Fragestellungen der Studie:

  • Wie lässt sich der kompetente Umgang mit Abbildungen (piktoriale Literalität) fördern?

Rezension zur Studie

Koenen, J., Kobbe, J. & Rumann, S. (2020). Umgang mit Bildern in den Naturwissenschaften – Ein sequenziertes Training der Piktorialen Literalität. Unterrichtswissenschaften, 48, 91–112.FIS Bildung

Das Verstehen von Bildern und Abbildungen ist oftmals essenziell, um ein konzeptuelles Verständnis von naturwissenschaftlichen Sachverhalten zu erlangen. Koenen et al. entwickelten daher ein Training zur Stärkung des kompetenten Umgangs mit Bildern und bildspezifischen Symbolsystemen („piktoriale Literalität“), welches sie entlang der drei Anforderungsbereiche Reproduktion, Reorganisation und Transfer sequenzierten.

Um die Wirksamkeit ihres eintägigen Trainings nachzuweisen und den Einfluss der Sequenzierung zu prüfen, bildeten sie neben einer Interventionsgruppe, in der das Bildverständnis mit abschnittsweise zunehmenden Anforderungen explizit thematisiert und geübt wurde, eine Kontrollgruppe, in deren Unterricht Bilder und Abbildungen ebenfalls einen Platz hatten, ihr Verstehen wurde jedoch nicht explizit und systematisch thematisiert und eingeübt. Die Untersuchung erfolgte testgestützt im Prä-Post-Design mit 93 Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse an Gesamt- und Realschulen in NRW.

Im Ergebnis führen beide Maßnahmen zu einer Steigerung der piktorialen Literalität, wobei die Zuwächse der Interventionsgruppe in den Anforderungsbereichen Reorganisation und Transfer moderat höher ausfallen als in der Kontrollgruppe (Varianzanalyse mit Messwiederholung; Interaktionseffekte η2 ≤ .08). In der Interventionsgruppe sagen die Ergebnisse im Bereich Reproduktion die Leistungen in den Bereichen Reorganisation und Transfer etwas stärker voraus als in der Kontrollgruppe, was nach Koenen et al. für die Eignung des sequenzierten Trainings spricht.

Insgesamt gelingt auf der Basis eines weitgehend sinnvollen Untersuchungsdesigns der Nachweis einer etwas größeren Steigerung der piktorialen Literalität in zumindest zwei Anforderungsbereichen durch ein explizites und strukturiertes Training, wobei Koenen et al. klar ist, dass Stichprobe und Effektstärken recht klein sind und es sich nur um eine Momentaufnahme handelt, die langfristige Wirksamkeit nicht ableiten kann.

