Fragestellungen der Studie:

  • Welche Einflüsse haben sozioökonomische Bedingungen auf das politische Wissen und Argumentieren in der Jahrgangsstufe 8 in NRW, in SH und im internationalen Vergleich?

Rezension zur Studie

Hahn-Laudenberg, K., Goldhammer, F. & Ateş, R. (2024). Politisches Wissen und Argumentieren. Konzeptuelles Wissen über Zivilgesellschaft und System, Grundwerte, Partizipation und Identität. In H. J. Abs, K. Hahn-Laudenberg, D. Deimel & J. F. Ziemes (Hrsg.), ICCS 2022. Schulische Sozialisation und politische Bildung von 14-Jährigen im internationalen Vergleich (S. 41–75). Münster: Waxmann.FIS Bildung

Die Studie adressiert die Bedeutung politischen Wissens in einer Zeit, in der rationale und faktenbasierte Diskurse im öffentlichen Raum durch emotionale Polarisierung und den Einsatz von Fake News unter Druck stehen.

Zentral sind die Fragen, wie sich politisches Wissen und Argumentieren in der Jahrgangsstufe 8 in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein im internationalen Vergleich darstellen und welche Ungleichverteilungen politischen Wissens in Bezug auf sozioökonomische und kulturelle Faktoren innerhalb der jeweiligen Bildungssysteme existieren.

Die Untersuchung ist Teil der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) 2022 und basiert auf der computerbasierten Befragung zur Erfassung politischen Wissens von 8. Klassen in 24 Bildungssystemen, darunter für Deutschland die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Es zeigt sich, dass in der Jahrgangsstufe 8 in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein zwar in breiter Mehrheit grundlegende demokratische Prinzipien verstanden werden und bekannt sind, es aber – wie bereits 2016 für Nordrhein-Westfalen gezeigt – bei einer Mehrheit nicht gelingt, ein Verständnis für politische Prozesse und Zusammenhänge zu eröffnen und Fähigkeiten auszubilden, die als Grundlage eigenständiger politischer Urteilskompetenz gelten können.

Die Ergebnisse verdeutlichen die Relevanz sozioökonomischer und kultureller Faktoren (internationale Geschichte, kulturelles Kapital und Bildungsabschluss der Eltern, Schulform) für das politische Wissen, unterstreichen die Notwendigkeit, diese Disparitäten in der politischen Bildung zu berücksichtigen und betonen die Rolle der schulischen politischen Bildung zum Erreichen einer gleichmäßigeren Verteilung politischen Wissens, zur Förderung politischer Teilhabe und zur Stärkung demokratischer Prozesse.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Auf welche Weise kann eine inklusive Lernumgebung geschaffen werden, in der alle Schülerinnen und Schüler sich respektiert und unterstützt fühlen, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund oder ihrer familiären Situation?
  • Wie kann der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen genutzt werden, um gemeinsame Strategien für die Vermittlung politischen Wissens und die Förderung von Argumentationskompetenzen zu entwickeln, und welche Rolle spielen dabei außerschulische Akteure der politischen Bildung und externe Fördermöglichkeiten?
  • Inwiefern besteht unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Untersuchung ein fachlicher, fachdidaktischer oder pädagogischer Fortbildungsbedarf, um die Entwicklung politischen Wissens und argumentativer Fähigkeiten bei Schülerinnen und Schülern gezielter fördern zu können?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche spezifischen Unterstützungsangebote und Ressourcen sind an meiner Schule erforderlich, um die Kompetenzen des Kollegiums im Bereich der politischen Bildung zu stärken?
  • Inwiefern geben die Ergebnisse der Studie, z. B. auf Grund der Schulform, des Standorttyps oder des Anteils der Kinder mit internationaler Geschichte, Hinweise auf einen verstärkten Handlungsbedarf bei der Vermittlung politischen Wissens an meiner Schule?
  • Auf welche Weise kann ich die Ergebnisse der Studie nutzen, um bestehende Praktiken, wie politische Bildung fachfremd unterrichten zu lassen, kritisch zu hinterfragen?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, neue Kooperationen mit außerschulischen Bildungseinrichtungen und Initiativen zur Stärkung der politischen Bildung zu fördern?
  • Inwiefern müssen vorhandene Ressourcen und Strukturen überdacht und gegebenenfalls angepasst werden, um eine effektive Umsetzung der Erkenntnisse zur Bedeutung politischen Wissens und argumentativer Fähigkeiten in die schulische Praxis zu gewährleisten?
  • Wie können schulische Aktivitäten und Programme entwickelt oder angepasst werden, um die Relevanz politischen Wissens und die Fähigkeit zu argumentieren als Grundlagen für demokratische Teilhabe und gesellschaftliches Engagement der Schülerinnen und Schüler zu betonen und zu unterstützen?

