Fragestellungen der Studie:

  • Welchen Nutzen haben Therapien der Lese-Rechtschreib-Störung?

Rezension zur Studie

Moll, K., Georgii, B. J., Tunder, R. & Schulte-Körne, G. (2023). Economic evaluation of dyslexia intervention. Dyslexia, 29(1), 4–21.

Moll et al. beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der Frage, ob eine Intervention in Form einer Therapie bei Kindern mit LRS (Lese- und Rechtschreibstörung) kosteneffektiv ist, d. h. ob ihr Nutzen die Kosten übersteigt. Den möglichen Nutzen messen sie dabei zum einen in Bezug darauf, inwieweit sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessert. Zum anderen untersuchen sie, welche Kosten den Eltern entstehen und welche Ausgaben der Gesellschaft erspart bleiben durch weniger Klassenwiederholungen, größeren Schulerfolg und geringere Arbeitslosenquoten.

Sie finden in ihrer Stichprobe mittlere positive Effekte auf die Lebensqualität. Des Weiteren analysierten sie Daten, die zeigen, dass unbehandelte LRS für die Gesellschaft Kosten verursachen, z. B. durch die Wiederholung von Klassen, niedrigere Schulabschlüsse und die geringere Produktivität der Betroffenen, die sich in einem geringeren Einkommen niederschlägt.

Die Autorinnen und Autoren kommen deshalb zu dem Schluss, dass eine therapeutische Behandlung von LRS kosteneffektiv ist. Sie stellen daran anschließend die Frage, ob die aktuelle Praxis, dass solche Therapien nicht von den Krankenkassen bezahlt werden, gerechtfertigt ist.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Wie gut bin ich über die Diagnose von LRS bei meinen Schülerinnen und Schülern informiert?
  • Mit wem könnte ich zur Unterstützung meiner Schülerinnen und Schüler zusammenarbeiten (Eltern, externe Partner, interne Anlaufstelle, Klassenlehrkräfte etc.)?
  • Wie gut arbeite ich mit den Kolleginnen und Kollegen zur Förderung zusammen?
  • Auf welche Weise kann ich über die Diagnosen meiner Schülerinnen und Schüler in den Kontakt mit den Eltern kommen?
  • Welche Informationen brauche ich, um die Auswirkungen einer LRS auf meine Schülerinnen und Schüler adäquat einordnen zu können?
  • Welche Unterstützungsangebote kenne ich und wie kann ich Schülerinnen und Schüler hierzu beraten?
  • Auf welche Ressourcen kann ich in meiner Schule für die LRS-Förderung zurückgreifen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welchen Stellenwert hat die LRS-Förderung an meiner Schule?
  • Ist unser LRS-Konzept so gut, wie es sein könnte, was und wen brauchen wir, um es zu verbessern?
  • Wie gut arbeiten wir mit externen Partnerinnen und Partnern zur Unterstützung von Schülerinnen und Schülern zusammen?
  • Wie gut arbeiten wir mit den Eltern zusammen?
  • Wie sollte in der Schule eine Anlaufstelle für die Beratung und Zusammenarbeit bei LRS personell, strukturell und organisatorisch verankert sein?
  • Welche Ressourcen können wir als Schule für die LRS-Förderung zur Verfügung stellen?
  • Wie kann es gelingen, dass der Kreis der Lehrkräfte, die in die Thematik einbezogen sind, möglichst groß ist und sich nicht auf einige Klassen- und Deutschlehrkräfte beschränkt?

Die Lese- und Rechtschreibstörung ist eine der am weitesten verbreiteten Entwicklungsstörungen. Darunter wird das Vorliegen einer „umschriebene[n] und bedeutsame[n] Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist“ (BfArM, 2023, S. 201) verstanden, die mit einer Störung in der Entwicklung der Rechtschreibkompetenz einhergeht. Man schätzt, dass weltweit 4–9 % der Menschen von ihr betroffen sind – meist lebenslang, denn es sind zwar durch gezielte Therapien Fortschritte möglich, ein vollkommenes Verschwinden der Symptome ist aber selten. Oftmals weist eine LRS eine hohe Komorbidität zu ADHS und anderen Störungen auf und kann Probleme wie Schulangst und Depressionen auslösen.

