Fragestellungen der Studie:

  • Wie wirkt sich Nachhilfeunterricht auf Schülerleistungen aus?

Rezension zur Studie

Guill, K., Lüdtke, O. & Köller, O. (2011). Assessing the instructional quality of private tutoring and its effects on student outcomes: Analyses from the German National Educational Panel Study. British Journal of Educational Psychology, 90(2), 282–300.FIS Bildung

Karin Guill, Oliver Lüdtke und Olaf Köller gehen der Frage nach, ob sich privater Nachhilfeunterricht in der 10. Jahrgangsstufe in den Fächern Deutsch oder Mathematik positiv auf die Noten im Jahreszeugnis auswirkt und inwiefern die Qualität der Nachhilfe dabei eine Rolle spielt. Dazu untersuchen sie über 11.000 Datensätze aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS), wobei fast ein Viertel dieser Schülerinnen und Schüler Nachhilfe erhielt, davon die meisten in Mathematik (1.714) und wenige in Deutsch (148).

Guill et al. finden einen schwachen Hinweis auf einen leistungssteigernden Effekt von privater Nachhilfe, allerdings nur für Schülerinnen und Schüler mit schlechteren Halbjahresnoten. Die Halbjahresnoten sagen die Noten im Jahreszeugnis in hohem Maße voraus (β = .68). Überraschenderweise zieht das Autorenteam nicht in Betracht, dass dadurch möglicherweise ein Haupteffekt von privater Nachhilfe, der sich bereits in den Halbjahresnoten niederschlägt, in der Regressionsanalyse verdeckt wird.

Im sozial-emotionalen Bereich führt private Nachhilfe im Durchschnitt zu geringfügigen Verbesserungen, was sich durch ein gesteigertes Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler in der Schule und zu Hause manifestiert.

Bezogen auf die Qualitätsdimensionen kognitive Aktivierung, unterstützendes Lernklima und Strukturierung, die in Anlehnung an die bekannten drei Basisdimensionen von Unterrichtsqualität formuliert wurden, erzielen bereits unterrichtende und damit geprüfte Lehrkräfte keine besseren Ergebnisse als Lehramtsstudierende oder Oberstufenschülerinnen und -schüler. Ein Zusammenhang der Qualitätsdimensionen mit den Jahresnoten lässt sich nicht belegen.

Der Studie liegt ein umfangreicher Datensatz aus Schulen in Deutschland zugrunde. Zudem ist das längsschnittliche Studiendesign positiv zu vermerken. Der regressionsanalytische Ansatz zur Untersuchung des Effekts von privater Nachhilfe auf schulische Leistungen überzeugt jedoch nicht und der ausbleibende Zusammenhang mit den Qualitätsdimensionen wirft weitere Fragen auf. Darüber hinaus konnten nicht alle lernrelevanten Bedingungen, die von Guill et al. im Theorieteil angeführt werden, in dieser Sekundäranalyse berücksichtigt werden. Daher bleibt weiterhin offen, inwieweit private Nachhilfe nützlich ist und welche Bedingungen erfolgsrelevant sind.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Welche Erfahrungen habe ich bezüglich der Lernwirksamkeit von Nachhilfe bei meinen Schülerinnen und Schülern gemacht? 
  • Welche schulinternen Fördermöglichkeiten bestehen an meiner Schule als Alternative zu Nachhilfe?
  • Welche lernwirksamen metakognitiven Lernstrategien vermittele ich im Unterricht?
  • Inwiefern richte ich meinen Unterricht an den Qualitätsdimensionen zu wirksamem Unterricht (kognitive Aktivierung, unterstützendes Lernklima und Strukturierung) aus?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welche Fördermöglichkeiten bestehen klassenübergreifend bereits an meiner Schule, um leistungsschwache Schülerinnen und Schüler zu unterstützen?
  • Mit welchen Maßnahmen stelle ich sicher, dass möglichst viele Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards in allen Fächern erreichen, sodass die Schülerschaft nicht auf private Nachhilfe zurückgreifen muss?
  • Wie kann verhindert werden, dass es immer wieder in bestimmten Fächern zu schlechten Noten und damit verbunden zum Wiederholen einer Klasse kommt?
  • Welche Konsequenzen werden aus standardisierten Leistungstests (VERA 3, VERA 8, Lernstand 5 etc.) für die Unterrichts- und Schulentwicklung gezogen?

