Fragestellungen der Studie:

  • Welche Bedeutung kommen kommunikativen und handlungsleitenden Wissensbeständen von Lehrpersonen bei der Nutzung von Forschungsergebnissen zu?

Rezension zur Studie

Hinzke, J.-H., Gesang, J. & Besa, K.-S. (2020). Zur Erschließung der Nutzung von Forschungsergebnissen durch Lehrpersonen. Forschungsrelevanz zwischen Theorie und Praxis. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23, 1303–1323.FIS Bildung

Hinzke, Gesang und Besa gehen in ihrer Studie der Frage nach, welche Bedeutung den kommunikativen (zum Beispiel Common-Sense-Theorien) und handlungsleitenden (zum Beispiel Habitus) Wissensbeständen von Lehrpersonen bei der Nutzung von Forschungsergebnissen zukommt, um Ansatzpunkte dafür zu finden, wie sich dieses Nutzungsverhalten vertiefend analysieren lässt und wie sich letztlich evidenzbasiertes Handeln fördern lässt.

Im Rahmen der Studie wurden Interviews mit Lehrkräften analysiert und zwei Hauptbereiche identifiziert: Erstens wurden Common-Sense-Theorien zum Umgang mit Forschungsergebnissen herausgearbeitet, wie eine forschende Grundhaltung oder die Ablehnung der Relevanz solcher Ergebnisse. Zweitens wurden drei Typen von Habitus identifiziert, die sich auf die Balance zwischen Heteronomie und Autonomie im Klassenzimmer bezogen. Diese Habitus-Typen prägten den Umgang der Lehrkräfte mit Forschungsergebnissen, wobei festgestellt wurde, dass der Habitus den Rahmen für den Umgang mit Forschungsergebnissen bildet.

Die Autoren und die Autorin schließen daraus, dass es nicht sinnvoll ist, Lehrkräften die Nutzung von Forschungsergebnissen vorzuschreiben oder zu erwarten, dass sie direkt Handlungsanweisungen daraus ableiten. Stattdessen sollte der Habitus der Lehrpersonen berücksichtigt werden, um evidenzbasiertes Handeln zu fördern.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Was weiß ich über meine Common-Sense-Theorien zur Bedeutung von Forschungsergebnissen für meinen Unterricht?
  • Welche Rolle spielen Forschungsergebnisse in meinem beruflichen Handeln?
  • Wo verorte ich mich zwischen den Polen von Heteronomie und Autonomie?
  • Wie kann ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen in einen Austausch über deren Handeln und Einstellungen in diesem Bereich treten?
  • Wie können wir diese Reflexionen für einen Ausbau von evidenzbasiertem Handeln in unserem Schulalltag nutzen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Was weiß ich über die Common-Sense-Theorien zur Bedeutung von Forschungsergebnissen in meinem Kollegium?
  • Welche Rolle spielen Forschungsergebnisse im beruflichen Handeln meines Kollegiums?
  • Wie kann ich mein Kollegium unterstützen, in einen Austausch über die Bedeutung von Forschungsergebnissen zu treten?
  • Wie können wir diese Reflexionen für einen Ausbau von evidenzbasiertem Handeln in unserem Schulalltag nutzen?

Ausgangspunkt der Studie ist der Befund, dass Lehrpersonen und Schulleitungen sich zwar offen gegenüber Forschungsergebnissen der Bildungsforschung, Didaktik oder Psychologie zeigen, diese aber selten in eigenes unterrichtliches Handeln übersetzen (vgl. zum Beispiel den Überblick in Zlatkin-Troitschanskaja, 2016). Dieses Verhalten stehe in einem Spannungsverhältnis zu den Erwartungen der Bildungsadministration, Schulpraxis evidenzbasiert weiterzuentwickeln (Hinzke et al., 2020, 1307).

Den Hintergrund der Studie bildet dabei die Praxeologische Wissenssoziologie nach Bohnsack (2017). Analog zu den Annahmen Bohnsacks stellen die Forschenden die Diskrepanz zwischen der propositionalen und der performativen Logik in den Mittelpunkt ihrer Analyse. Unter der propositionalen Logik werden Orientierungsschemata verstanden, welche in dieser Studie als Common-Sense-Theorien (Theorien über die Praxis des eigenen und fremden Handelns) und wahrgenommene Normen (Erwartungen in Bezug auf das Handeln in einem sozialen Gefüge) als bedeutsam rekonstruiert wurden. Die performative Logik hingegen bilde einen Orientierungsrahmen und stehe in Verbindung mit dem Vorhandensein eines „kollektiven Habitus“, in dem „sich von mehreren Lehrpersonen geteiltes ‚konjunktives‘, d.h. implizites und handlungsleitendes Wissen ausdrückt“ (Hinzke et al., 2020, 1309). Die Diskrepanz zwischen beiden Logiken ergebe sich daraus, dass die propositionale Logik eine theoretisierende und normenorientierte Perspektive, die performative Logik demgegenüber eine praktische Perspektive einnehme.