Das Studienergebnis dürfte Schulpraktiker kaum überraschen, erweist es doch nur, dass eine Kompetenz stärker ausgebildet wird, wenn sie systematisch thematisiert und geübt wird, als wenn ihre Entwicklung im Unterricht nicht explizit und strukturiert angebahnt wird. Kritisch zu sehen ist der Umgang mit Tabellen im Training der piktorialen Literalität, da der Fokus eher auf das reine Bildverständnis gelegt wird; weitere Kompetenzen, die zur Ausdeutung von Tabellen erforderlich sind, werden hingegen kaum berücksichtigt. Immerhin hat die Untersuchung das Potenzial, weitere Arbeiten zum Aufbau piktorialer Literalität anzuregen, in denen konkrete Maßnahmen zu deren Steigerung vergleichend und möglicherweise auch noch stärker kontextgebunden untersucht werden und an unterschiedliche Gruppen von Schülerinnen und Schülern angepasst werden könnten.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Rolle spielt die Auswertung von Abbildungen in meinem Unterricht? Welche Abbildungstypen sind dabei besonders wichtig? In welchen Altersstufen kommen welche Abbildungen besonders häufig zum Einsatz?
  • Welche Komplexität haben die eingesetzten Abbildungen? Was müssen Schüler oder Schülerinnen wissen/können, um diese Abbildungen angemessen auswerten zu können? Wo treten bei der Auswertung regelhaft Verständnisprobleme oder Fehler auf? 
  • Berücksichtige ich die Ausbildung der piktorialen Literalität in meinem Unterricht? Welche Methoden sind mir zur Förderung der piktorialen Literalität in meinem Unterricht bekannt? Benutze ich ein spezielles, kontextunabhängiges Training, geschieht der Einsatz von Abbildungen eher „en passant“ im Unterricht oder arbeite ich kontextorientiert und bilde die Fähigkeiten der Lernenden zwar systematisch, aber in den inhaltlichen Unterrichtskontext eingebettet aus?
  • Besteht von meiner Seite aus Informations- beziehungsweise Fortbildungsbedarf?
  • Hat meine Schule feste Strukturen für den Umgang mit Abbildungen entwickelt (etwa Methodencurricula)? Werden diese den Anforderungen in meinem Fach gerecht?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Besteht an meiner Schule das Bewusstsein für die große Bedeutung einer sachgerechten Auswertung von Abbildungsformen für den Kompetenzaufbau im (naturwissenschaftlichen) Unterricht? Inwiefern muss meine Schule hier reagieren, etwa durch den Aufbau eines angemessenen Methodencurriculums oder durch Fortbildungsmaßnahmen?

Die Grundlage der Untersuchung von Koenen et al. bildet die wiederholt empirisch bestätigte Annahme, dass eine Reihe naturwissenschaftlicher Sachverhalte nur mit Hilfe von Bildern dargestellt und vermittelt werden können; ihr Erlernen setzt daher ein adäquates Bildverständnis voraus. Dementsprechend müssten Lernende in den Naturwissenschaften Kenntnisse über Strukturen und die Nutzung von bildhaften Symbolsystemen, beispielsweise Tabellen, Diagrammen oder Zeichnungen, erwerben und Kompetenzen für den Umgang mit solchen Abbildungen, also „piktoriale Literalität“, aufbauen. Derartige Kompetenzen würden zwar zum Beispiel durch die Nationalen Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss vorausgesetzt, der Regelschulbetrieb würde deren Aufbau aber nicht systematisch fördern. An diesem vermuteten Defizit setzt die Untersuchung an, indem die Tragfähigkeit eines Trainings der piktorialen Literalität überprüft wird.

Koenen et al. knüpfen mit ihren Annahmen an den Forschungsstand zum Lernen mit Bildern an: Die doppelte Speicherung eines Sachverhalts in verbaler und bildhafter Form soll demnach zu einer besseren Behaltensleistung führen. Zugleich erlaubten Abbildungen die Darstellung von Ablaufvorgängen, Modellen und Prozessen auch im submikroskopischen Bereich und seien damit in den Naturwissenschaften von besonderer Bedeutung. Dementsprechend nähmen Abbildungen in naturwissenschaftlichen Lehrbüchern einen sehr großen Raum ein, wobei allerdings einige Forschende davon ausgingen, dass Schülerinnen oder Schüler bei deren Auswertung ohne spezielles Training überfordert sein könnten. Allerdings gebe es nach Koenen et al. bislang nur eine geringe Zahl von Erkenntnissen zu Möglichkeiten der Förderung von piktoraler Literalität, so dass hier ein weitgehendes Desiderat bestünde.

Ein weiterer Aspekt, den die Forschungsgruppe berücksichtigt, sind die in den Bildungsstandards formulierten Anforderungsbereiche (AFB) „Reproduktion“ (AFB I), „Reorganisation“ (AFB II) und „Transfer“ (AFB III), innerhalb derer die Komplexität kognitiver Prozesse in der Abfolge zunimmt.

Auf dieser Basis entwickeln Koenen et al. ihre Forschungsfrage, ob die Förderung piktorialer Literalität in Sequenzen entlang dieser Anforderungsbereiche erfolgreicher ist als ein unsystematisches Training auf der Grundlage eines nicht sequenzierten Einsatzes von Bildern.

