Fragestellungen der Studie:

  • Sanken die Leseleistungen an Grundschulen während der COVID-19-Pandemie wirklich?

Rezension zur Studie

Förster, N., Forthmann, B., Back, M. D. & Souvignier, E. (2022). Effects of the COVID‑19 pandemic on reading performance of second grade children in Germany. Reading and Writing, 36, 289–315. https://doi.org/10.1007/s11145-022-10379-y.FIS Bildung

Ausgehend von den Erwartungen, dass die Leistungen der Lernenden durch bzw. während der COVID-19-Pandemie zurückgehen oder stagnieren, sind die verschiedenen Forschungsergebnisse hierzu weniger eindeutig. Daher sollen mit dieser Studie die kurz- und mittelfristigen Effekte der COVID-19-Pandemie auf die Leseleistung der Schülerinnen und Schüler der 2. Klassen in Deutschland untersucht werden. Die Studie umfasst eine vergleichsweise große Stichprobe von rund 19.500 Schülerinnen und Schülern in mehreren Kohorten, welche jeweils mehrfach befragt wurden. Die Leseleistungen wurden mittels der webbasierten Lernverlaufsdiagnostik-Plattform quop erhoben. Für die Datenauswertung werden die Schülerdaten in drei Kohorten geclustert (Vor-der-Pandemie-Kohorte, Pandemiekohorte 1, Pandemiekohorte 2) und statistisch mittels Modellberechnungen (konfirmatorische Faktoranalysen) analysiert.

In den Ergebnissen zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler der ersten Pandemiekohorte sogar besser in den Leseleistungen abschneiden als die Lernenden vor der Pandemie. Auch sind die interindividuellen Unterschiede während des ersten Lockdowns geringer als vor der Pandemie. In der zweiten Pandemiekohorte werden größere interindividuelle Unterschiede beobachtet als in der Kohorte vor der Pandemie. Wenngleich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern festgestellt werden, so hängen die Leseleistungen durchaus, wie auch bereits vor der Pandemie, mit dem Migrationshintergrund zusammen. Dieses Ergebnis zeigt deutlich die Notwendigkeit von großen Stichproben und kohortenübergreifenden, differenzierten Analysen.

Stärken der Studie sind das längsschnittliche Design, die Anzahl der untersuchten Kohorten sowie die Datenanalyse mit verschiedenen Methoden (Reanalyse mit Propensity-Score-Matching). Daher können die Ergebnisse für die weitere Gestaltung von Leseunterricht sowie die Professionalisierung von Lehrkräften bedeutsam sein.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Inwiefern habe ich mich bereits vor der COVID-19-Pandemie mit digitalen Medien im Unterricht sowie zur Kommunikation mit den am Schulleben beteiligten Personen beschäftigt?
  • Welche Unterschiede habe ich zwischen den verschiedenen Phasen der Schulschließungen hinsichtlich meiner digitalen und persönlichen Kompetenzen sowie der von anderen Beteiligten (z. B. Kollegium, Eltern, Lernende) beobachten können?
  • In welcher Weise habe ich mich hinsichtlich der neuen Anforderungen im Fernunterricht weitergebildet und informiert?
  • Inwiefern lassen sich nach der Pandemie Unterschiede in den Leseleistungen meiner Schülerinnen und Schüler beobachten?
  • Inwiefern schätzte ich das Alter der Lernenden während des Fernunterrichts als relevant für dessen Gestaltungsform (z. B. Methoden, Umfang) bzw. für dessen Erfolg ein?
  • Wie habe ich mich selbst im Fernunterricht gefühlt und wahrgenommen? Inwiefern gab es Unterschiede zwischen den verschiedenen Phasen des Fernlernens?
  • Gibt es Veränderungen in meinem Unterricht, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind? Welche?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Inwiefern wurden Lehrkräfte, Eltern und Lernende in den Phasen des Fernunterrichts unterstützt (digitale Endgeräte, Schulungen etc.)?
  • Welche Unterschiede zwischen den verschiedenen Methoden im Fernunterricht (Anzahl an Videokonferenzen, Arbeitsaufträge etc.) konnte ich innerhalb des Kollegiums beobachten?
  • Gibt es Hinweise darauf, dass es Zusammenhänge zwischen bestimmten eingesetzten Methoden und den erreichten Lernzielen bei den Schülerinnen und Schülern gibt?
  • In welcher Weise hat sich meine Rolle als Schulleitung durch die COVID-19-Pandemie verändert?
  • Konnten wir auf externe Unterstützungssysteme (Schulträger, Fortbildungen etc.) zugreifen und wurden diese Angebote wahrgenommen?
  • Gibt es Veränderungen an meiner Schule, die auf die COVID-19-Pandemie zurückzuführen sind? Welche?