Viele Schülerinnen und Schüler an deutschen Schulen nehmen im Laufe ihrer Schulkarriere private Nachhilfe in Anspruch. Dabei ist wissenschaftlich nicht abschließend geklärt, ob Nachhilfe wirklich zu besseren Leistungen und damit verbunden auch zu besseren Noten führt. Guill et al. verweisen darauf, dass manche Studien positive Effekte für den Nachhilfeunterricht nachweisen können (z. B. Berberoğlu & Tansel, 2014, für das türkische Schulsystem), andere wiederum identifizieren gar keine oder nur schwache Effekte (z. B. Park, Buchmann, Choi & Merry, 2016, für das amerikanische Schulsystem). Um dieses Forschungsdesiderat (im deutschen Sprachraum) zu beheben, analysieren Guill et al. Daten aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe. Die Studie folgt drei Fragestellungen:

  1. Schneiden Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe erhalten, im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, die keine Nachhilfe erhalten, nach Kontrolle wichtiger Kovariablen (familiärer Hintergrund usw.) besser in den Fächern Deutsch und Mathematik ab?
  2. Lässt sich Nachhilfeunterricht mit den drei Qualitätsdimensionen „Strukturierung“ (structure), „kognitive Aktivierung“ (challenge) und „unterstützendes Lernklima“ (support) beschreiben?
  3. Führt qualitativ hochwertiger Nachhilfeunterricht, gemessen an den drei Qualitätsdimensionen, zu besseren Leistungen auf Schülerseite?

Zusätzlich wird untersucht, ob Nachhilfeunterricht neben den rein potenziellen kognitiven Effekten auf die Lernleistungen der Schülerinnen und Schüler auch Veränderungen im sozial-emotionalen Bereich hervorrufen kann. Die Fragestellungen werden mittels folgender sechs Hypothesen operationalisiert:

  • Hypothese 1a: Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfeunterricht erhalten, erzielen nach Kontrolle von Störvariablen (Motivation, familiärer Hintergrund etc.) bessere Leistungen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die keinen Nachhilfeunterricht erhalten.
  • Hypothese 1b: Der Effekt der Leistungssteigerung ist umso größer, je motivierter und je höher das bereits vorhandene Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe erhalten, ist.
  • Hypothese 2a: Die Unterrichtsqualität der Nachhilfe lässt sich mit den drei Dimensionen Strukturierung, kognitive Aktivierung und unterstützendes Lernklima beschreiben.
  • Hypothese 2b: Geschulte und qualifizierte Nachhilfelehrkräfte erzielen höhere Werte in diesen Dimensionen als geringer qualifizierte Nachhilfelehrkräfte.
  • Hypothese 3a: Ein stärker strukturierter und kognitiv aktivierender Nachhilfeunterricht hat einen höheren Effekt auf die Schülerleistungen als unstrukturiert und nicht kognitiv anspruchsvoller Nachhilfeunterricht.
  • Hypothese 3b: Ein emotional unterstützender Nachhilfeunterricht steigert das globale Wohlbefinden der Nachhilfeschülerinnen und -schüler im normalen Schulunterricht und auch zu Hause im familiären Umfeld.

Die Daten der vorliegenden Studie stammten aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS), einer interdisziplinären und längsschnittlichen Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe e. V. an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Es handelte sich damit um eine Sekundäranalyse, da die analysierten Daten nicht eigens für die hier präsentierte Studie erhoben wurden, sondern stattdessen für den individuellen Forschungszweck und die zu interessierenden Forschungsfragen aufs Neue herangezogen wurden. 