Die piktoriale Literalität von Lernenden der Jahrgangsstufe 9 an Real- und Gesamtschulen wurde im Rahmen eines Prä-Post-Studiendesigns zu zwei Zeitpunkten getestet. In der Vorerhebung wurden als Kontrollvariablen zudem Daten zu kognitiven Fähigkeiten und Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schüler erhoben. Ein bis zwei Tage nach der Vorerhebung fand eine 270-minütige (= ein Schultag) Interventionsphase statt, in welcher die Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe das Training zur piktorialen Literalität erhielten. Die Kontrollgruppe arbeitete stattdessen in einem experimentellen Laborsetting, in dem Bilder unsystematisch und ohne besondere Erklärung genutzt wurden. Wiederum ein bis zwei Tage nach der Intervention wurde der Post-Test durchgeführt. 

Interventionsgruppe
Das Training für die Interventionsgruppe wurde für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 an Real- und Gesamtschulen entwickelt. Eingesetzt wurden eine für diese Reihe konzipierte PowerPoint-Präsentation und ein darauf abgestimmtes Arbeitsheft zur Bearbeitung von Aufgaben. Angesichts der großen Heterogenität der Lerngruppe hinsichtlich der Leistungsstärke wurden auch Abbildungsmerkmale und Eigenschaften thematisiert, welche üblicherweise als bekannt vorausgesetzt werden. Ebenso kam ein Leitfaden von Fragen zum Einsatz, der ein Erschließen der Abbildungen unterstützen sollte.

Die verwendeten Beispiele kamen sämtlich aus naturwissenschaftlichen Kontexten, die Inhalte wurden auf Basis der Nationalen Bildungsstandards (Fächer Biologie und Chemie) sowie einer Analyse von Schulbüchern und typischen naturwissenschaftlichen Aufgabenstellungen gewählt. Darüber hinaus wurde eine möglichst breite Auswahl von informativen Bildern aus den Naturwissenschaften angestrebt. 

Der Inhalt des Trainings erfolgte in einer doppelten Sequenzierung: Es gab vier thematische Blöcke, die ihrerseits bezüglich der Anforderungsbereiche der mit ihnen verbundenen Arbeitsaufträge sequenziert waren:

  1. allgemeine Grundlagen (Vorstellung des Zwecks von Abbildungen, Strategien zum Umgang mit Bildern, typischer Aufbau von Bildern, Leitfaden von Fragen zu Bildern); AFB I + II (90 Min.)
  2. Tabellen- und Achsendiagramme (typischer Aufbau und Codierung von Punkt, Linien-, Säulen-, Balkendiagrammen); AFB I + II (90 Min.)
  3. Querschnittzeichnungen; AFB I + II (45 Min.)
  4. Transfer der zuvor erarbeiteten Inhalte im Rahmen einer vertiefenden komplexen Übungsaufgabe; AFB III (45 Min.)

Kontrollgruppe:
Die Schülerinnen und Schüler der Kontrollgruppe absolvierten ein 270-minütiges Schülerlabor. Dabei erfolgte zunächst ein einführendes Seminar (60 Min.), anschließend ein praktischer Teil (180 Min.), dem sich eine 30-minütige Ergebnisbesprechung anschloss. Im praktischen Teil arbeiteten die Schülerinnen und Schüler anhand ausgeteilter Skripte selbstständig in Zweiergruppen im Labor. Sie bestimmten den Ascorbinsäuregehalt verschiedener Lebensmittel, die ermittelten Messwerte mussten eingeordnet, ausgewertet und verglichen werden. Die Aufgaben ließen sich nur dann sinnvoll bewältigen, wenn mit unterschiedlichen Formen von Bildern gearbeitet wurde. Die eingesetzten Bilder wiederum enthielten zentrale Elemente, die auch in der Veranstaltung der Interventionsgruppe thematisiert worden waren. Im Gegensatz zur Interventionsgruppe wurde die Nutzung der Bilder weder strukturiert noch erläutert. Koenen et al. gehen davon aus, dass eine Arbeitssituation im Schülerlabor dem AFB III entspricht.

