Fragestellungen der Studie:

  • Welche Einstellungen haben Schülerinnen und Schüler zu Demokratie und Partizipation?
  • Haben Faktoren wie innerfamiliäre oder schulische Demokratie sowie Geschlecht und Schulform signifikanten Einfluss auf die Einstellungen von Schülerinnen und Schülern?

Rezension zur Studie

Herzberg, C., Franzmann, E. & Berkemeyer, N. (2021). Sag, wie hältst du es mit der Demokratie? Schülerinnen und Schüler geben Antworten - eine Ergänzungsstudie. In E. Franzmann, N. Berkemeyer & M. May (Hrsg.), Wie viel Verfassung braucht der Lehrberuf? (S. 14–31). Weinheim u. a.: Beltz.

Von dem Willen und der Befähigung der heutigen Schülerinnen und Schüler hängt es ab, ob und in welcher Form sich die demokratische Gesellschaft weiterentwickelt. Herzberg et al. gehen davon aus, dass Schulen hierbei durch Ausbildung des demokratischen Bewusstseins eine bedeutende Voraussetzung schaffen – auch jenseits des Sozialkundeunterrichts. Vor diesem Hintergrund befragten Herzberg et al. 1062 Schülerinnen und Schüler der Klassen 9 – 11 in Mittelthüringen zu ihren Einstellungen zu ihren Mitmenschen, nach der politischen Selbsteinschätzung und zur Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement. Darüber hinaus überprüften sie, welchen Effekt Merkmale wie Geschlecht, Schulform und demokratiebezogene familiäre und schulische Faktoren auf die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zur Demokratie und zur Partizipation haben. Die Auswertung der Daten erfolgte zum einen deskriptiv durch die Berechnung der Mittelwerte der Zustimmung zu 90 Items aus 13 Skalen, zum anderen durch die Rechnung von Regressionsmodellen, mit denen Beziehungen zwischen einer abhängigen und einer oder mehreren unabhängigen Variablen untersucht werden.

Die deskriptive Auswertung zeigt, dass die befragten Schülerinnen und Schüler das Familienleben demokratisch erleben, ihren Mitschülerinnen und Mitschülern eine hohe Wertschätzung entgegenbringen und eine positive Einstellung zu Ausländern haben. Für Politik interessieren sich mehr als ein Viertel der befragten Jugendlichen stark oder sehr stark. Hinsichtlich der Skalen „Einstellungen gegenüber Mitmenschen“ und „Politikinteresse, politische Einstellung und politisches Engagement“ können Herzberg et al. Differenzen zwischen den Schulformen und signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen nachweisen.

Die Regressionsanalysen zur politischen Einstellung und Partizipation zeigen, dass politische Orientierung, Mitbestimmungsmöglichkeit im Unterricht und politische Offenheit einen Einfluss auf Autoritarismus und rechtsextreme Tendenzen bei Schülerinnen und Schülern haben. So führen zum Beispiel Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht zu einer höheren Wertschätzung anderer Schülerinnen und Schüler.

Die Ergebnisse der Studie decken sich mit bisherigen Befunden anderer Untersuchungen, was auf eine gewisse Validität hinweist. Anhand der Befunde können mögliche Handlungsbedarfe für einzelne Schulen abgeleitet werden, wohl vor allem dann, wenn man sie auf die Ergebnisse zu den einzelnen Aussagen herunterbricht. Die Studie ist nicht repräsentativ für ganz Deutschland, was aber auch nicht der Anspruch der Untersuchung ist. Das Design der Analyse zeigt einige Schwächen, da – wie Herzberg et al. feststellen – Aussagen unter anderem normativ formuliert wurden („Ich finde es gut, wenn …“). Zudem sind Skalen (z. B. „Akzeptanz anderer“) teilweise insgesamt zu eng oder zu breit gefasst worden, was zu Interpretationsspielräumen führt.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • In welchem Umfang kann mein Fachbereich zur Demokratieerziehung beitragen? Lassen sich dabei Synergieeffekte durch die Zusammenarbeit mit anderen Fächern erzielen?
  • Beobachte ich in meinem Unterricht / an meiner Schule demokratie-/menschenfeindliche Einstellungen bei Schülern oder Schülerinnen? Wie reagiere ich darauf? Welche Herangehensweisen erweisen sich als besonders erfolgreich? Stehe ich darüber im Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen?
  • Welche Rolle spielen in meinem Unterricht die Akzeptanz von Schülermeinungen und die Mitbestimmungsmöglichkeiten? Wo ist es sinnvoll, dabei Grenzen zu setzen?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Welchen Umfang und welchen Inhalt hat die Demokratieerziehung an meiner Schule? Ist diese so strukturiert, dass sie den spezifischen Gegebenheiten an meiner Schule gerecht wird? Gibt es derzeit spezifische Probleme mit Schülerinnen und Schülern mit demokratiefeindlichen Einstellungen?
  • Gibt es die Möglichkeit, bei sich zeigenden Problemlagen mit einem breiten Maßnahmenbündel und Unterstützung durch weitere Institutionen zu reagieren? Welche Maßnahmen und welche Institutionen können dabei unterstützen?