Diese Beeinträchtigungen seien dann mitunter so stark, dass sie dazu führen, dass die Betroffenen bei gleicher Intelligenz niedrigere Bildungsabschlüsse erreichen und damit häufiger von Arbeitslosigkeit bedroht seien. Abgesehen von negativen Folgen für die Individuen gebe es Auswirkungen auf die Gesellschaft wie höhere Kosten für das Bildungssystem durch Klassenwiederholungen oder für das Gesundheitssystem durch die Behandlung der psychischen Probleme (ebd., S. 2).

Im Bereich möglicher Therapien existiere inzwischen eine Menge an zuverlässigen Studien, so dass gesagt werden könne, dass eine Verbesserung der Lese- und Rechtschreibkompetenzen durch eine gezielt an den Symptomen ansetzende und langfristig angelegte Therapie möglich ist (Galuschka et al., 2020). Die Autorinnen und Autoren weisen in diesem Zusammenhang aber auf das Problem hin, dass diese Therapien in den meisten Ländern nicht von den Krankenkassen bezahlt werden. In Deutschland z. B. werden sie nur dann bezahlt, wenn mit der LRS andere schwere psychische Beeinträchtigungen wie Depressionen einhergehen.

Wenig Forschung gebe es dagegen zu der Frage, „whether the benefits of the intervention justify the costs of the intervention“ (Moll et al. 2020, S. 3). Die Gründe dafür sehen die Forschenden einerseits in dem methodischen Problem, eine Verbesserung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen verlässlich zu erheben, und andererseits Untersuchungsinstrumente zu finden, die die Effekte einer Intervention möglichst umfassend erfassen können.

Die Studie hatte zum ersten das Ziel zu vergleichen, ob sich die Lebensqualität der in der Studie untersuchten 12- bis 16-jährigen Schülerinnen und Schüler durch eine individuelle, professionell durchgeführte LRS-Therapie verbessert. Erhoben wurde dies zum einen durch einen standardisierten Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität, den sog. EQ-5D (EuroQol Research Foundation, 2018), der diesen Gesundheitszustand in fünf Dimensionen (Mobilität, Selbstversorgung, alltägliche Tätigkeiten, Schmerzen/Beschwerden, Angst/Niedergeschlagenheit) in einer dreistufigen Likert-Skala aufgrund von Selbstauskünften erhebt. Zum anderen kam der Kiddo-Kindl-Fragebogen zum Einsatz (Ravensteiner-Sieberer & Bullinger, 2000), der die gesundheitsbezogene Lebensqualität in den Dimensionen körperliches Wohlbefinden, emotionales Wohlbefinden, Selbstwert, Familie, Freunde und Schule erfasst, die nachweislich mit Lernstörungen zusammenhängen. Anhand der Fragebögen beurteilten die Kinder und Jugendlichen ihre Lebensqualität vor dem Start der LRS-Intervention und danach.

Das zweite Ziel war, die Kosten einer qualitativ hochwertigen LRS-Therapie ihrem Nutzen gegenüberzustellen, um auf diesem Weg Aussagen über ihre Effektivität treffen zu können. Dazu wurden zum einen die aus den beiden Fragebögen gewonnenen Daten genutzt, um den Nutzen aus der Therapie zu evaluieren. Darüber hinaus wurden Daten aus offiziellen Statistiken und anderen Studien herangezogen, um Aussagen darüber zu treffen, welche Kosten bei unbehandelten LRS entstehen. Schließlich wurde erhoben, welche direkten (z. B. Bezahlung der Therapiestunden) und indirekten (z. B. Verzicht auf Einkommen) Kosten den Familien der betroffenen Kinder und Jugendlichen entstehen.