Im Zuge der Ausbreitung des Coronavirus und der Entscheidungen der Regierungen bezüglich der Schulschließungen konnten mehr als 1,5 Milliarden Lernende weltweit ihre Schulen nicht mehr besuchen und mussten von zu Hause aus lernen (UNESCO, 2020). Es ist von entscheidender Bedeutung, inwiefern die COVID-19-Pandemie die Bildungschancen in Deutschland verändert hat, denn das Bildungsniveau eines Menschen entscheidet maßgeblich über seine wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten.

Im Zeitraum vom Frühjahr 2020 bis in das Jahr 2021 fanden je nach Inzidenzzahlen Fernunterricht, Wechselunterricht (kleinere, alternierende Gruppen) oder Präsenzunterricht mit Masken, Abstandsregeln und Quarantänebestimmungen statt.

Die am meisten erwarteten Folgen der COVID-19-Pandemie im Bildungsbereich sind das Stagnieren oder Zurückgehen der Schülerleistungen sowie, dass die bestehenden Ungleichheiten vergrößert würden (z. B. Helm et al., 2021). Während es hierfür sowohl bestätigende Studienergebnisse gibt (z. B. Engzell et al., 2021), zeigen andere Studien keine bis nur sehr geringe pandemiebedingte Lernrückstände, wonach leistungsschwache Lernende während der Pandemie ähnliche Ergebnisse erreichten wie vor der Pandemie (z. B. Depping et al., 2021). Das Hauptaugenmerk in der rezensierten Studie liegt darin, Daten differenziert zu analysieren, da die Auswirkungen je nach Land, Fach oder auch Altersgruppe variieren könnten. Dies wird darauf zurückgeführt, dass (a) die Lehrkräfte länderabhängig sehr unterschiedlich auf den Fernunterricht vorbereitet gewesen seien (Huber & Helm, 2020) und auch die technischen Voraussetzungen zwischen den Schulen variierten (Helm et al., 2021), (b) Lesen, eher als andere Kompetenzen (z. B. Schreiben und Rechnen), pandemieunabhängig auch im häuslichen bzw. privaten Umfeld stattfinde (Gunzenhauser et al., 2021) und (c) im Fernunterricht Lernende sehr selbstreguliert lernen müssten und diese Fähigkeit besonders bei jüngeren Kindern noch weniger entwickelt sei (Blume et al., 2021).

Ergänzend zu den bestehenden Forschungsergebnissen untersuchen Förster et al. (2022) in ihrer Studie die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen auf die Leseleistungen in der 2. Klasse in Deutschland. Neben Geschlechterunterschieden werden unter anderem auch der Migrationshintergrund sowie elterliche Unterstützung und alternative Aktivitäten während der Pandemiezeit (z. B. Fernsehen, Musik, Sport) untersucht. Ausgehend von dem formulierten Forschungsinteresse ergeben sich die folgenden Hypothesen:

  1. Die Leseleistung der Schülerinnen und Schüler sind in den beiden Pandemie-Kohorten nach dem Lockdown niedriger als in der Kohorte vor dem Lockdown.
  2. Interindividuelle Unterschiede zwischen Lernenden nehmen aufgrund der Pandemie zu.
  3. (a) Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind in den beiden Pandemie-Kohorten größer als in der Kohorte vor dem Lockdown.
    (b) Leistungsunterschiede zwischen Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund sind in den beiden Pandemie-Kohorten größer als in der Kohorte vor dem Lockdown.

Stichprobe
Ausgewertet wurden die Daten von N = 23.700 Zweitklässlerinnen und Zweitklässlern. Davon gehörten N = 12.037 Lernende den Kohorten vor der Pandemie (Schuljahre 2015/16 bis 2018/19) und N = 6.370 (Schuljahr 2019/20, Pandemiekohorte 1) sowie = 5.284 Lernende (Schuljahr 2019/20, Pandemiekohorte 2) den Kohorten an, die (teilweise) von der Pandemie betroffen waren. In der Studie wurden die Ergebnisse der ersten und zweiten Pandemiekohorte jeweils mit den Werten der Kohorte(n) vor der Pandemie verglichen. Die vollständigen Vergleiche (jede Kohorte mit jeder anderen) wurden im Ergänzungsmaterial der Studie abgedruckt, stimmen jedoch im Wesentlichen mit den hier dargestellten Ergebnissen überein.