Es flossen Daten von 11.358 Schülerinnen und Schülern einer NEPS-Kohorte ein, die in fünf Wellen erhoben wurden. Genauer gesagt handelte es sich um Daten von Schülerinnen und Schülern, die in Welle 1 (Herbst 2010) die 9. und in Welle 5 die 11. Klasse (Herbst 2012) besuchten. Fragen zu dem Themengebiet private Nachhilfe wurden in der 3. Welle (Frühling 2012) erhoben. Von den insgesamt 11.348 Schülerinnen und Schülern erhielten zu diesem Zeitpunkt n = 2.679 Nachhilfeunterricht (23,6 %). Es wurden ausnahmslos Schülerinnen und Schüler von staatlichen Regelschulen in die Studie inkludiert. Das bedeutet, dass Jugendliche, die eine Privat- oder Förderschule oder Ähnliches besuchten, nicht in die Auswertung miteinbezogen wurden. 51,1 % der untersuchten Schülerinnen und Schüler waren weiblich und 40,6 % besuchten ein Gymnasium oder eine vergleichbare Schulform mit Oberstufe.

Die Erhebung der Daten fand in den an der NEPS-Studie teilnehmenden Schulen statt. Die Schülerinnen und Schüler füllten Fragebögen in Papierform aus. Diejenigen, die angaben, Nachhilfe zu erhalten, bewerteten die Qualifikation ihres Nachhilfelehrers bzw. ihrer Nachhilfelehrerin (fünf Optionen). Zur Qualität der Nachhilfe wurden Skalen von der deutschen Erweiterung der PISA-2003-Studie adaptiert. Die Schülerinnen und Schüler bewerteten dabei die Struktur der Nachhilfe, die empfundene Herausforderung und die wahrgenommene Unterstützung durch die Nachhilfeperson. Als Indikator für schulische Leistung wurden Schulnoten herangezogen. 

Weiter wurde die Motivation der Nachhilfeschülerinnen und -schüler erfragt. In Anlehnung an Ryan und Deci (2000) wurde dabei das fachbezogene Interesse aufgenommen. Die Zufriedenheit wurde mittels Einzelpunktmessung erhoben (Gogol et al., 2014; Wanous, Reichers & Hudy, 1997). Zudem wurden Kontrollvariablen berücksichtigt. Die hierfür verwendeten Skalen zum akademischen Selbstkonzept (Cronbachs α = .91 für Mathematik und Cronbachs α = .84 für Deutsch) sowie zu kognitiven Fähigkeiten (Matrizentest mit zwölf Items, Cronbachs α = .84) wurden für NEPS entwickelt und geprüft. Weiter waren Fragen zum Geschlecht sowie zum sozioökonomischen Hintergrund der Eltern beziehungsweise der Erziehungsberechtigten enthalten. 

Alle NEPS-Instrumente sind auf der NEPS-Homepage verfügbar. Für die Datenauswertung wurden die Daten umkodiert, sodass die Note sehr gut (1) der Ziffer 6 entspricht und die Note ungenügend (6) der Ziffer 1. Nicht vorhandene Daten beziehungsweise fehlende Angaben wurden mittels eines statistischen Verfahrens (Maximum-Likelihood-Methode) geschätzt. Die Datenauswertung erfolgte mit dem Statistikprogramm R (Paket lavaan 0.6-3). Um die Hypothesen 1a bis 3b zu überprüfen, wurden verschiedene statistische Verfahren (Regressionsanalysen und Strukturgleichungsmodelle) durchgeführt. 

Das Hauptergebnis dieser Studie ist, dass sich keine Effekte von Nachhilfe in Mathematik oder Deutsch auf die Jahresendnoten nachweisen lassen. Somit muss Hypothese 1a verworfen werden. 

In Bezug auf Hypothese 1b lässt sich konstatieren, dass nicht diejenigen Schülerinnen und Schüler am meisten von der Nachhilfe profitieren, die am motiviertesten sind und ein höheres Ausgangsleistungsniveau aufweisen. Anders gesagt: Schülerinnen und Schüler, die im Halbjahr im Vergleich zu ihren Mitschülerinnen und Mitschülern schlechtere Noten haben, können ihre Noten durchschnittlich stärker zum Schuljahresende verbessern und somit eine Leistungssteigerung vollziehen. Somit muss auch Hypothese 1b verworfen werden.