Die präsentierten Ergebnisse sind Teil der Daten des Forschungsprojekts „Nutzung von Bildungsforschung durch Lehrpersonen“ (NuBil) an der Universität Bielefeld (2018/19). Für die Interview-Teilstudie wurden 19 episodische Interviews (Flick, 2016) geführt, denen derselbe Leitfaden zugrunde lag. Die Lehrkräfte stammten aus fünf Schulen (zwei Grundschulen und drei Gymnasien) in zwei verschiedenen Bundesländern (je einem Flächen- und einem Stadtstaat) und wurden durch die Schulleitungen ausgewählt, die zuvor per E-Mail angeschrieben worden waren.

In den Interviews wurden die Lehrpersonen zunächst durch sprachliche Impulse dazu animiert, aus ihrem beruflichen Alltag zu erzählen. So wurden sie beispielsweise dazu aufgefordert, eine schulische Situation aus den letzten beiden Wochen zu erzählen, die ihnen besonders in Erinnerung geblieben war. Erst in der zweiten Hälfte des Interviews wurden die Lehrkräfte gebeten darzustellen, „wann und wie sie erstmals mit Forschung in Kontakt gekommen sind, wie sich der Kontakt im weiteren beruflichen Alltagshandeln entwickelt hat und welche Rolle Forschungsergebnissen aktuell zukommt“ (Hinzke et al., 2020, 1310f.).

Bei der Datenauswertung bedienten sich die Forschenden der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2017, 77) mit den Schritten „formulierende Interpretation“ (Paraphrasierung des Gesagten und thematische Bündelung) und reflektierende Interpretation (Frage danach, wie etwas gesagt wird). Dabei wurde auf die oben dargelegte Unterscheidung in propositionale und performative Logik zurückgegriffen, indem Erstere aus argumentativen und bewertenden Textpassagen herausgearbeitet wurden, während Letztere aus Erzählungen und Beschreibungen rekonstruiert wurden.

Um aus den erzählenden und beschreibenden Äußerungen Aspekte der performativen Logik (Habitus) auch unabhängig von den konkret geschilderten Situationen zu rekonstruieren, wurde auf ein Problem aus dem Schulalltag zurückgegriffen, das in allen Interviews thematisiert wurde: „die Gestaltung der unterrichtlichen Interaktion unter den Aspekten Heteronomie und Autonomie“ (Hinzke et al., 2020, 1311). Aus dieser Analyse wurden Typen gebildet, die dann abschließend auf ihr Verhältnis zur Nutzung von Forschungsergebnissen untersucht wurden.

Die Forschenden stellen ihre Ergebnisse zunächst im Überblick dar und illustrieren sie dann anhand von zwei Fallbeispielen, um die Beziehungen zwischen den verschiedenen Ausprägungen der propositionalen und der performativen Logik zu verdeutlichen.

Auf der Ebene der propositionalen Logik identifizieren die Forschenden acht Common-Sense-Theorien über die Nutzung von Forschungsergebnissen, die beschreiben, „was die Interviewten unter Forschungsergebnisse fassen und wie sie diese nutzen“ (Hinzke et al., 2020, 1312). Vorab berichten Hinzke et al., dass keine Lehrperson von sich aus bei den narrativen Impulsen, etwas aus ihrem Schulalltag zu erzählen, zu Beginn der Interviews Forschungsergebnisse erwähnt hat, sondern dass dies erst auf konkrete Nachfragen geschah. Forschungsergebnisse werden durch Lehrpersonen genutzt, indem sie

  • diese individuell beispielsweise in Fachzeitschriften rezipieren,
  • sich im Kollegium mit diesen auseinandersetzen zum Beispiel bei Lernstandserhebungen,
  • selbst forschen (Durchführen von Evaluationen oder Forschen im Studium),
  • an Studien als Erforschte teilnehmen,
  • eine Grundhaltung an den Tag legen, die Forschungsergebnisse als Erkenntnisquelle ansieht,
  • Forschungsergebnisse als Unterrichtsgegenstand nutzen,
  • Schülerinnen und Schüler forschen lassen.