Ausgeschlossen wurden Lernende, die jünger als 6 Jahre (N = 6) oder älter als 12 Jahre (N = 443) waren. Des Weiteren wurden Kinder ausgeschlossen, die nicht die 2. Klassenstufe besuchten (N = 723), fehlende Werte bei allen Messungen hatten (N = 1.988) oder die Klassenstufe 2 wiederholten und somit zweimal an der Untersuchung teilnahmen (N = 870). Somit ergab sich eine Gesamtstichprobe von N = 19.654. Die meisten Schülerinnen und Schüler (88,62 %) stammen aus den Bundesländern Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Erhebungsinstrument
Die Leseleistungen der Lernenden wurden mittels der webbasierten Lernverlaufsdiagnostik-Plattform quop (Souvignier et al., 2021) erhoben. Die Lesetestreihe quop-L2 besteht aus vier einzelnen Tests auf der Wort-, Satz- und Textebene (Förster et al., 2021). Das System erfasste hierbei die Antwort sowie die Antwortzeit. Prinzipiell wird ohne Zeitlimit getestet, wobei die Lernenden angehalten sind, möglichst schnell zu antworten. Die Bearbeitung eines Tests dauert im Mittel zwischen 9 Minuten (Median am Schuljahresbeginn) und 4 Minuten (Median am Schuljahresende). Die Testreihe gilt grundsätzlich als valide und zuverlässig (ebd.). Der Test wurde von den Lernenden achtmal im Laufe des Schuljahres beantwortet (längsschnittliches Design). Er diente als Lernstandserhebung und wurde, soweit pandemiebedingt möglich, im Unterricht durchgeführt. Während der Lockdownphasen wurden die Tests mit entsprechenden Erläuterungen (auch zum Verhalten der Eltern während der Testung) zu Hause durchgeführt. Um Informationen für die spätere Auswertung zu erhalten, kodierten die Lehrkräfte das Geschlecht (männlich = 0; weiblich = 1) und einen möglichen Migrationshintergrund (ohne Migrationshintergrund = 0; mit Migrationshintergrund = 1) im quop-System. Eine exakte Definition des Migrationshintergrundes (z. B. Geburtsland der Lernenden, Muttersprache) war nicht vorgegeben und wurde daher vermutlich auf Basis der Schulunterlagen vorgenommen.

Auswertungsverfahren
Die Daten wurden mittels der Software R aufbereitet und analysiert. Die Leseleistung wurde mittels des CISRT-Scores (Correct Item Summed Residual Time) von van der Maas und Wagenmakers (2005) ausgehend von der Korrektheit und der Geschwindigkeit der Antwortgaben ermittelt. Entsprechend werden korrekte und schnelle Antworten höher bewertet als korrekte und langsame bzw. falsche Antworten (0 Punkte). Antworten, die unter einer festgelegten zeitlichen Grenze abgegeben wurden, wurden ausgeschlossen, um das wahllose Raten auszuschließen. In Summe ergaben sich insgesamt 32,66 % fehlende Werte. Auffällig war, dass vor der Pandemie 17,29 % der Daten fehlten und in den beiden Pandemiekohorten deutlich mehr (49,77 % und 48,80 %). Um fehlende Werte zu berücksichtigen, fiel auf Grundlage methodischer Überlegungen die Wahl auf die Maximum-Likelihood-Schätzung (Asendorpf et al., 2014).

Die Hypothesen wurden mit folgenden Modellen überprüft:

Hypothese 1 wurde mit einem starken längsschnittlichen Invarianzmodell getestet (χ2(699) = 2294.95, p < .001; RMSEA = .025, 90%-CI: [.024, .026]; SRMR = .052; CFI = .984; TLI = .981). Hypothese 2 basiert auf einem schwachen längsschnittlichen Invarianzmodell (χ2(630) = 1746.13, p < .001; RMSEA = .022, 90%-CI: [.021, .023]; SRMR = .048; CFI = .989; TLI = .985). Für die Hypothesen 3a und 3b wurden Modelle herangezogen, die eine starke Invarianz zwischen den jeweiligen Gruppen aufwiesen (Geschlechterunterschiede: χ2(1160) = 1855.38, p < .001; RMSEA = .017, 90%-CI: [.015, .018]; SRMR = .034; CFI = .994; TLI = .992; verschiedene Modelle für Migrationshintergrund: .022 ≤ RMSEAs ≤ .023; .043 ≤ SRMRs≤ .059; .988 ≤CFIs≤ .990; .985 ≤ TLIs ≤ .987).