Herzberg et al. messen mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft Schülerinnen und Schülern eine besondere Bedeutung bei, da sie als nächste Generation von Bürgerinnen und Bürgern gefordert sind, das demokratische Gemeinwesen mitzugestalten. Da jedoch jede Generation in anderen Kontexten sozialisiert wird, stellt das Autorenteam sich die Frage, ob die Heranwachsenden willens und fähig sind, sich aktiv in die Gestaltung der Gesellschaft einzubringen.

Der Schule weisen Herzberg et al. eine besondere Rolle zu, wenn es darum geht, demokratisches Bewusstsein zu vermitteln und undemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken — und zwar auch als Querschnittsaufgabe von Schule jenseits der politischen Bildung im Sozialkundeunterricht (auch wenn dieses Thema in der Lehramtsausbildung häufig noch eine Leerstelle bilde).

Vor diesem Hintergrund hält es das Autorenteam für geboten, jenseits der Erfassung von Einstellungen zur Demokratie und zur Partizipation auch die individuellen und systemischen Herausforderungen der Schulen und ihrer Akteure in den Blick zu nehmen.

Datengrundlage der Untersuchung von Herzberg et al. bildet die Erhebung „Mein Leben, Meine Werte, Meine Meinung“, die Rahmen des ViDem-Projekts (Vielfalt zusammen leben – miteinander Demokratie lernen) durchgeführt wurde. Die Studie, die Demokratiekompetenzen von Kindern und Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft und aus Flüchtlingsfamilien in Mittel- und Ostthüringen analysierte, zeigte signifikante Schulformunterschiede hinsichtlich der Aussagen zu Werteorientierungen, Zustimmung zu autoritären und rechtsextremen Aussagen und ergab, dass schulische und familiäre Bedingungen Effekte auf Einstellungen der Jugendlichen zu Demokratie und Partizipation haben.

Auf dieser Grundlage zielt das Autorenteam darauf ab, die Stichprobenrepräsentativität ihrer Studie für Mittelthüringen zu erweitern und so auf der Basis spezifischerer Aussagen mögliche Handlungsbedarfe für einzelne Schulen ableiten zu können: Es handelt sich bei der Studie um eine Untersuchung von regionalem Charakter, wodurch sich Herzberg et al. eine hohe Relevanz für die Entwicklung praxisrelevanter und -tauglicher schulischer Angebote versprechen. So könnten sich Impulse für die schulische Entwicklung ergeben, die zum Beispiel das bisherige Gefälle zwischen dem politischen Bildungsangebot der Gymnasien und den anderen Schulformen betreffen.

Neben die Betrachtung der Einstellungen der Schülerinnen und Schüler treten schulische Faktoren. Leitende Fragestellungen der Untersuchung sind:

  • Wie bewerten die Schülerinnen und Schüler aus Mittelthüringen demokratiebezogene familiäre und schulische Faktoren?
  • Welche Einstellungen haben Schülerinnen und Schüler gegenüber ihren Mitmenschen?
  • Wie schätzen die Schüler und Schülerinnen ihr Interesse für Politik, ihre politischen Einstellungen sowie die Einstellungen zum gesellschaftlichen Engagement ein?
  • Zeigen sich Schulformunterschiede bezüglich der Einschätzungen?
  • Welchen Einfluss haben soziodemografische und schulische Faktoren auf die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler?

Koordiniert durch das Schulamt Mittelthüringen fand von April bis Mai 2019 die Datenerhebung statt: Die Jugendlichen füllten im Rahmen einer Unterrichtsstunde den Fragebogen „Mein Leben, Meine Werte, Meine Meinung“ aus.

Stichprobe

1062 Schülerinnen und Schüler der Klassen 9 – 11 von 19 Schulen nahmen an der Studie teil. 54 % der Befragten waren weiblich, das Durchschnittsalter betrug 15,7 Jahre (bei SD von 0.95). Die Schülerinnen und Schüler kamen von unterschiedlichen Schulformen, wobei für die jeweiligen Schulformen keine konkreten Zahlen angegeben werden.

Erhebungsinstrumente

Das Autorenteam übernahm den im ViDem-Projekt eingesetzten Fragebogen: Dieser enthielt Aussagen (z. B. „Alle Schülerinnen und Schüler sind gleich viel wert, egal welche Religion jemand hat“), die anhand einer fünfstufigen Zustimmungsskala zu bewerten waren. Dabei kennzeichnete der Wert „1“ die maximale Ablehnung, der Wert „5“ die maximale Zustimmung. Auf diese Weise wurden 13 Skalen mit Hilfe von 90 Items abgefragt.