Auf der Ebene der performativen Logik (Habitus) identifizieren die Forschenden drei Typen in Bezug auf die Frage, wie mit dem Spannungsverhältnis zwischen Heteronomie (Fremdbestimmung der Lernenden durch die Lehrperson) und Autonomie (Selbstbestimmung der Lernenden) im Klassenzimmer umgegangen wird:

  • „Heteronomie auf Klassenebene – Umsetzung eines von der Lehrperson initiierten und gesteuerten gemeinsamen Unterrichts für alle, in dem die SchülerInnen keine Räume zur Selbstbestimmung erhalten;
  • Heteronomie und Einzelfallorientierung – Umsetzung eines von der Lehrperson initiierten und gesteuerten Unterrichts, in dem die Lehrperson fallorientiert und unterstützend auf einzelne SchülerInnen eingeht;
  • Heteronomie und partielle Autonomie – Umsetzung eines von der Lehrperson initiierten und gesteuerten Unterrichts, innerhalb dessen SchülerInnen partiell ermöglicht wird Entscheidungen hinsichtlich ihres Lernens zu treffen“ (Hinzke et al., 2020, 1313).

Bei der Analyse von zwei Fallbeispielen kommen die Forschenden zu dem Schluss, dass der Habitus der Lehrpersonen mit ihrem Umgang mit Forschungsergebnissen korrespondiert. So analysieren sie bei einer Lehrkraft einen Habitus, der durch Heteronomie auf Klassenebene geprägt ist, indem die Lehrerin „die eigenen Erwartungshaltungen im Unterricht durchzusetzen sucht und die SchülerInnen fremdbestimmt“ (Hinzke et al., 2020, 1315). Dieser Habitus findet sich im Umgang mit Forschungsdaten wieder, denn diese werden von der Lehrerin dann beachtet, wenn sie für sie hilfreich sein können, um eigene unterrichtliche Ziele zu erreichen, also die Heteronomie durchzusetzen. Das andere Fallbeispiel untermauert die Common-Sense-Theorie „keine Relevanz“, denn hier wird erkennbar, dass die Lehrerin eine Relevanz von Forschungsergebnissen für ihren Berufsalltag ausschließt, da diese aus ihrer Sicht keine situativen Lösungen für spezifische unterrichtsbezogene Probleme bieten (Hinzke et al., 2020, 1317f).

Hintergrund
Die Verankerung der Studie in der Praxeologischen Wissenschaftstheorie Bohnsacks gibt der Analyse der Interviews einen nachvollziehbaren Rahmen. Allerdings erscheint dieser angesichts der schlussendlich vorgenommenen Verengung der Analyse auf zwei Aspekte sehr komplex.

Design
Eingeschränkt wird die Aussagekraft der Studie zum einen – wie die Forschenden selbst betonen – durch die geringe Fallzahl der Befragten. Zum Zweiten ist zu beachten, dass die Typenbildung in Bezug auf den Habitus der Lehrpersonen ausschließlich auf den Erzählungen in den Interviews beruht. Hier wäre eine Ergänzung der Daten durch Unterrichtsbeobachtungen wünschenswert.

Ergebnisse
Für die Studie wurden Interviews mit Lehrpersonen ausgewertet und einerseits Common-Sense-Theorien zum Umgang mit Forschungsergebnissen herausgearbeitet, wie eine forschende Grundhaltung, die Forschungsergebnisse als Erkenntnisquelle ansieht, oder auch eine Negierung der Relevanz von solchen Ergebnissen. Andererseits wurden drei Typen von Habitus rekonstruiert, die sich auf die Gestaltung von Heteronomie und Autonomie im Klassenzimmer bezogen. Bei diesen drei Typen stand jeweils die Heteronomie – also Fremdbestimmung – der Lernenden im Vordergrund, denen aber unterschiedliche Autonomiegrade zugesprochen wurden. Zwischen beiden Ergebnissen stellten die Forschenden dergestalt einen Zusammenhang fest, dass der Habitus den Umgang mit Forschungsergebnissen rahmt, sodass das „Wissen [der Lehrkräfte], das ihr unterrichtsbezogenes Handeln strukturiert, [..] auch dem Sprechen über Forschungsergebnisse zugrunde [liegt], es bildet die Brille [sic] mit der die Lehrpersonen auf die Forschungsergebnisse blicken“ (Hinzke et al., 2020, 1319).

Hinzke et al. ziehen daraus den Schluss, dass es keine erfolgversprechende Strategie ist, den Lehrkräften die Nutzung von Forschungsergebnissen gleichsam zu verordnen oder zu hoffen, dass Lehrkräfte aus Studienergebnissen Handlungsanweisungen ableiten. Ihrer Meinung nach muss für eine Förderung evidenzbasierten Handelns der Habitus der Lehrpersonen mit in Betracht gezogen werden. Wie genau das geschehen soll, bleibt allerdings offen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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