Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Köhler, S., Goldmann, D., Zapf, B. & Bunert, S. (2017). Der Erwerb der (Fach-)Hochschulreife als Option im Berufsbildungssystem aus Sicht von Schülerinnen und Schülern. Die deutsche Schule 109(4), 322–333.FIS BildungKöhler et al. nehmen in ihrem Beitrag Schülerinnen und Schüler in den Blick, die an nordrhein-westfälischen Berufskollegs höhere Bildungsabschlüsse wie den Mittleren Bildungsabschluss oder die (Fach-)Hochschulreife erreichen möchten. In narrativen Interviews untersuchen sie, wie der Besuch des Berufskollegs von den Jugendlichen wahrgenommen wird und welche habituellen Orientierungen sich bei ihnen zeigen.
Dabei werden von den Autorinnen und dem Autor vier Muster identifiziert, die folgendermaßen benannt werden:
Insgesamt zeigt sich also eine Vielfalt an Orientierungen und Selbstbildern, die nicht zuletzt dem breiten Bildungsangebot der Schulform Berufskolleg geschuldet ist. Deutlich wird in den Interviews außerdem die große Bedeutung der Lehrkräfte und Peers, da sie für die Qualität der sozialen Beziehungen entscheidend sind und damit auch das Lernklima prägen.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte
Reflexionsfragen für Schulleitungen
Die Autorinnen und der Autor führen zu Beginn ihres Artikels aus, dass es sehr wenig Forschung im Bereich ihrer Fragestellung gibt und die Bildungsgänge an Berufskollegs, bei denen es um weiteren Schulbesuch und den Erwerb höherer Abschlüsse als Alternative zum Einstieg in eine Ausbildung geht, bislang wenig Beachtung finden. Die von ihnen zitierten Studien weisen darauf hin, dass sich diese Bildungsgänge bei Absolventinnen und Absolventen der Schulen der Sekundarstufe I großer Beliebtheit erfreuen und ihre Erfahrungen positiv sind. Zu der Frage, ob die dort erworbenen Bildungsabschlüsse die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen, liegen Daten aus einer Studie von Schuchart vor, die dies nur bedingt bestätigen, da Betriebe die an den Berufskollegs erworbenen Abschlüsse als geringer schätzen als die z. B. an der Realschule oder am Gymnasium erworbenen (Schuchart, 2013). Eine Perspektive auf die Lernenden fehlt in diesem Bereich.
Diese findet sich in der subjektiven Übergangsforschung. Interessant ist hier die Rolle der Peers, die Beierle in ihrer Studie näher untersucht. Sie sieht die Gleichaltrigen sowohl im Berufswahlprozess als auch in der Einstellung zum schulischen Lernen als wichtigen Einflussfaktor an. Sie könnten wichtige Impulse geben, aber auch zu einer Ablehnung von aus der Erwachsenenwelt herangetragenen Ansprüchen führen, indem z. B. ein engagiertes Lernverhalten negativ sanktioniert wird (Beierle, 2013, S. 48f.). Damit sind sie eine von mehreren „Gatekeepern“ (Behrens/Rabe-Kleberg, 2000), also Personengruppen, die Jugendliche im Übergang unterstützen oder auch bremsen. In letztgenannter Funktion werden des Öfteren Lehrkräfte wahrgenommen. Das Interesse der Forschenden ist es, in diesem Kontext die „Bedeutung des Berufskollegs im Kontrast zu den weiteren Sozialisationskontexten herauszuarbeiten“.
Die vorgestellten Daten entstammen einer Interviewstudie, die in den Jahren 2014/15 durchgeführt wurde. Dabei wurden 4 Schüler und 13 Schülerinnen im Alter zwischen 17 und 21 Jahren aus zwei Berufskollegs in NRW mit den Ausrichtungen Gesundheit und Soziales und Wirtschaft und Verwaltung in den Bildungsgängen Fachoberschule und Berufsfachschule befragt. Im Sinne eines kontrastiven Samples unterschieden sich die Befragten hinsichtlich der bisher besuchten Schulform und des erreichten Schulabschlusses, des Geschlechts, des Migrationshintergrunds. Pro Probandin bzw. Probanden wurden je zwei erweiterte biografisch-narrative Interviews am Anfang und Ende der zweijährigen Schulzeit am Berufskolleg geführt.
Die Interviews wurden mit der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2003) sequenzanalytisch ausgewertet. Dabei standen die Selbstbilder und die Zukunftsentwürfe der Jugendlichen im Mittelpunkt des Interesses einer Auswertung im Längsschnitt. Aus ihnen wurden acht „kontrastive Kernfälle“ ausgewählt, anhand derer Muster identifiziert wurden in Bezug auf die Bedeutung des Berufskollegs für den Übergang, die Entwicklung der Selbstbilder und die individuelle Bedeutung der Leistungserbringung.
Die Interviews starteten jeweils mit einem offenen Impuls („Wie ist Dein (sic!) bisheriges Leben verlaufen?“). In ihrem Verlauf wurden spezifischere Fragen zu Erfahrungen in den Bereichen der schulischen Bildung, der Arbeitswelt und des privaten Umfelds gestellt.