Stichprobe
Die Daten stammen von Schülerinnen und Schülern der 9. Jahrgangsstufe von Gesamt- und Realschulen aus NRW. Sie waren für ein Projekt zur Förderung der piktorialen Literalität erhoben worden und wurden für die vorliegende Studie reanalysiert. Da die Leistungsheterogenität der ursprünglichen Gruppen im Hinblick auf die abhängige Variable einem kontrollierten Studiendesign entgegenstand, wurde ein Propensity-Score-Matching durchgeführt. Auf dieser Basis ergab sich eine Stichprobengröße von 93 Mitgliedern (Gruppe 1 mit n = 54, Gruppe 2 mit n = 39). Die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen in Bezug auf Geschlecht (56,3 % bzw. 55,3 % Schülerinnen) und Alter (15,36 bzw. 15,29 Jahre) waren gering.

Erhebungsinstrumente
Die Erfassung der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler im Bereich der piktorialen Literalität erfolgte mittels eines Papier-Bleistift-Tests mit acht Aufgaben und insgesamt 59 Items im geschlossenen Antwortformat. Jedes korrekt erarbeitete Item ergab einen Punkt. Die erfassten Items deckten Inhalte ab, die im Training zur piktorialen Literalität der Interventionsgruppe in variierende naturwissenschaftliche und alltagsrelevante Kontexte eingebettet waren. Zudem bezogen sie sich auf die unterschiedlichen Anforderungsbereiche: 7 Items bezogen sich auf den AFB I, 25 auf den AFB II und 27 auf den AFB III. Die Reliabilität bezeichnen Koenen et al. als zufriedenstellend bis sehr gut (allerdings liegt der Wert für Cronbachs α für den Prä-Messzeitpunkt AFB I lediglich bei .54).

Auswertung
Auf der deskriptiven Ebene wurde sowohl für den gesamten Test als auch für die Antworten bei den einzelnen Anforderungsbereichen der Quotient aus der Zahl der von den Schülerinnen und Schülern richtig beantworteten Items und der Zahl der maximal möglichen richtigen Antworten gebildet. Es ergeben sich Werte zwischen 0 und 1, die sowohl für die Interventionsgruppe als auch für die Kontrollgruppe für beide Messzeitpunkte tabellarisch dargestellt wurden.

Um Ergebnisse, welche deskriptiv gewonnen wurden, gegen den Zufall abzusichern, führten Koenen et al. Varianzanalysen mit Messwiederholung durch. Abschließend wurde auf der Basis der Ergebnisse zum Post-Messzeitpunkt mittels linearer Regressionsanalysen für Interventions- und Kontrollgruppe überprüft, inwiefern die Fähigkeit, die Items eines Anforderungsbereichs zu beantworten, die Fähigkeit bedingt, auch Items eines höheren Anforderungsbereichs zu beantworten.

Deskriptive Statistik 
Nach Koenen et al. ist bei Betrachtung des Prä-Messzeitpunkts kein Unterschied in der piktorialen Literalität zwischen Interventions- und Kontrollgruppe festzustellen (Mittelwert Gruppe 1: M = .51, Gruppe 2: M = .55). Die Werte steigen zum Post-Messzeitpunkt hin an (M = .69 bzw. M = .63), was für beide Gruppen auf Lernerfolge im Bereich der piktorialen Literalität hindeutet.

