Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Ivanov, S., Nikolova, R. & Vieluf, U. (2016). G8 vs. G9 im Kohortenvergleich. Lernkontexte und Lernstände zweier Hamburger Abiturjahrgänge. In J. Kramer, M. Neumann & U. Trautwein (Hrsg.), Abitur und Matura im Wandel. Historische Entwicklungslinien, aktuelle Reformen und ihre Effekte (Edition ZfE, Band 2, S. 81–106). Wiesbaden: Springer VS.FIS BildungIn der Debatte um die Dauer der Schulzeit wird u.a. angenommen, dass sich die verkürzte Schulzeit negativ auf den Kompetenzerwerb und die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirken könne. Die Autoren und Autorin des rezensierten Beitrags untersuchen diesen Diskursaspekt, indem sie Daten aus den beiden Hamburger Schulleistungsstudien LAU und KESS auswerten. Sie analysieren, inwieweit generelle sowie differenzielle Lernstandeffekte der G8-Reform in ausgewählten Kompetenzbereichen am Ende der gymnasialen Oberstufe unter Berücksichtigung der Lernausgangslagen und ausgewählter leistungsrelevanter soziodemografischer und -kultureller Hintergrundmerkmale feststellbar sind. Dabei zeigen sich unter Kontrolle der leistungsrelevanten Hintergrundmerkmale (mehrheitlich) Unterschiede zugunsten des G8-Jahrgangs. Die Studie liefert wichtige Erkenntnisse zu diesem bislang unzureichend untersuchten Aspekt im Kontext der G8/G9-Debatte. Aufgrund der Studienanlage sind die Befunde repräsentativ für Hamburg, jedoch nicht für andere Bundesländer generalisierbar.
Fast alle Bundesländer haben im letzten Jahrzehnt die Länge der Schulzeit bis zum Abitur von 13 auf 12 Jahre reduziert. Die durch die zeitliche Verdichtung bedingten Reformmaßnahmen wurden und werden von kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit begleitet. Unter anderem wird die Befürchtung geäußert, die verkürzte Schulzeit könne sich negativ auf den Kompetenzerwerb und die Kompetenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler auswirken. Befunde zur Versachlichung der Debatte liegen bislang kaum vor. Der Beitrag von Ivanov et al. (2016) greift dieses Desiderat auf und geht der Frage nach, inwiefern sich generelle und differenzielle Auswirkungen der G8-Reform auf die Leistungsentwicklung von Abiturienten und Abiturientinnen am Ende der gymnasialen Oberstufe in Hamburg beobachten lassen.
Im zweiten Kapitel beschreiben die Autoren und Autorin die Umsetzung der G8-Reform in Hamburg und deren Hintergründe. Demnach wurde die Schulzeitverkürzung im Wesentlichen mit der dadurch möglichen Senkung des im internationalen Vergleich eher überdurchschnittlichen Alters der deutschen Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Aufnahme eines Studiums oder einer Ausbildung und einer beruflichen Tätigkeit legitimiert. Sie führen weiterhin aus, dass mit der Reform eine Umverteilung der 265 Jahreswochenstunden (JWS) in der Sekundarstufe I und II einherging: In der Sek. I erfolgte eine Erhöhung um 19 auf 197 JWS und in der Sek. II wurden die JWS um 19 auf 68 Stunden reduziert. Damit verschränkt waren Veränderungen in der (Mindest-)Wochenstundenzahl einzelner Fächer und Kursniveaus: In den Fächern Deutsch, Mathematik und erste Fremdsprache kam es zu einer Verringerung um eine JWS, in den Naturwissenschaften erfolgte eine Erhöhung um eine JWS. Die fünfstündigen Leistungskurse wurden durch vierstündige Kurse auf erhöhtem Anforderungsniveau und die dreistündigen Grundkurse durch vierstündige Kurse auf grundlegendem Anforderungsniveau ersetzt. Diese Veränderungen erfolgten parallel zu Maßnahmen der Qualitätsentwicklung im Schulsystem (u.a. Implementierung neuer Bildungspläne, Durchführung von Lernstandserhebungen, Einführung zentraler Abschlussprüfungen, Einführung der Profiloberstufe).
Im dritten Kapitel argumentieren die Autoren und Autorin einleitend, dass bei der Analyse etwaiger Reformwirkungen auch die jeweiligen landesspezifischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen seien, da die Implementierung des achtjährigen Bildungsgangs in den Bundesländern unter unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Ausgestaltungsweisen erfolgt(e). Anschließend gehen sie auf den Forschungsstand zu den Wirkungen der gymnasialen Schulzeitverkürzung ein und stellen fest, dass bislang nur wenige empirisch fundierte Erkenntnisse zu Wissensbeständen bzw. Kompetenzniveaus sowie zu gesundheitlichen und motivationalen Befindlichkeiten im Vergleich von G8- und G9-Schülerinnen und Schüler vorliegen und sich darüber hinaus derzeit keine eindeutigen Hinweise auf negative Reformwirkungen für die einzelnen Zieldimensionen abzeichnen.
