der Fehlerkategorie „Syntaktische Abweichungen“ (p = 0.02), also bei den Fehlern, zu deren Vermeidung syntaktische Bezüge herangezogen werden müssen, wie die Groß- und Kleinschreibung und die Getrennt- und Zusammenschreibung. In dieser Kategorie schnitten die bilingualen Schülerinnen und Schüler in allen Klassenstufen schlechter ab. Die Forschungsfrage 2 kann also mit Ja beantwortet werden: Die Fehlerqualität der mono- und bilingualen Lernenden unterscheidet sich. Letztere haben mehr Probleme in den Bereichen Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- und Zusammenschreibung. Über die Gründe und mögliche Verbindungen zur Erstsprache kann aufgrund fehlender Studien nur spekuliert werden.

Hintergrund
Die Autorin verortet ihre Studie präzise in den bisher vorliegenden Forschungsergebnissen aus Bildungsforschung und sprachwissenschaftlicher/sprachdidaktischer Forschung und ordnet diese entsprechend ein. Die Leserinnen und Leser erhalten so einen Überblick über bereits vorliegende Ergebnisse und Forschungsdesiderate (zum Beispiel bei der Erfassung und Berücksichtigung unterschiedlicher Erstsprachen).

Design
Anlage und Durchführung der Studie sind ausführlich und nachvollziehbar dargestellt. Interessant wäre die Erhebung des Bildungshintergrunds gewesen als weiterer möglicherweise einflussreicher Variante. Erhellend wären außerdem an einigen Stellen Angaben zu zusammenfassenden Ergebnissen für beide Gruppen gewesen, beispielsweise wenn es um die Entwicklung von Fehlerquotienten über die Jahrgangsstufen hinweg geht.

Ergebnisse
Die Ergebnisse lenken den Blick auf einen immer noch vergleichsweise wenig erforschten Bereich der Sprachdidaktik: den Aufbau der Rechtschreibkompetenz bei bilingualen Schülerinnen und Schülern. Sie bestätigen, dass dort Defizite zu beobachten sind. Das trifft aber nicht nur auf die bilingualen, sondern auch auf die monolingualen Lernenden zu. Dass die syntaktischen Schreibungen den zweisprachigen Schülerinnen und Schülern signifikant mehr Probleme bereiten als ihren monolingualen Mitschülerinnen und Mitschülern, kann eine Ursache darin haben, dass die Erstsprache Türkisch beispielsweise keine Großschreibung kennt. Daher kann es ratsam sein, beim Aufbau der Kompetenzen in diesem Bereich die Lernenden mit einer anderen Erstsprache besonders im Blick zu haben. Dieser Befund unterstreicht außerdem den großen Stellenwert, den die syntaktischen Prinzipien in der Rechtschreibdidaktik einnehmen müssen, denn unabhängig von der Erstsprache sind sie der fehlerstärkste Bereich.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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