Um beide Seiten in Relation zu setzen, wurde auf das Konzept der QALYs (quality adjusted life years) zurückgegriffen (Weinstein et al., 2009). Dabei wird der Gesundheitszustand bewertet auf einer Skala zwischen 0 (= tot) und 1 (= perfekte Gesundheit), und diese Einschätzung wird benutzt als „valuation of health benefit“ einer bestimmten Behandlung. Dabei wird die Quantität der gewonnenen Lebenszeit mit ihrer Qualität multipliziert, um so die Effektivität einer Therapie erheben und verschiedene Behandlungen vergleichen zu können. Da die LRS keinen Einfluss auf die Lebenserwartung hat, wurde dieser Wert in der Studie für die Zeit zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr berechnet.

Die Stichprobe bestand aus 36 (9 weiblichen und 27 männlichen) Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren (Ø 13.28 Jahre) mit einer LRS-Diagnose durch zertifizierte Therapeutinnen und Therapeuten, was bedeutet, dass ihre Lese- bzw. Rechtschreibleistung in standardisierten Tests um mindestens 1.5 Standardabweichungen unter dem Durchschnitt ihrer Altersgruppe lag. Die Behandlung der LRS dauerte zum Zeitpunkt der Untersuchung mindestens 20 Wochen an. Ein Drittel der Jugendlichen litt außerdem unter anderen komorbiden Störungen wie ADHS oder Folgeerscheinungen wie Kopfschmerzen etc.

Zu der Frage, ob die LRS-Therapie die empfundene Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen verbessert hat, fanden die Forschenden sowohl global als auch in den meisten einzelnen Dimensionen positive Ergebnisse. So verbesserten sich sowohl die Werte im EQ-5D-Fragebogen als auch im Kiddo-Kindl-Fragebogen signifikant mit einer Effektstärke von r = 0.281 bzw. r = 0.426, was einem kleinen bzw. mittleren Effekt entspricht. Hohe Effektstärken zeigten sich für die Verbesserung der empfundenen Lebensqualität in Dimensionen, die mit Symptomen der LRS zusammenhängen, wie alltägliche Tätigkeiten (r = 0.329), Angst/Niedergeschlagenheit (r = 0.395) aus dem EQ-5D-Fragebogen und Wohlbefinden (rs = .480) und Selbstwert (rs = .435) aus dem Kiddo-Kindl-Fragebogen. Zur Kontrolle zeigten sich in den Dimensionen, für die man keine Verbesserungen im Zusammenhang mit einer Behandlung der LRS erwarten würde, da sie nicht direkt mit der LRS zusammenhängen, wie Mobilität, Selbstfürsorge, Schmerzen/Beschwerden, keine Veränderungen in der Lebensqualität.

Die den Eltern der betroffenen Kinder und Jugendlichen entstandenen Kosten wurden in direkte (Diagnose und Therapie) und indirekte Kosten (Fahrtkosten, entstandene Einkommenseinbußen und Kosten für Therapiematerial) eingeteilt und teils durch vorhandene Daten (Therapieentgelte) und teils durch Elternbefragungen erhoben. Diese Kosten unterschieden sich deutlich zwischen den Befragten und beliefen sich im Durchschnitt auf 4.395 € für eine durchschnittliche Therapielänge von ca. 80 Stunden.

Auf dieser Grundlage wurden die Kosten pro QALY berechnet, indem die sechs Jahre der Entwicklung (zwischen 12 und 18 Jahren) bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen multipliziert wurde mit der gemessenen Veränderung der Werte in dem EQ-5D-Fragebogen und zu den erhobenen Kosten in Beziehung gesetzt wurden. Daraus ergaben sich Kosten von 9.782 € ohne und 13.119 € mit den indirekten Kosten pro QALY. Dies entspricht im Vergleich mit anderen Therapien eher geringen Kosten, etwa auf einer Ebene mit einer Sprachtherapie z. B. beim Stottern.

Zu der Frage, welche Kosten unbehandelte LRS verursachen, wurde auf vorhandene Studien zur Wiederholung von Klassen durch Schülerinnen und Schüler mit und ohne LRS zurückgegriffen und auf die Kosten für eine Wiederholung im deutschen Schulsystem. Die Forschenden kommen zu dem Ergebnis, dass die Anzahl von 16.721 Schülerinnen und Schüler jährlich mehr wiederholen, als es ohne LRS wären. Dadurch entstünden Kosten von 122.063.300 € pro Jahr. Dabei wurden andere mögliche Kosten wie ein frühzeitiger Schulabbruch aufgrund fehlender Daten nicht mit einberechnet.