Die Ergebnisse der Strukturgleichungsmodelle werden aufgrund spezifischer Kennwerte interpretiert, die die Passung von Modell und Daten anzeigen (Berning 2018):

  • CFI (Comparative Fit Index): Wert sollte größer als .95 sein
  • TLI (Tucker-Lewis-Index): Wert sollte größer als .9 sein
  • RMSEA (Root Mean Square Error of Approximation): Wert sollte kleiner als .06 sein
  • SRMR (Standardized Root Mean Square Residual): Wert sollte kleiner/gleich .08 sein
  • χ2 (Chi-Quadrat) ist sehr sensibel gegenüber der Stichprobengröße (N ≥ 400), kann jedoch beim Modellvergleich von mehreren Modellen hilfreich sein.

Vergleicht man die Ergebnisse (Mittelwerte der Leseleistung) der drei Kohorten (Vor-der-Pandemie-Kohorte, Pandemiekohorte 1, Pandemiekohorte 2), so fällt auf, dass die Leseleistung in allen drei Kohorten über die acht Messzeitpunkte hinweg steigt, wobei um den siebten Messzeitpunkt bei allen Kohorten eine leichte Stagnation (Lernplateau) festzustellen ist. Die interindividuellen Unterschiede (Unterschiede der Lernenden innerhalb einer Kohorte sind stärker als Unterschiede zwischen den Kohorten) sind bei fast allen Messzeitpunkten in der Pandemiekohorte 2 am höchsten. Auch sind bei dieser Kohorte die 95%-Konfidenzintervalle (mit Ausnahme der Pandemiekohorte 1 zum Messzeitpunkt 6 und 7) sichtbar größer und deuten damit auf eine größere Unsicherheit bezüglich der Genauigkeit der Mittelwerte hin. Deskriptiv betrachtet nehmen bei allen Kohorten über die acht Messzeitpunkte hinweg die interindividuellen Unterschiede ab, wobei die Abnahme bei der vorpandemischen Kohorte und der Pandemiekohorte 1 größer ist. Die interindividuellen Unterschiede in der Pandemiekohorte 2 nehmen (trotz eines insgesamten Rückgangs) von Messzeitpunkt 6 bis 8 und in der Pandemiekohorte 1 von Messzeitpunkt 7 zu 8 wieder leicht zu.

Ergebnisse zu Hypothese 1

  • Während die Schülerinnen und Schüler der Pandemiekohorte 1 mit etwas schwächeren Leseleistungen in das Schuljahr gestartet sind als die Vor-Pandemie-Kohorte, übertrafen sie nach der Schulschließung (ab Messzeitpunkt 6) sogar die Leseleistung der Vor-Pandemie-Kohorte.
  • Der Vergleich zwischen der Vor-Pandemie-Kohorte und Pandemiekohorte 2 zeigt ähnlich unerwartete Ergebnisse. Während Pandemiekohorte 2 mit schwächeren Ergebnissen startete (Messzeitpunkt 1), so erreichten diese Kinder im Wechselunterricht (Messzeitpunkt 3 bis 7) bessere oder gleich gute Ergebnisse wie die Vor-Pandemie-Kohorte.
  • Zum Messzeitpunkt 8 (Schulen waren wieder geöffnet) erreichten alle Kohorten vergleichbare Ergebnisse.

Zusammenfassend können diese Daten die Hypothese, dass im Lockdown die Leseleistungen sinken, nicht stützen.

Ergebnisse zu Hypothese 2
Der Vergleich zwischen der Vor-Pandemie-Kohorte und der Pandemiekohorte 1 in Bezug auf interindividuelle Unterschiede zeigt eine höhere Varianz in der Pandemiekohorte (an drei Messzeitpunkten signifikante Ergebnisse). Entgegen den Erwartungen verringerten sich die interindividuellen Unterschiede während der Schulschließungen beziehungsweise des Wechselunterrichts (Messzeitpunkt 6 bis 8) stetig.

Vergleicht man jedoch die interindividuellen Unterschiede in der Pandemiekohorte 2 mit den Varianzen in der Vor-Pandemie-Kohorte, fällt auf, dass die interindividuellen Unterschiede in der Pandemiekohorte vor allem zu Beginn des Schuljahres signifikant größer waren und sich über den Lauf des Schuljahres hinweg keine klare Tendenz zeigte, ob die interindividuellen Unterschiede zu- oder abnehmen.