Hieraus leiten Ivanov et al. (2016) ihre Fragestellungen ab, die in Kapitel 4 begründet dargelegt werden. Sie analysieren vergleichend die Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler des acht- und neunjährigen gymnasialen Bildungsgangs zu Beginn der Mittelstufe (Jahrgangsstufe 7) und die von ihnen am Ende der gymnasialen Oberstufe erreichten Lernstände in verschiedenen Kompetenzdomänen unter Berücksichtigung verschiedener Hintergrundmerkmale. Konkret untersuchen sie:
(a) ob sich die Lernstände am Ende der gymnasialen Oberstufe in den Kompetenzdomänen Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften zwischen dem G8- und G9-Jahrgang unterscheiden,
(b) inwieweit möglicherweise vorliegende Unterschiede in den Lernständen auf die G8-Reform zurückzuführen sind,
(c) ob sich eine Reformwirkung bereits zu Beginn der gymnasialen Oberstufe beobachten lässt und
(d) inwiefern die Befunde zum Zusammenhang zwischen der Schulzeitverkürzung und den Lernständen am Ende der gymnasialen Oberstufe für Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernausgangslagen gleichermaßen zutreffen.
Zur Beantwortung der o.g. Fragestellungen rekurrieren die Autoren und Autorin auf Daten zweier Studien. Durch die Datensätze der Längsschnittstudie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ (KESS; im Folgenden G8-Jahrgang genannt) liegen Informationen zu den Lernständen und Hintergrundmerkmalen des zweiten Hamburger G8-Jahrgangs an grundständigen Gymnasien vor. Entsprechende Informationen zum G9-Jahrgang derselben Schulform sind durch die Datensätze der Längsschnittstudie „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung“ (LAU; im Folgenden G9-Jahrgang genannt) verfügbar. Aufgrund der Verwendung derselben Schulleistungstests können die Ergebnisse aus beiden Studien, an denen jeweils der komplette Schülerjahrgang teilnahm, zu fünf Erhebungszeitpunkten miteinander verglichen werden.
Für die Beantwortung der Fragestellungen wurden nur Testergebnisse von denjenigen Schülerinnen und Schüler berücksichtigt, von denen zu Beginn der Jahrgangstufe 7 und am Ende der gymnasialen Oberstufe (Jahrgangstufe 13 oder 12) mindestens aus einem der eingesetzten Kompetenztests Daten vorlagen. Dies traf auf 2974 Abiturienten und Abiturientinnen der KESS-Studie (ca. 63% des G8-Jahrgangs) und 2518 Abiturienten und Abiturientinnen der LAU-Studie (ca. 71% des G9-Jahrgangs) zu. Die Autoren und Autorin diskutieren in diesem Zusammenhang die unterschiedlichen Teilnahmequoten und argumentieren mit Verweis auf ähnliche Abiturdurchschnittsnoten, dass diese nicht zu einer Verzerrung der Datenbasis geführt haben. Fehlende Werte wurden mit dem Verfahren der Multiplen Imputation berechnet und für die Analysen ergänzt.
Die Autoren und Autorin benutzen für die Beantwortung ihrer Forschungsfragen die Berechnung von Mittelwertunterschieden und Effektstärken sowie Regressionsanalysen. Dabei nutzen sie als abhängige Variablen die Rasch-skalierten Testergebnisse aus den Kompetenzbereichen Mathematik, naturwissenschaftliche Grundbildung und Englisch (weiterführend Ivanov et al., 2016, S. 93f.), die auf die aus den PISA-Studien bekannte Skalenmetrik mit dem Mittelwert M=500 und der Standardabweichung SD=100 linear transformiert wurden. Zudem wurden die Skalen Deutsch-Leseverständnis, Englisch-Allgemeines Sprachverständnis und Mathematische Grundbildung zu einem latenten Faktor Allgemeiner Fachleistungsindex zu Beginn der Jahrgangsstufe 7 (AFI 7) zusammengefasst, um dadurch die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu Beginn der Mittelstufe abzubilden. Als Hintergrundmerkmale bzw. weitere unabhängige Variablen wurden zudem das Geschlecht, die Familiensprache, der höchste Schulabschluss der Eltern, der Buchbestand im Elternhaus und die Kohortenzugehörigkeitsvariable LAU/KESS für die Lernstände am Ende der gymnasialen Oberstufe berücksichtigt.
Im Kontext der ersten Forschungsfrage zeigen sich innerhalb des Kompetenzbereichs Englisch bedeutsame Unterschiede im Test Englisch-Allgemeines Sprachverständnis, Listening Comprehension zugunsten des G8-Jahrgangs (d>.0.20). Dies trifft auch auf die Ergebnisse des TOEFL-Gesamttests, des TOEFL-Unterstests Vocabulary & Reading Comprehension und des Tests Voruniversitäre Mathematik zu (d zw. 0.05 und 0.20). Im TOEFL-Untertest Structure & Written Expression und im Test Naturwissenschaftliche Grundbildung zeigen sich keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den beiden Jahrgängen. Lediglich im Test Mathematische Grundbildung kann ein Leistungsvorsprung für den G9-Jahrgang beobachtet werden (d=0.14).