Univariate Varianzanalysen mit Messwiederholung
Die univariaten Varianzanalysen bestätigen den Lernerfolg im Bereich der piktorialen Literalität. Dabei belegen signifikante Interaktionseffekte sowohl für die Gesamtskala als auch bei einer Differenzierung nach Anforderungsbereichen für den AFB II (Reorganisation) und AFB III (Transfer), dass Schülerinnen und Schüler der Interventionsgruppe einen größeren Lernerfolg erzielen als die Jugendlichen der Kontrollgruppe. Allerdings sind die Effektstärken gering (η2 ≤ .08). Bei den Aufgaben zum AFB I (Reproduktion) gibt es keine Signifikanz beim Interaktionseffekt, Koenen et al. vermuten hier die begrenzende Wirkung eines Deckeneffekts: Die Fähigkeiten im AFB I könnten von Anfang an so groß gewesen sein, dass ein Wachstum kaum noch zu erzielen gewesen sei.

Lineare Regressionsanalysen
Bei der Interventionsgruppe lassen sich etwa 34 % der Varianz der Leistung im AFB II durch die Leistung im AFB I aufklären (Kontrollgruppe 7 %). Für den AFB III lassen sich 43 % der Varianz durch die Leistung im AFB II (Kontrollgruppe 45 %) und 31 % durch die Leistung im AFB I (Kontrollgruppe 22 %) aufklären.

Koenen et al. folgern aus ihren Ergebnissen, dass piktoriale Literalität im Rahmen eines Trainings gefördert werden könne. Dies gelinge vor allem dann, wenn Umgangsweisen mit Bildern explizit zu einem strukturierten Unterrichtsinhalt würden. Dabei sei durch eine Strukturierung der Inhalte entlang der Anforderungsbereiche auch eine graduelle Vertiefung der Fähigkeiten möglich. Das sei zumindest für die AFB II und III auch statistisch abzusichern. Die Wirkmächtigkeit des Trainings entfalte sich also offenbar vor allem im Hinblick auf kognitiv anspruchsvolle Operationen.

Der Aufbau piktorialer Literalität quasi „en passant“ im Rahmen der Bearbeitung einer naturwissenschaftlichen (experimentellen) Aufgabe sei gegenüber einem strukturierten Training weniger erfolgreich.

Koenen et al. sind eine Reihe von Restriktionen ihrer Studie bewusst: Die geringen bis mittleren Effektgrößen erlaubten nur eine vorsichtige Interpretation der Ergebnisse. Auch sei die Stichprobe (vor allem bei der Kontrollgruppe) klein und die hohe Leistungsbereitschaft und Motivation der teilnehmenden Klassen sei eher nicht repräsentativ für die Alterskohorte. Auch sei nicht überprüft worden, ob die beobachteten Effekte des Trainings auch langfristig wirksam seien. Zudem sei möglich, dass die Interventionsgruppe sich letztlich intensiver/länger mit den dargebotenen Abbildungen auseinandersetzte.

Es ist selbstverständlich geworden, dass Schulbücher und Arbeitsmaterialien in hohem Maße unterschiedliche Typen von Abbildungen aufweisen und dass diese auch im Unterricht genutzt werden. Zudem dürften heute die bevorzugten Mediengewohnheiten von Schülern und Schülerinnen stark auf der optisch-bildhaften Seite (gegenüber der optisch-textlichen oder der akustischen) liegen, eventuell stärker als im Falle früherer Generationen von Schülerinnen und Schülern. Vor diesem Hintergrund nach Möglichkeiten für die (Weiter-)Entwicklung der piktorialen Literalität zu fragen, erscheint geboten. Da in naturwissenschaftlichen Lehrwerken viele Inhalte in Form von Abbildungen präsentiert werden, ist es auch sinnvoll, den Erwerb der für den Umgang mit Bildern verbundenen Kenntnisse und Fähigkeiten in dieser Fachgruppe fördern zu wollen. Insofern hat die Untersuchung eine unterrichtspraktische Relevanz. Hierbei die Leistung nach unterschiedlichen Anforderungsbereichen zu differenzieren, erscheint ebenfalls geboten, zumal diese Anforderungsbereiche spätestens ab der Oberstufe festes Konstruktionsprinzip bei Verfahren der Leistungsmessung und -beurteilung sind. Angesichts der Vielfalt von Abbildungstypen, die in naturwissenschaftlichen Lehrwerken vorkommen, ist es auch sinnvoll, die Untersuchung anhand unterschiedlicher Abbildungstypen durchzuführen.