Insgesamt und ausgehend vom Gesamtmuster der Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass die Pandemie zur Verstärkung von interindividuellen Unterschieden beitragen kann.

Ergebnisse zu Hypothese 3a
Insgesamt erreichten die Mädchen in allen Kohorten und zu allen Messzeitpunkten bessere Leseleistungen als die Jungen, wobei die Unterschiede zwischen den Leistungen der Mädchen und Jungen in den Pandemiekohorten nicht größer sind als in der Vor-Pandemie-Kohorte. Bei den Geschlechtsunterschieden handelt es sich um kleine Effekte, die zwischen Cohens dav .09 und .18 liegen. Dass sich die Geschlechtsunterschiede durch die Pandemie eventuell verstärken, konnte nicht belegt werden.

Ergebnisse zu Hypothese 3b
Die Leseleistungen von Kindern ohne Migrationshintergrund waren in allen Kohorten und zu allen Messzeitpunkten signifikant besser als die Ergebnisse von Kindern mit Migrationshintergrund. Auffallend waren die größeren Leistungsunterschiede zugunsten der Kinder ohne Migrationshintergrund in der Pandemiekohorte 1 ab dem fünften Messzeitpunkt, also ab dem Zeitpunkt der Schulschließungen, im Vergleich zu den Kohorten vor der Pandemie. Bei der Analyse der vier Vor-Pandemie-Kohorten wurde diesbezüglich jedoch ein interessanter Trend beobachtet, wonach sich der Leistungsunterschied zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund von 2015/2016 bis 2017/2018 kontinuierlich vergrößert hat (leichter Rückgang zu 2018/2019). Während sich die Hypothese 3b somit für die erste Pandemiekohorte stützen lässt, zeigt sich in Pandemiekohorte 2 ein leichter Rückgang der Leistungslücke. Da jedoch auch vor der Pandemie gewisse Schwankungen (und Rückgänge) beobachtet werden konnten, bleibt bei Hypothese 3b unklar, welche Rolle hier die Pandemie tatsächlich gespielt hat.

Hintergrund
Die rezensierte Studie knüpft an bestehende Forschungsergebnisse an beziehungsweise greift diese in einem längsschnittlichen und kohortenübergreifenden Design auf. Die Formulierung der Forschungsfrage und Hypothesen erfolgte basierend auf bisherigen Erkenntnissen aus der Leseforschung und nahm gezielt in den Blick, welche Beobachtungen während der Pandemie im Vergleich zu vor der Pandemie gemacht werden können. Durch die Vielzahl der Messzeitpunkte werden Einblicke in die Dynamik während der Pandemie eröffnet, wohingegen andere Studien lediglich die Schülerleistungen vor der Pandemie und nach der Pandemie vergleichen. Ein weiterer wichtiger Vorzug der rezensierten Studie im Vergleich zu bisherigen Forschungsergebnissen liegt neben der längsschnittlichen Gestaltung auch im jungen Alter der befragten Schülerinnen und Schüler. Des Weiteren können dadurch, dass die Daten zu mehreren Messzeitpunkten verteilt über das gesamte Schuljahr erhoben wurden, einerseits Veränderungen über das Schuljahr hinweg beobachtet werden und zum anderen werden dadurch übliche Ferieneffekte umgangen. Trotz eingehender Belehrungen ist das Ausmaß elterlicher Unterstützung bei der Bearbeitung der Lese-Testaufgaben von zu Hause aus in den Daten nicht ersichtlich und erfordert eine gewisse Sensibilität bei der Interpretation der Ergebnisse, wenngleich der enorme Vorteil in der digitalen Erhebung liegt, sodass die Testungen auch während des Fernlernens weitergeführt werden konnten. Es bleibt hierbei anzunehmen, dass durch das Vorhandensein der notwendigen Ausstattung (z. B. stabiles Internet) und die Unterstützung der Eltern eine gewisse positive Auswahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler stattgefunden hat. Die Lese-Testreihen gelten als zuverlässig und valide zur Erhebung des Lesefortschritts und ermöglichen eine längsschnittliche webbasierte Erhebung (Förster et al., 2021).