Die Forschenden finden, „dass der Besuch des Berufskollegs für die jungen Erwachsenen übergangsrelevant ist“, finden aber erhebliche Unterschiede in der Entwicklung der Selbstbilder und darin, als wie wichtig sie den Aspekt der Leistungserbringung ansehen. Aufgrund dieser Unterschiede arbeiten sie vier Muster heraus. Diese Muster machen sie jeweils an den Antworten von ein bis zwei Befragten fest:
Muster 1: Wandel des Selbstbildes und Entwicklung einer Leistungsorientierung für die Abschlusserhöhung
Das Selbstbild der Jugendlichen verändert sich mit dem Eintritt ins Berufskolleg. Sie zeigen eine im Vergleich zu ihrer Einstellung in der Sekundarstufe I erhöhte Leistungsorientierung und sind überzeugt, in dem veränderten schulischen und sozialen Umfeld ihre Qualifikation verbessern zu können. Sie erleben das Unterrichtsklima als lernförderlich und sowohl die Lehrer-Schüler-Beziehungen als auch die Peer-Beziehungen als positiv.
Muster 2: Festigung des Selbstbildes und Kontinuität der Leistungsorientierung für die Abschlusserhöhung
Das Selbstbild der Jugendlichen ist durch ihre Aufstiegsambition gekennzeichnet und bleibt nach dem Eintritt in das Berufskolleg gleich. Sie setzen ihre zielstrebige Arbeit aus der Sekundarstufe I fort, um ihre Qualifikation am Berufskolleg zu verbessern. Auch sie sehen das Unterrichtsklima und die sozialen Beziehungen aller Beteiligten als eine wichtige Unterstützung für die Erreichung ihrer Ziele an.
Muster 3: Entwicklung eines berufsbezogenen Selbstbildes und einer Arbeitsorientierung
Die Jugendlichen sind sich ihres Berufswunsches schon sehr sicher, können aber aufgrund ihres Alters noch keine Ausbildung beginnen. Sie streben keine Erhöhung ihrer formalen Qualifikation an und orientieren sich nicht an ihrer schulischen Leistung, sondern besuchen das Berufskolleg als notwendigen Zwischenschritt auf dem Weg zu der von ihnen angestrebten Ausbildung. Zu den Lehrkräften haben sie eine kritisch-distanzierte Beziehung, wichtiger sind die Beziehungen zu den Peers.
Muster 4: Kontinuierlich diffuses Selbstbild und Anstrengungsbereitschaft bei Abschlussgefährdung
Die Jugendlichen sind relativ orientierungslos, was ihre berufliche Zukunft angeht. Am Berufskolleg sind sie nicht, weil sie das ihrem Berufswunsch näherbringt, sondern weil sie sich allgemein von dem Abschluss bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt versprechen. Ihre schulische Anstrengungsbereitschaft zielt eher darauf, Versagen zu vermeiden als Leistung zu zeigen. Dabei ist das Knüpfen von positiven sozialen Beziehungen für sie wichtig.
Hintergrund
Die Studie kann sich nur auf wenig empirische Forschung stützen. Sie nutzt deshalb Erkenntnisse aus angrenzenden Forschungsbereichen. Ansätze zur Nutzung des Habitus-Begriffs nach Bourdieu (1983) werden leider nicht systematisch zur Musterbildung genutzt.
Design
Der qualitative Ansatz gibt interessante, vertiefte Einblicke in die Perspektive von Jugendlichen auf ihre Schulzeit an einem Berufskolleg. Das theoretische Sampling wird sehr transparent dargestellt, so dass die Beschränktheit der Aussagekraft von den Rezipierenden nachvollzogen werden kann. Diese Beschränktheit ergibt sich nicht zuletzt aus der kleinen Stichgruppe.
Ergebnisse
Die Forschenden finden, dass der Besuch des Berufskollegs, um einen höheren Schulabschluss zu erlangen, eine große Bedeutung für die Jugendlichen hat. Es gibt aber Unterschiede in der Entwicklung der Selbstbilder und darin, als wie wichtig sie den Aspekt der Leistungserbringung ansehen. Aufgrund dieser Unterschiede arbeitet das Autorenteam vier Muster heraus. So bleibt bei einigen Lernenden das Selbstbild gleich, während andere die neue Schulform mit einer positiven Veränderung verbinden. Gleiches lässt sich über die Leistungsbereitschaft sagen.
Insgesamt zeigt sich also eine Vielfalt an Orientierungen und Selbstbildern, die nicht zuletzt dem breiten Bildungsangebot der Schulform Berufskolleg geschuldet ist. Deutlich wird in den Interviews außerdem die große Bedeutung der Lehrkräfte und Peers, da sie für die Qualität der sozialen Beziehungen entscheidend sind und damit auch das Lernklima prägen.
Gewinnbringend zu lesen ist die Studie zum einen wegen der Darstellung der Heterogenität, die bei den Schülerinnen und Schülern in Bezug auf ihr Selbstbild und ihre Leistungsbereitschaft gefunden wurde. Nicht, dass diese Heterogenität Praktikerinnen und Praktikern nicht aus ihrer täglichen Arbeit vertraut wäre – die systematische Zuordnung zu vier verschiedenen Mustern ermöglicht einen neuen Blick auf diese und verdeutlicht die Notwendigkeit, Wege zu finden, um mit ihr unterrichtspraktisch und konzeptionell umzugehen.
Zum anderen wird in allen Mustern die soziale Seite von Schule betont und die Bedeutung von Beziehungen zwischen Lehrkräften und Lernenden sowie die innerhalb der Peer-Group. Der Neuanfang an einem Berufskolleg birgt in diesem Sinne für die Jugendlichen eine große Chance, ihre Ziele zu erreichen, wenn die Lehrkräfte die positive Gestaltung der sozialen Beziehungen als wichtige Aufgabe annehmen.
Kultusministerium BW
Online-Unterstützungsportal zum Referenzrahmen Schulqualität NRW
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