Im Gegensatz zu den ersten beiden Hypothesen kann Hypothese 2a bestätigt werden. Somit lässt sich die Nachhilfeunterrichtsqualität hinreichend gut mit den drei Dimensionen Strukturierung, kognitive Aktivierung und unterstützendes Lernklima charakterisieren und analysieren. Die Dimensionen korrelieren zwar teilweise sehr hoch miteinander, können jedoch trotzdem statistisch voneinander unterschieden werden.
Hinsichtlich der Hypothese 2b lassen sich nur schwache Effekte nachweisen und somit muss auch diese Hypothese verworfen werden. Die vorliegende Evidenz deutet nicht darauf hin, dass der Grad der Qualifikation der Nachhilfelehrerinnen und -lehrer eine große Rolle im Zusammenhang mit den drei Basisdimensionen spielt.

Bezugnehmend auf die vorletzte Hypothese, 3a, lässt sich aussagen, dass keine positiven Effekte der Qualität des Nachhilfeunterrichts auf die beobachteten Schülerleistungen identifiziert werden. Das heißt, dass ein anspruchsvollerer und besser strukturierter Nachhilfeunterricht nicht systematisch zu besseren Resultaten führt. Diesbezüglich muss auch Hypothese 3a verworfen werden. 

Für die letzte Hypothese 3b lässt sich festhalten, dass es einen schwach positiven Zusammenhang zwischen der Unterstützung, die die Schülerinnen und Schüler im Nachhilfeunterricht erhalten, und der allgemeinen Zufriedenheit in der Schule gibt. Dies gilt sowohl für das Fach Mathematik als auch für das Fach Deutsch. Umgekehrt gibt es gleichzeitig aber auch einen negativen, jedoch noch schwächeren Effekt zwischen der Nachhilfeintensität und der Schulzufriedenheit. Ist der Nachhilfeunterricht zu anspruchsvoll und zu intensiv, so sinkt auch bei den Nachhilfeschülerinnen und -schülern die Zufriedenheit mit dem eigenen Schulleben. Hypothese 3b kann nach Analyse der Daten erhalten bleiben.

Hintergrund
Die vorliegende Studie ist als sehr relevant für Lehrerinnen und Lehrer einzuschätzen, da Nachhilfe ein wichtiges und oftmals auch ambivalent konnotiertes Thema im Schulleben der Schülerinnen und Schüler ist. Private Nachhilfe wird meistens dann in Anspruch genommen, wenn die eigenen Schulnoten sich kritisch verschlechtert haben und eine Wiederholung der Klassenstufe droht. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil der Schülerschaft, in dieser Studie 23,6 % aller Schülerinnen und Schüler der 10. Jahrgangsstufe, nimmt entweder bereits private Nachhilfe wahr oder spielt mit dem Gedanken, dies zu tun. Zusätzlich zu dieser hohen schulpraktischen Relevanz greift die vorhandene Forschungsarbeit ein relevantes Forschungsdesiderat auf, da es widersprüchliche wissenschaftliche Erkenntnisse zu dem Thema gibt. Angesichts dessen untersucht die Studie von Guill et al. wichtige Zusammenhänge zwischen den erreichten Schulleistungen in Form von Ziffernoten und der Inanspruchnahme von Nachhilfe für das deutsche Schulsystem. Darüber hinaus liefert die vorliegende Arbeit wichtige Impulse und Anregungen für zukünftige Studien im Bereich der Nachhilfeforschung (Beispiel: Fokussierung auf Leistungszuwächse mittels Diagnoseinstrumenten, Messungen der Lernzeit bei Aufnahme von Nachhilfe, differenzierte Skalen im Bereich Herausforderung etc.).

Design
In der Studie wurden die Halbjahres- und die Jahresnoten in der 10. Jahrgangsstufe berücksichtigt. So wurde der Effekt von Nachhilfe bezogen auf ein halbes Jahr erfasst. Für diesen Zeitraum können Leistungsentwicklungen und diesbezüglich auch die Effekte von Nachhilfeunterricht untersucht und mögliche Korrelationen herausgearbeitet werden. Zusätzlich zu dem längsschnittlichen Design handelt es sich um eine große Stichprobe, wodurch die Aussagekraft und Verallgemeinerbarkeit der Studie (externe Validität) erhöht wird. Außerdem ist positiv zu bewerten, dass nicht nur ein Schulfach untersucht, sondern stattdessen der Fokus auf die zwei Hauptfächer Deutsch und Mathematik gelegt wurde. 