Weiterhin berechnen die Forschenden, wie viel Produktivität der deutschen Volkswirtschaft jährlich entgeht. Die Grundlage dafür bildet die Tatsache, dass der Bildungserfolg und Schulabschluss von Kindern mit LRS weit hinter dem liegt, der aufgrund ihrer Intelligenz erwartbar wäre. Dazu ziehen die Autorinnen und Autoren Daten dazu heran, ein wie großer Anteil der Kinder mit LRS ein Gymnasium (27,6% gegenüber 76,3% Kindern ohne LRS) oder eine Hauptschule (29,3% gegenüber 4,6%) besucht, und berechnen auf dieser Basis, welches Einkommen so durch nicht erreichte Bildungsabschlüsse nicht generiert werden würde. Aufgrund der Anzahl der Erwerbstätigen mit Legasthenie und der im Vergleich ermittelten Differenzen in Gehalt und Versicherungstarifen kommen sie auf eine Zahl von 1.760.925.000 € pro Monat. Nicht einberechnet wurden hier Effekte aus möglicherweise höheren Krankheitsraten bei den Betroffenen aufgrund der häufigen Komorbiditäten.

Hintergrund
Verlässliche Daten gibt es inzwischen zu wirksamen Therapien im Bereich LRS. Weniger gut ist die Datenlage in anderen Bereichen dieser Studie beispielsweise zum Gesundheitszustand von LRS-Kindern oder ihrem schulischen und beruflichen Werdegang.

Design
Die Studie stützt sich auf eine verhältnismäßig kleine Stichprobe. So schreiben die Autorinnen und Autoren selbst, dass es wünschenswert wäre, die Studie mit einer repräsentativen Stichprobe zu wiederholen. Sie weisen zudem darauf hin, dass die Fragen zum Wohlbefinden vor der LRS-Behandlung retrospektiv beantwortet wurden, was das Ergebnis im Sinne sozialer Erwünschtheit verzerren könnte. In diesem Zusammenhang muss sicherlich auch das junge Alter der Befragten kritisch eingeschätzt werden.

Die Ergebnisse beruhen auf der Auswertung standardisierter Fragebögen und weisen in manchen Bereichen nach Auskunft der Autorinnen und Autoren eine breite Streuung auf. Eine genauere Darstellung der Ergebnisse wäre deshalb wünschenswert gewesen.

Das trifft auch auf die Berechnung der QALYs zu. Hier bleibt die Darstellung recht allgemein, was die Nachvollziehbarkeit erschwert. Für Rezipientinnen und Rezipienten, die nicht mit gesundheitsökonomischer Forschung vertraut sind, wären hier zusätzliche Informationen notwendig.

Ergebnisse
Die Autorinnen und Autoren arbeiten heraus, dass der Benefit von LRS-Therapien längst nicht nur auf individueller Ebene liegt. Die Einschätzung des individuellen Befindens besonders in den Bereichen Emotionen und Selbstwert steigt in beeindruckendem Maße durch die Therapie, was ein erstes wichtiges Ergebnis der Studie ist.

Eindrucksvoll ist aber weiterhin, dass sich die Fortschritte auch in Euro bemessen lassen, wenn man sie mit den Kosten vergleicht, die durch unbehandelte LRS entstehen. Der Vergleich mit anderen Therapiekosten, die von Krankenkassen übernommen werden, wirft Zweifel an der gängigen Praxis auf, denn es scheint, als sei in diesem Bereich mit überschaubarem Input ein großer Output zu erreichen. Kritisch muss dabei allerdings im Hinterkopf behalten werden, dass die Forschenden teilweise durch ihre Institution mit dem therapeutischen Bereich verbunden sind.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Sonja Hensel, Lehrerin am Berufskolleg in Siegburg sowie Lehrbeauftragte an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Rechtschreib-, Schreib- und Lesedidaktik, selbstreguliertes und kooperatives Lernen.

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