Trotz der allgegenwärtigen Verfügbarkeit politischer Informationen besteht die Notwendigkeit eines grundlegenden Verständnisses von Politik und Demokratie. Dieses Verständnis ermöglicht es, Informationen hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und Relevanz zu bewerten und Entscheidungen zu treffen, die den eigenen Werten und Interessen entsprechen. Konzeptuelles politisches Wissen ist somit essenziell für die Fähigkeit, politisch zu urteilen und zu handeln, sowie für die Entwicklung politischer Einstellungen. Ein umfassendes politisches Wissen fördert das Verständnis für die Legitimität pluralistischer Interessen in einer liberalen Demokratie und kann zu einer kritischeren Sicht auf populistische Aussagen führen (Westle 2020, S. 226).

Rationalität und faktenbasierte Argumentation geraten im öffentlichen Diskurs zunehmend unter Druck, vor allem durch emotionale Polarisierung, den Einsatz von Falschnachrichten durch Populisten und den zunehmenden Gebrauch künstlicher Intelligenz. Diese Entwicklungen mindern die Bedeutung evidenzbasierter Überlegungen bei der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Politische Bildung ist aus diesem Grund wichtig, um informierte und kritisch denkende Bürgerinnen zu fördern, die aktiv und verantwortungsbewusst am demokratischen Prozess teilnehmen.

Herausforderungen für die politische Bildung in Schulen sind die potenziellen Auswirkungen der Coronapandemie, die zu einer Fokussierung auf Kernfächer und zu weniger urteils- und handlungsorientiertem Lernen auf Distanz geführt hat. Ein Lehrkräftemangel verstärkt den Ausfall und fachfremden Unterricht im Bereich der politischen Bildung.

Die Untersuchung im Rahmen der ICCS 2022 knüpft an frühere empirische Studien zu politischem Wissen in Deutschland auf Grundlage des Modells der Politikkompetenz und der POWIS-Studie (Weißeno, 2022), zum Wissen zur Europäischen Union (Oberle, 2021) oder von Lehramtsstudierenden (Gronostay et al., 2023) und internationale Studien zum politischen Wissen (Abs & Hahn-Laudenberg, 2017) an. Sie baut auf den Ergebnissen der ICCS 2016 auf, die in Nordrhein-Westfalen ein im internationalen Vergleich niedrigeres politisches Wissen bei 14-Jährigen aufzeigte. Insbesondere wurden Unterschiede im politischen Wissen festgestellt, die mit dem sozioökonomischen Status und der Zuwanderungsgeschichte der Familien sowie mit der Schulform zusammenhängen. Diese Befunde sind problematisch, da sie ungleiche politische Teilhabechancen nach sich ziehen könnten.

Das Ziel der Studie ist es, angesichts der genannten Herausforderungen und Befunde ein detaillierteres und aktuelleres Bild der Entwicklung und Verbreitung politischen Wissens und Argumentierens unter Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich und zwischen den untersuchten zwei Bundesländern zu erhalten.

Stichprobe
Die Studie basiert auf Daten des dritten Zyklus der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS) aus dem Jahr 2022, die politische Bildung in 24 Bildungssystemen vergleicht. In Deutschland wurden Daten von 145 Schulen in Nordrhein-Westfalen (3.269 Schülerinnen und Schüler) und 84 Schulen in Schleswig-Holstein (1.488 Schülerinnen und Schüler) erhoben. Die Auswahl der Schulen und Klassen erfolgte zufällig innerhalb einer Stichprobe. Diese wurde so angepasst (stratifiziert), dass die Jahrgangsstufe 8 (oder das dem Alter von 13,5 Jahren entsprechende Schuljahr) repräsentativ abgebildet wird (vgl. Ziemes & Matafora, 2024, S. 367, S. 371; Deimel & Welsandt, 2024, S. 380; S. 383).