Design
Der Erhebungs- und Versuchsplan ist mit acht Messzeitpunkten im längsschnittlichen Design angelegt und umfasst mehrere Kohorten. Dadurch können sowohl Entwicklungen in den Leseleistungen untersucht werden als auch Kohorten miteinander verglichen werden. Der Umgang mit fehlenden Werten wird ausführlich erläutert, wobei durch den Ausschluss von Kindern, die die Klasse 2 wiederholen (= 870), unter Umständen eine gewisse Positivauswahl stattfindet. Die einseitige Formulierung der Hypothesen ist aufgrund der theoretischen Vorannahmen begründet und logisch. Fraglich ist die Analyse der Hypothese 3b (Migrationshintergrund), da der Migrationshintergrund lediglich durch die Lehrkraft eingetragen wird und hierfür keine genaue Definition vorliegt. Hier wäre eine konkretere Vorgabe wünschenswert. Vergleicht man jedoch den angegebenen Migrationsanteil in der rezensierten Studie mit den Daten aus der PIRLS-Studie 2016, so kann man davon ausgehen, dass die Angaben zuverlässig sind (Wendt & Schwippert, 2017).

In möglichen Folgeforschungen könnte zudem der sozioökonomische Status erhoben und untersucht werden, um den Vergleich mit anderen Forschungsergebnissen zu erleichtern.

Ergebnisse
Da die analysierten Daten durch das längsschnittliche und kohortenübergreifende Design sehr umfangreich sind, erfordert die Beantwortung der Forschungsfrage eine differenzierte Analyse. Teilweise ergeben sich zu verschiedenen Messzeitpunkten oder in einzelnen Kohorten Trends, die vom Gesamtergebnis abweichen. Dies erschwert stellenweise auch die eindeutige Bestätigung bzw. Ablehnung der formulierten Hypothesen.

Ein Ergebnis, das im ersten Moment überraschen mag, zeigt, dass die Leseleistungen in den Pandemiekohorten teils besser sind als vor der Pandemie. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass die höheren Leseleistungen vor allem zu den Messzeitpunkten beobachtet werden, in denen die Kinder (nahezu) gänzlich im Fernlernen waren (z. B. um Weihnachten 2021) und sich die elterliche Unterstützung während des Fernlernens vermutlich größtenteils auf das Lesen fokussierte. Somit sind die Lesezeiten der Kinder während der Schulschließungen unter Umständen höher als bei geöffneten Schulen. Ergänzend deckt sich dies auch mit den Erkenntnissen von Peters et al. (2022), wonach der Leseunterricht bereits vor der Pandemie hinsichtlich des Zeitaufwands und auch der Methodenwahl (größtenteils lehrerzentriert) in Deutschland suboptimal gestaltet war. Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Leseleistung insgesamt durch die Pandemie nicht negativ beeinflusst wurde, wenngleich sich interindividuelle Unterschiede, vor allem unter Einbezug des Migrationshintergrunds, dem Trend der vorpandemischen Jahre folgend, vergrößert haben.

Ergänzend könnte auch untersucht werden, welche Fächer bzw. Inhalte im Fernunterricht schwerpunktmäßig unterrichtet wurden und in welchem zeitlichen Umfang. Falls die tatsächliche Lernzeit während des Fernlernens geringer war, bleibt zu klären, ob Lernrückstände auf die Unterrichtsform (Fernlernen) und die äußeren Gegebenheiten (z. B. weniger/andere Freizeitaktivitäten aufgrund von COVID-19-Beschränkungen) oder eher auf die tatsächliche effektive Lernzeit (auch Time on Task) zurückgeführt werden können (z. B. Wößmann et al., 2020). Auch die (eingeschränkten) sozialen Aspekte des Leselernens in den Pandemiezeiten könnten in weiteren Untersuchungen näher betrachtet werden (z. B. Garbe, 2022).

Durch die Zunahme der Bildungsunterschiede ergibt sich für die Schulen die Herausforderung, mit einer wachsenden Heterogenität umzugehen und auf die unterschiedlichen Lernbedürfnisse einzugehen. Für die professionelle Weiterentwicklung des Leseunterrichts wäre insofern eine differenzierte Analyse von Kontextfaktoren (z. B. sozioökonomischer Status) und lesebezogenen Freizeitaktivitäten interessant. Bezogen auf die Lesefähigkeit gilt es, die Lesegenauigkeit, die Leseflüssigkeit und auch das Leseverständnis differenziert zu fordern und zu fördern (Förster et al., 2018).

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Leonie Gerster, Referentin in Referat 32 am IBBW Stuttgart, Lehrerin an der Gemeinschaftsschule Schelklingen-Allmendingen, M.A. Schulforschung und Schulentwicklung

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