Unter Kontrolle der erhobenen Hintergrundmerkmale und individuellen leistungsbezogenen Lernvoraussetzungen sind die festgestellten Unterschiede weiterhin stabil, sodass die Autoren und Autorin vor dem Hintergrund der zweiten Forschungsfrage von einem Zusammenhang zwischen der Schulzeitverkürzung und den Lernständen am Ende der gymnasialen Oberstufe (überwiegend) zugunsten des G8-Jahrgangs ausgehen, der sich angesichts der dritten Forschungsfrage bereits zu Beginn der gymnasialen Oberstufe zeigt und nach Ivanov et al. (2016) ein Hinweis darauf ist, dass die Ergebnisse tatsächlich auf die Schulzeitverkürzung und nicht auf andere relevante Oberstufenreformen zurückzuführen sind.
Mit Blick auf die vierte Forschungsfrage wird deutlich, dass die beobachteten Unterschiede sich in Abhängigkeit der jeweiligen Lernausgangslage unterscheiden. Demnach sind die Differenzen insbesondere durch die Ergebnisse der Schülerinnen und Schüler der unteren Leistungsgruppe bedingt.
Zum Hintergrund: Die Studie greift ein für die Schule und Administration relevantes Forschungsdesiderat auf. Es wird untersucht, inwieweit generelle sowie differenzielle Lernstandeffekte der G8-Reform in ausgewählten Kompetenzbereichen am Ende der gymnasialen Oberstufe unter Berücksichtigung der Lernausgangslagen und ausgewählter leistungsrelevanter soziodemografischer und -kultureller Hintergrundmerkmale feststellbar sind.
Die Autoren und Autorin diskutieren die Relevanz ihrer Fragestellungen vor dem Hintergrund der in diesem Kontext bislang inkonsistenten und geringfügigen empirischen Evidenz. Hierzu referieren sie zunächst wichtige Hintergrundinformationen zur Umsetzung der G8-Reform in Hamburg, bevor sie einen guten Überblick über den ihrem Kontext relevanten Forschungsstand zu den Wirkungen der Reform geben. Die Argumentationsweise sowie die Diskursbezüge sind stringent und überzeugend. Für die Untersuchung wird jedoch kein theoretisches Rahmenmodell zugrunde gelegt.
Zum Design: Die Instrumente werden benannt und weiterführende Informationen für die interessierte Leserschaft durch Verweis auf eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Testinstrumente in anderen Veröffentlichungen gegeben. Der Erhebungsplan wird nachvollziehbar dargestellt. Die Datenaufbereitung wird detailliert und angemessen berichtet. Die methodische Vorgehensweise erscheint sachgerecht angelegt und wird im Hinblick auf die angestrebte Identifizierung eines genuinen Reformeffekts nachvollziehbar begründet.
Zu den Ergebnissen: Die Zielstellungen der Untersuchung werden erreicht und die vorgenommenen Schlussfolgerungen erscheinen plausibel. So kommen die Autoren und Autorin zu dem Schluss, dass die G8-Reform in Hamburg nicht zu einer generellen Absenkung des Leistungsniveaus in den berücksichtigten Kompetenzdomänen geführt habe. Vielmehr bilden sich domänenspezifische und differenzielle Reformwirkungen ab. Diese diskutieren Ivanov et al. (2016) vor dem Hintergrund des Forschungsstands und möglicher Ursachen im Hamburger Schulsystem, wie z.B. die Einführung des Englischunterrichts in der Grundschule, kompetenzorientierter Rahmenpläne, der Ausweitung des bilingualen Englischunterrichts und entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte. Angesichts der ungünstigeren Leistungen im Test Mathematische Grundbildung gehen die Autoren und Autorin davon aus, dass sich diese auf die Kürzung der Unterrichtszeit in den Jahrgangsstufen 11 und 12 zurückführen lässt. Das erscheint zumindest plausibel. Vor diesem Hintergrund werden eine Erhöhung der Unterrichtszeit in den Jahrgangstufen 9 und 10 und zusätzliche Förderzeiten empfohlen. Ein Verweis auf die Qualität der zusätzlichen Unterrichtszeit und weiterer Förderzeiten bleibt aus, obwohl Ivanov et al. (2016) abschließend ausführen, dass für den Kompetenzerwerb weniger die Schulzeitdauer als vielmehr der Umfang und die Qualität des Fachunterrichts entscheidend seien, sodass diese in Folgestudien zukünftig vermehrt in den Blick genommen werden sollten. Aufgrund der Studienanlage sind die Befunde nicht generalisierbar, was von den Autoren und Autorin auch entsprechend dargelegt wird. Sie betonen jedoch, dass ihre Ergebnisse eine allgemeine und pauschalisierende Schulzeitdebatte nicht rechtfertigen würden. Dies geschieht auf der Grundlage von Daten, die auf Vollerhebungen zweier Jahrgänge in Hamburg beruhen und trotz fehlender Repräsentativität in ihrer Befundlage sicherlich auch hilfreich für die Einschätzung der Situation in anderen Bundesländern sein dürfte.
Kultusministerium BW
Schulentwicklung NRW
Sie haben Fragen oder Anregungen?