Instrument
Die Instrumente der ICCS 2022 zielen darauf ab, politisches Wissen und Argumentationsfähigkeit zu messen. Dabei werden vier Inhaltsbereiche abgedeckt: gesellschaftliche Institutionen und Systeme, gesellschaftliche Werte, Partizipation und Identität. Ergänzt wurden Fragen zu Global Citizenship Education und Bildung für nachhaltige Entwicklung. Die Testitems kombinieren diese Inhaltsbereiche mit konzeptionellem Wissen und der Anwendung dieses Wissens in Argumentationen.

Ein Schwerpunkt liegt auf der Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zur kritischen Analyse politischer Informationen und der Formulierung fundierter Argumente. Die Einführung von computerbasierten Testformaten ermöglicht neue, interaktive Fragestellungen, die in Papierformaten nicht umsetzbar wären. Drei Module mit diesen neuen Itemformaten wurden entwickelt, um dynamisch interaktive Fragen zu Themen wie Voting-Apps, Schülervertretungswahlen und die Finanzen von Wohltätigkeitsorganisationen zu ermöglichen. Die Erhebung erfolgte überwiegend computerbasiert mit einem rotierenden Booklet-Design, um eine breite Abdeckung der Themen zu gewährleisten. Zusätzlich wurden demografische Daten wie Geschlecht, Migrationshintergrund und die Anzahl der Bücher im Haushalt erfasst (Ziemes & Matafora, 2024, S. 372).

Die Items für die kognitiven Dimensionen konzeptionelles Wissen und Argumentieren sowie Anwenden konzeptionellen Wissens werden auf einer gemeinsamen Skala für die Schülerfähigkeiten und die Itemschwierigkeiten untersucht (gemeinsame Raschanalyse). Diese Skala wird in Intervalle gegliedert, welche vier verschiedene Kompetenzstufen bilden, welche von A, der höchsten, bis zu D absteigen.

Sie beschreiben anhand von fünf Beispielitems des Wissenstests, die den verschiedenen Kompetenzstufen zugeordnet sind, die Gestaltung der geschlossenen Multiple-Choice-Fragen und der offenen – anhand von Leitfäden zu codierenden – Fragen. Alle Items werden abschließend quantifiziert.

Auswertungsverfahren
Die Auswertung fokussiert auf das durchschnittliche politische Wissen und dessen Verteilung über vier Kompetenzstufen sowie die Vergleichbarkeit der Ergebnisse mit früheren Erhebungen (insb. ICCS 2016). Hierfür wurde der internationale Mittelwert auf 500 und die Standardabweichung auf 100 standardisiert. Die Bildungssysteme werden nach dem festgestellten mittleren Wissensstand der Größe nach geordnet. Untersucht werden auch die Verteilungen politischen Wissens innerhalb der Bildungssysteme, die durch sozioökonomischen Status, Migrationshintergrund und weitere Faktoren bedingt sind. Dabei werden Mittelwerte, Standardabweichungen und Konfidenzintervalle für relevante Teilgruppen berechnet und im Kontext der Bildungssysteme sowie spezifisch für Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein analysiert, um Einblicke in die Verteilung politischen Wissens und mögliche Bildungsungleichheiten zu geben.

Politisches Wissen im internationalen Vergleich
Das mittlere politische Wissen liegt mit 544 Skalenpunkten (im Folgenden Pkt.) in Schleswig-Holstein und mit 524 Pkt. in Nordrhein-Westfalen über dem Mittelwert von 509 Pkt. in der Vergleichsgruppe Europa. In der Vorgängerstudie ICCS 2016 lag das mittlere politische Wissen in Nordrhein-Westfalen mit 519 Skalenpunkten noch unterhalb der Vergleichsgruppe Europa. Zu beachten ist, dass Länder, die in beiden Studien teilgenommen haben, in ICCS 2022 zu einem durchschnittlich 16 Skalenpunkte geringeren Ergebnis kamen und dass zusätzliche Länder in der Untersuchung berücksichtigt wurden.