Leider lagen keine Halbjahresnoten im NEPS-Datensatz für das Schulfach Englisch vor, weshalb für dieses Fach keine Analysen bezüglich des Zusammenhangs zwischen privater Nachhilfe und erreichter Schulnote durchgeführt werden konnten. Eine Schwäche der Studie von Guill et al. ist, dass das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler unmittelbar vor der Nutzung der Nachhilfe nicht gemessen wurde. Dadurch kann es zu Verzerrungen im Bereich der aktiven Lernzeit kommen (vgl. dazu nächster Abschnitt). Da zudem nicht erfasst wurde, seit wann die Schülerinnen und Schüler Nachhilfe erhielten, ist der Beitrag der privaten Nachhilfe zur „anfänglichen“ Leistung nicht ermittelbar. Es können lediglich Aussagen in Bezug auf Effekte privater Nachhilfe von der Mitte bis zum Ende der 10. Jahrgangsstufe getroffen werden. Ob eine Nachhilfemaßnahme bereits längere Zeit besteht und wie sich diese gegebenenfalls bereits auf die Zwischennote auswirkt, bleibt offen. Eine weitere Limitation der Studie ist die Tatsache, dass die Schülerleistung mittels Ziffernoten erfasst wurde. Schulnoten, die auf Klassenarbeiten und der mündlichen Eindrucksnote basieren, erfüllen oftmals nicht die hohen Ansprüche eines standardisierten diagnostischen Testverfahrens (u. a. Objektivität, Reliabilität und Validität) und sind, vor allem wenn es sich um die Endjahresnote handelt, aufgrund von Fehleinschätzungen der Lehrpersonen verzerrt (vgl. Bohl, 2022). 

Mithilfe eines kontinuierlichen formativen Assessments könnte man kleinere positive als auch negative Leistungsentwicklungen gegebenenfalls differenzierter erfassen als mit Ziffernoten. Dadurch könnten potenziell vorhandene Effekte der Nachhilfe auf die Leistungsentwicklung vermutlich genauer abgebildet und erfasst werden.
 
Ergebnisse
Auf praktischer Ebene sind die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit möglicherweise überraschend, da allein die Relevanz des Themas im Schulalltag und die Omnipräsenz vieler privater Nachhilfeinstitute in deutschen Städten eine positive Wirkung von Nachhilfe auf die Schulnoten suggerieren. Umso interessanter und spannender sind daher auf den ersten Blick die Ergebnisse dieser Studie, dass Nachhilfeunterricht nicht grundsätzlich zu besseren Leistungen und damit auch zu besseren Noten in den Fächern Deutsch und Mathematik führe. Bei näherem Hinsehen wird allerdings erkennbar, dass auf Basis der vorliegenden Studie diesbezüglich keine allgemeingültige Aussage getroffen werden kann.

Leistungsschwache Schülerinnen und Schüler konnten laut der vorliegenden Analyse zwar geringfügig von der Nachhilfe profitieren, dennoch lassen sich im Vergleich zur Kontrollgruppe keine überdurchschnittlichen positiven Effekte von Nachhilfe auf die Schuljahresendnote nachweisen. Anders ausgedrückt: Diejenigen Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe erhielten, schnitten auch unter Kontrolle zahlreicher Störvariablen nicht besser ab als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die keine Nachhilfe erhielten. Leider und wie bereits erwähnt wurden keine Zusammenhänge für das Fach Englisch berichtet, was am Fehlen der Halbjahresnoten liegt. Über die Gründe für das Fehlen der Daten für das Fach Englisch kann nur gemutmaßt werden, da die betroffenen Schülerinnen und Schüler höchstwahrscheinlich eine Halbjahresnote erhalten haben.