Nichtsdestotrotz bestehen auch Einwände gegen Teile der Arbeit. Bricht man die Fragestellung von Koenen et al. auf ihren Kern herunter, dann lautet sie: Erwerben Schülerinnen oder Schüler Fähigkeiten dann besser, wenn diese im Unterricht explizit thematisiert und eingeübt wurden, oder dann, wenn diese nicht direkt Unterrichtsthema waren? Die Antwort, dass die Fähigkeiten dann besser entwickelt werden, wenn man konkret darauf bezogene Übungen im Unterricht macht, sollte Schulpraktiker kaum überraschen, sie bewegt sich also am Rande des Trivialen. Dies gilt auch dann, wenn der statistisch abgesicherte Nachweis, dass eine explizierte Thematisierung und Erarbeitung piktorialer Kompetenzen die damit verbundenen Fähigkeiten der Schüler beziehungsweise Schülerinnen stärkt, zuvor noch nicht erbracht wurde und die daraus abgeleitete Forderung, die Auswertung von Abbildungen gezielt zu üben, sicherlich gerechtfertigt ist. Aber hierbei dürften Koenen et al. die Dringlichkeit ihrer Arbeit überbewerten. In Zeiten, in denen immer mehr Schulen Curricula auch für die Erarbeitung von Methoden entwerfen und darin festlegen, in welchem Fach und welchem Schuljahr welche Auswertungsverfahren – auch von Abbildungstypen – im Unterricht erarbeitet werden sollen, erscheint eine Aussage wie: „eine systematische Förderung der piktorialen Literalität erfolgt im Regelschulbetrieb jedoch bislang nicht“ (S. 92) zumindest überzogen.

Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass in der Studie die Methode ohne einen offensichtlichen zusammenhängenden Kontext trainiert wurde, was zumindest kritisch hinterfragt werden sollte. Denkbar wäre vielleicht auch gewesen, einen Kontext zu finden, in dem die Methoden einmal als systematisches Training und einmal ohne weitere Erklärungen in den Unterricht einbezogen und in diesem Design dann letztendlich die Wirksamkeit des Methodentrainings ermittelt wird.

Die Abbildungstypen, die für das Training herangezogen wurden, umfassen auch Tabellen. Hierbei wäre zu fragen, inwiefern Tabellen überhaupt als „Bilder“ wahrgenommen werden oder ob diese nicht einen eigenen Darstellungstyp bilden, bei dessen Auswertung Lese-, piktoriale und gegebenenfalls auch mathematische Kompetenzen in unterschiedlichen Kombinationen verknüpft werden müssen. Ein alleiniges Training der piktorialen Literalität dürfte demnach nur einem Teil der komplexen, benötigten Fähigkeiten Rechnung tragen.

Generell wäre in zukünftigen Untersuchungen konkreterer Bezug zur Alltagspraxis der Schulen zu suchen. Hierbei sollte ermittelt werden, welche Verfahren zur Ausbildung der piktorialen Literalität in Bezug auf welchen Abbildungstyp und welche Lerngruppe (Alter?, kognitive Befähigung?, Schultyp?, bisherige Erfahrung mit der Auswertung von Abbildungen?) besonders erfolgversprechend sind und wie diese Verfahren etwa im zeitlichen Längsschnitt sinnvoll aufeinander abzustimmen wären. Dies könnte die Schulen bei der Ausarbeitung ihrer Methodencurricula wesentlich unterstützen.

Rezension speichern und teilen
Unterstützung für die Praxis

nrw-wappenAus der Reihe "Beiträge zur Schulentwicklung"

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Heinz Sander, Lehrer am Gymnasium der Stadt Kerpen – Europaschule und Privatdozent an der Universität zu Köln

Sie haben Fragen oder Anregungen?

Schreiben Sie uns!