Schleswig-Holstein erreicht ein ähnliches Niveau wie Estland (545 Pkt.). Das mittlere politische Wissen in Nordrhein-Westfalen ist vergleichbar mit dem Niveau von Italien (523 Pkt.), Norwegen (529 Pkt.) und Kroatien (531 Pkt.).

Das höchste mittlere politische Wissen erreichen Taiwan (583 Pkt.), Schweden (565 Pkt.) und Dänemark (556 Pkt.), die niedrigsten Werte in Europa Zypern (459 Pkt.) und Bulgarien (456 Pkt.). Unter den nichteuropäischen Ländern weisen Brasilien (457 Pkt.) und Kolumbien (452 Pkt.) die niedrigsten Mittelwerte auf.

Eine Differenz von 337 Punkten zwischen dem 5. und dem 95. Perzentil in Schleswig-Holstein und eine Standardabweichung von 103 Pkt. (in Nordrhein-Westfalen 100 Pkt.) weisen auf große Leistungsunterschiede hin und sind vergleichbar mit denen in Dänemark (105 Pkt.) und Norwegen (105 Pkt.) und geringer als in Schweden (110 Pkt.).

In Nordrhein-Westfalen liegt die Standardabweichung im Vergleich zu ICCS 2016 um 20 Pkt. höher. Das leistungsschwächste 5-%-Perzentil liegt 19 Pkt. niedriger und das stärkste 5-%-Perzentil 49 Pkt. höher. Die höchste Kompetenzstufe A erreichen in Nordrhein-Westfalen 36 % (2016: 31 %), die Kompetenzstufe C 90 % (2016: 93 %). Die höchste Kompetenzstufe A erreichen in Schleswig-Holstein 45 % der Schülerinnen und Schüler. Im internationalen Vergleich erreichen Taiwan (60 %), Schweden (53 %), Dänemark (50 %) und Polen (48 %) höhere Werte als Schleswig-Holstein.

Disparitäten politischen Wissens im internationalen Vergleich
Kulturelles Kapital der Eltern

Das kulturelle Kapital der Eltern als ein Element des sozioökonomischen Status wird über die Anzahl der Bücher im Haushalt der Schülerinnen und Schüler beschrieben. Die Teilgruppe der Schülerinnen und Schüler mit nicht mehr als 25 Büchern im eigenen Haushalt ist mit 27 % in Schleswig-Holstein nach Norwegen (24 %) die niedrigste im Studienvergleich. Der Anteil in Nordrhein-Westfalen liegt mit 35 % im Bereich der Vergleichsgruppe Europa (34 %).

Der Vergleich zeigt, dass der Unterschied des erreichten mittleren politischen Wissens zwischen den beiden Teilgruppen mit mehr bzw. weniger als 25 Büchern im Haushalt in Taiwan (46 Pkt.), Kroatien (38 Pkt.) und Kolumbien (43 Pkt.) am niedrigsten ist. Die höchsten Unterschiede wurden für die Slowakei (90 Pkt.), Bulgarien (84 Pkt.) und Schweden (86 Pkt.) sowie Schleswig-Holstein (83 Pkt.) festgestellt. In Nordrhein-Westfalen liegt die Differenz bei 76 Punkten.

Die Anzahl der Bücher zu Hause, als Indikator für das kulturelle Kapital der Familie, korreliert stark mit dem politischen Wissen der Schülerinnen und Schüler. Bei einer abgestuften Betrachtung der Anzahl der Bücher im Haushalt in den untersuchten deutschen Bundesländern zeigt sich ein schrittweiser Anstieg im mittleren politischen Wissen mit zunehmender Anzahl der Bücher. Schülerinnen und Schüler mit mehr als 200 Büchern im Haushalt haben im Mittel ein eineinhalb Kompetenzstufen höheres politisches Wissen als Schülerinnen und Schüler mit weniger als 10 Büchern im Haushalt.