Um der Frage weiter nachzugehen, welchen Beitrag private Nachhilfe zur Verbesserung schulischer Leistungen leisten kann, erscheint Folgeforschung sinnvoll. Dabei sollte beispielsweise die aktive Lernzeit eines Schülers oder einer Schülerin beim Untersuchungsdesign berücksichtigt werden. So könnte es sein, dass Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe in Anspruch nehmen, zu Hause weniger lernen als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, die keine Nachhilfe erhalten. Wenn die Summe der aktiven Lernzeit mit Beginn der Nachhilfe gleich bleibt oder sogar sinkt, könnten sich eventuell vorhandene positive Effekte auf die Leistung der Schülerinnen und Schüler unter Umständen relativieren. Zudem wären Befragungen des Nachhilfepersonals denkbar: Wie sieht ihr Blick auf den Nachhilfeunterricht aus und welche Gründe sehen sie für die in dieser Studie festgestellte Ineffizienz des Nachhilfeunterrichts?

Bei der Analyse der Forschungsergebnisse muss man jedoch bedenken und berücksichtigen, dass Schülerinnen und Schüler, die Nachhilfe erhalten, im Schnitt in dieser Studie auch die durchschnittlich schlechteren Schülerinnen und Schüler sind. Die im Mittel schlechteren Noten spiegeln sich auch in durchschnittlich schlechteren generellen kognitiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in den Daten wider. Somit könnte einer von vielen plausiblen Gründen für die hier gefundene Unwirksamkeit von Nachhilfeunterricht die generell schlechteren Ausgangsbedingungen auf der Nehmerseite, das heißt der Schülerinnen- und Schülerseite, sein. 

Weitere Gründe und Wirkungsmechanismen sollten in zukünftigen Studien erforscht werden. Dabei sollte, wie oben bereits erwähnt, die aktive Lernzeit gemessen werden und es könnten Videoaufnahmen von den Nachhilfestunden erhoben werden, damit die kognitive Aktivierung in diesen Stunden näher untersucht werden kann.  

Hervorzuheben sei an dieser Stelle noch der Befund, dass die wahrgenommene wertschätzende Unterstützung in der Nachhilfe, ausgedrückt durch Lob, eine gute Beziehung zur Nachhilfeperson, geduldige Erklärungen etc., sich leicht positiv auf die Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler in der Schule auswirkt. Die Zufriedenheit und damit einhergehend das psychische Wohlergehen der Schülerschaft ist eine wichtige Lernvoraussetzung, da es sich zumindest unter emotionalem Stress nur schlecht lernen lässt (Hascher & Hagenauer, 2011). Diesbezüglich kann Nachhilfeunterricht eine auf sozial-emotionaler Ebene gering positive unterstützende Funktion für zukünftige Lernprozesse zugeschrieben werden.

Auf theoretisch-wissenschaftlicher Ebene konnte die vorliegende Studie wichtige Erkenntnisgewinne im Bereich der Modellentwicklung generieren. So wurde nachgewiesen, dass sich Nachhilfeunterricht mit den drei Dimensionen Struktur, Herausforderung und Unterstützung beschreiben lässt. Dies ist nicht selbstverständlich, da das Modell ursprünglich für formale schulische Lernumgebungen entwickelt wurde, wozu privater Nachhilfeunterricht nicht zählt.

Zur Einordnung der Forschungsergebnisse ist noch zu erwähnen, dass die hier vorgestellte Studie Schuldaten aus Deutschland analysiert hat. Diesbezüglich lassen sich die Ergebnisse nicht auf andere Regionen dieser Erde, insbesondere die Region, zu der die Länder Südostasiens gehören, übertragen. Dies liegt daran, dass in solchen Ländern Nachhilfe oftmals zur Leistungssteigerung selbst bei guten bis sehr guten Noten eingesetzt wird. Im deutschsprachigen Raum findet private Nachhilfe eher im Zusammenhang mit schlechteren Noten Verwendung und wird auch in diesem Kontext assoziiert (Hille, Spieß & Staneva, 2016, S. 116). Gleichzeitig ist dieses Merkmal – Ursprung der Studie – auch eine Stärke für Akteurinnen und Akteure im deutschen Bildungssystem: Die Ergebnisse können „ohne kulturellen Filter“ direkt auf das eigene Schul- und Bildungssystem übernommen und Konsequenzen daraus abgeleitet werden.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Florian Kühlwein, Lehrer am Progymnasium Tailfingen, M.A. Schulforschung und Schulentwicklung

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