Internationale Geschichte von Schülerinnen und Schülern

Der Anteil der Teilgruppe der Schülerinnen und Schüler, die selbst oder deren Eltern beide im Ausland geboren wurden, ist mit 33 % in Nordrhein-Westfalen am größten, gefolgt von Schweden (23 %), Slowenien (22 %) und Zypern (22 %). In Schleswig-Holstein beträgt der Anteil 17 %. Geringe Anteile von 1 % bis 4 % haben Länder wie Taiwan, Litauen, die Slowakei und Serbien. Länder mit einem Anteil unter 1 % wurden für diese Auswertung nicht berücksichtigt.

In der europäischen Vergleichsgruppe ist das durchschnittliche Leistungsniveau von Schülerinnen und Schülern mit internationaler Geschichte 44 Pkt. niedriger als bei Schülerinnen und Schülern ohne internationale Geschichte. In Nordrhein-Westfalen (–68 Pkt.) und Schleswig-Holstein (–70 Pkt.) sind die Unterschiede vergleichbar. Es lässt sich kein systematischer Zusammenhang zwischen dem Anteil der Kinder mit internationaler Geschichte und der Differenz zwischen den beiden Gruppen im internationalen Vergleich aufzeigen. Eine Kontrolle des sozioökonomischen Hintergrundes reduziert den Effekt, den die internationale Geschichte der Schülerinnen und Schüler auf das politische Wissen hat, um etwa ein Drittel.

Anteil der Varianz des politischen Wissens auf Individualebene erklärt über die Anzahl der Bücher im Haushalt und das mittlere politischen Wissen in den Teilnehmerstaaten

In einem Streudiagramm werden der Anteil der Varianz des politischen Wissens, welcher über eine Regression mit der Anzahl der Bücher im Haushalt erklärt werden kann, und das mittlere politische Wissen der Teilnehmerstaaten dargestellt. Hieran werden die Bildungssysteme in Relation zur Vergleichsgruppe Europa (509 Pkt., 14 % der Varianz im politischen Wissen kann über die Anzahl der Bücher zu Hause erklärt werden) eingeordnet. In Taiwan, Dänemark und Polen wird im Mittel ein überdurchschnittliches politisches Wissen erreicht und das Ausmaß politischen Wissens ist in vergleichsweise geringerem Maße vom kulturellen Status der Familie abhängig. Schweden, Schleswig-Holstein, Estland zeichnen sich dadurch aus, dass sie ebenfalls ein überdurchschnittliches politisches Wissen erreichen, jedoch das politische Wissen stärker vom kulturellen Kapital in der Familie abhängt. Bulgarien zeichnet sich durch ein unterdurchschnittliches mittleres Niveau politischen Wissens bei gleichzeitig starker Abhängigkeit vom kulturellen Kapital der Familie aus.

Ergänzende Disparitäten politischen Wissens in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein (Geschlecht, Bildungsabschluss der Eltern und Schulform)
Es gibt keinen signifikanten Unterschied im politischen Wissen zwischen den Geschlechtern in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.

Schülerinnen und Schüler, deren Eltern über kein Abitur als Abschluss verfügen, erreichen ein signifikant geringeres politisches Wissen als Schülerinnen und Schüler, deren Eltern mindestens das Abitur erreicht haben; in Nordrhein-Westfalen im Mittel 495 Pkt. ohne Abitur und 552 Pkt. mit Abitur und in Schleswig-Holstein 519 Pkt. ohne Abitur zu 561 Pkt. mit Abitur.

Bei einer Unterscheidung der Schulformen zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler am Gymnasium in beiden untersuchten Bundesländern zu mehr als 50 % die höchste Kompetenzstufe erreichen. Das mittlere Wissen von Schülerinnen und Schülern am Gymnasium ist circa eine Standardabweichung höher (circa 100 Pkt.) als an der Gesamtschule. Circa 75 % der Schülerinnen und Schüler an Haupt- und Förderschulen in Nordrhein-Westfalen erreichen nicht die Kompetenzstufe B, welche für das Verständnis und eine mögliche Beteiligung in einer repräsentativen Demokratie unerlässlich ist.

Hintergrund
Die ICC-Studie (ICCS) steht in der Tradition internationaler Schulleistungsstudien wie PISA, TIMSS und PIRLS/IGLU und adressiert mit der Untersuchung politischen Wissens bei Schülerinnen und Schülern in hauptsächlich europäischen Bildungssystemen eine wichtige Forschungslücke. Durch die differenzierte Erfassung politischen (Nicht-)Wissens und von demokratischen Einstellungen liefert die Studie eine Basis für evidenzbasierte politische Bildung. ICCS 2022 ermöglicht, Trends in der Verbreitung politischen Wissens zu erkennen und die ersten Auswirkungen der Coronapandemie zu berücksichtigen. Die neue Einbeziehung von Schleswig-Holstein in die Erhebung im Vergleich zu ICCS 2026 erlaubt einen differenzierten Vergleich mit Nordrhein-Westfalen.

Design
Hypothesen werden in diesem Beitrag nur bedingt vorab formuliert, der Fokus liegt auf der Darstellung empirischer Ergebnisse. Die Entwicklung der Untersuchungsitems und Kompetenzstufen wird exemplarisch erläutert; der Datenerhebungsprozess ist nachvollziehbar. Die computerbasierte Erhebung in den meisten Ländern ermöglicht komplexe Aufgabenszenarien, die nicht nur die Reproduktion, sondern auch die Anwendung politischen Wissens erfordern. Die Stichprobenauswahl in den deutschen Bundesländern berücksichtigt verschiedene Schulformen und den Migrationshintergrund. Deimel & Welsandt (2024, S. 380) erläutern weitere Details zur Datenaufbereitung, die in diesem Beitrag fehlen. Die deskriptiven Auswertungsverfahren, fokussiert auf durchschnittliches politisches Wissen und Kompetenzstufenverteilung, fördern Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Die Aufgabenkonstruktion und die Nutzung etablierter Operationalisierungen für soziale Disparitäten sichern Reliabilität und lassen die Grenzen der Validität, z.B. bei der Erfassung kulturellen Kapitals über die Anzahl der Bücher im Haushalt, leichter einordnen.

Ergebnisse
Bei der Darstellung der Ergebnisse werden die Limitationen der Untersuchung transparent aufgezeigt, etwa geringe Rücklaufquoten in Schleswig-Holstein, welche die Aussagen zu verschiedenen Schulformen einschränken. Deimel & Welsandt (2024, S. 383) bestätigen die Eignung der Stichprobe für repräsentative Aussagen. Die Studie verdeutlicht, dass sich seit ICCS 2016 in Nordrhein-Westfalen gegen den internationalen Trend das durchschnittliche politische Wissen nicht verringert hat. Auffällig sind hier jedoch die veränderte Leistungsverteilung und die gestiegene Standardabweichung, was auf zunehmende Wissensunterschiede zwischen den leistungsstärksten und den leistungsschwächsten Schülerinnen und Schülern hinweist.

Die Studie bestätigt bekannte soziale Disparitäten im politischen Wissen und dessen Anwendung. Sie identifiziert Schülergruppen mit besonders geringen politischen Kenntnissen und unterstreicht die Bedeutung der politischen Bildung. Die deutlichen Wissensunterschiede zwischen den Schulformen erfordern möglicherweise verstärkte Bemühungen an Gesamtschulen sowie Haupt- und Förderschulen, um alle Schülerinnen und Schüler demokratiefähig zu machen. Es gilt zu bewerten, ob dies durch Fachlehrkräfte geschehen kann, die weniger fachfremd, besser ausgebildet sowie für die Forschungsergebnisse sensibilisiert sind. Die Ursachen der Entwicklungen und Unterschiede zwischen den Bildungssystemen sollten weiter untersucht werden. Die aufgezeigte Dynamik im Bereich des politischen Wissens verlangt nach kontinuierlicher Bewertung und Anpassung politischer Bildungsmaßnahmen.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Nils Voelzke, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster und Oberstudienrat für die Fächer Sozialwissenschaften und Mathematik an der Europaschule Gymnasium Wolbeck in Münster

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