Der familiäre Zusammenhang wurde erhoben, indem Aspekte zu „Familiendemokratie“ und „Elterlicher Unterstützung“ bewertet wurden (wobei die geringe interne Konsistenz der Werte beim Aspekt Elterliche Unterstützung das Autorenteam veranlasst hat, deren weitere Einbeziehung in die Auswertung auszuschließen). Schulische Gegebenheiten wurden abgefragt anhand der Skalen „Mitbestimmungsmöglichkeiten im Unterricht“ und „Politische Offenheit im Unterricht / Akzeptanz von Schülermeinungen“.

Die Einstellungen gegenüber den Mitmenschen wurden durch vier Skalen erfasst:

  • die Einstellungen gegenüber den Personen des nahen, alltäglichen Umfelds (Mitschülerinnen/Mitschüler),
  • die Existenz gruppenbezogener Vorurteile (etwa gegenüber HartzIV-Empfängern, Rollstuhlfahrern, muslimischen Familien, Rentnern …) und
  • generelle Forderungen im Hinblick auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland anhand von Assimilationsanforderungen an die Mitbürgerinnen und Mitbürger sowie
  • die Einstellungen zu Ausländern.

Bei den Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zum politischen Engagement und zur Partizipation wurden die Bereitschaft zum Engagement und dessen intrinsische und extrinsische Voraussetzungen abgefragt. Die „Allgemeine Einstellung zum politischen Engagement“ sollte ursprünglich ebenfalls in die weiteren Untersuchungen einbezogen werden; die abgefragten Aspekte wiesen jedoch zu geringe Werte bei der internen Konsistenz auf, um berücksichtigt werden zu können.

Bei den politischen Einstellungen galt das Interesse vor allem Fragen der Akzeptanz von Autoritarismus und rechtsextremen Tendenzen.

Auswertung

Um Einstellungen der Schülerinnen und Schüler und Schulformunterschiede zu analysieren, haben Herzberg et al. zunächst Skalenmittelwerte für die einzelnen Schulformen gebildet und miteinander verglichen. Bei der fünfstufigen Likertskala liegt die Mitte zwischen Ablehnung und Zustimmung bei 2.5, höhere Werte entsprechen einer stärkeren Zustimmung, niedrigere einer stärkeren Ablehnung, die Standardabweichung wird jeweils angegeben.

Anhand der Daten wurden mit dem syntaxbasierten Statistikprogramm Mplus 7.1 Regressionsmodelle gerechnet.

Deskriptive Methoden

Familiäre und schulische Bedingungen

Die innerhalb der Familie und der Schule erlebte Demokratie wird von den Schülerinnen und Schülern positiv eingeschätzt (die Situation in der Familie mit 3.77 (SD = 0.69), die Akzeptanz von Schülermeinungen mit 3.4 (SD = 0.82) und die Mitbestimmungsmöglichkeit im Unterricht mit 3.33 (SD = 0.63). In Bezug auf das Erleben von Demokratie in der Familie und die Akzeptanz von Schülermeinungen traten statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Schulformen auf.

Einstellungen zu den Mitmenschen

Diesbezüglich ist eine klare Abfolge zu erkennen: Während mit 4.39 (SD = 0.9) eine hohe Wertschätzung gegenüber den Mitschülerinnen und Mitschülern und mit 3.58 (SD = 1.0) auch eine deutlich positive Einstellung gegenüber Ausländern besteht, ist die Akzeptanz anderer Personengruppen etwas geringer (3.12 bei SD 0.7) und die Zustimmung zu den Assimilationsanforderungen ist nur schwach positiv (2.6 bei SD 0.87). In allen Fällen waren die Mittelwertunterschiede zwischen den Schulformen signifikant. So war bei den Gymnasiasten / Gymnasiastinnen der Zustimmungswert in der Regel höher als bei den Schülern / Schülerinnen von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen, lediglich bei den Assimilationsanforderungen verhielt es sich umgekehrt. Auffällig ist auch eine Differenzierung nach dem Geschlecht der Befragten: Bei den Schülerinnen gibt es auffällig hohe Zustimmungswerte bei der Wertschätzung von anderen Schülerinnen und Schülern, von Ausländern und der grundsätzlichen Akzeptanz anderer, demgegenüber stimmten Schüler etwas häufiger als Schülerinnen Assimilationsanforderungen an Menschen zu.

Politikinteresse, politische Einstellung, politisches Engagement

27 % der Schülerinnen und Schüler geben an, ein starkes bis sehr starkes Interesse an Politik zu haben, wobei Unterschiede nach den Schulformen erkennbar sind: An Gymnasien ist das Interesse im Durchschnitt stärker ausgeprägt als an Gesamt-/Gemeinschaftsschulen. 18 % der Befragten schätzten sich als eher rechts oder rechts ein, auf den Gymnasien weniger als auf Gesamt-/Gemeinschaftsschulen. Das gilt ähnlich für die Skalen Autoritarismus/rechtsextreme Tendenzen: Bei einem Mittelwert von 2.41 (SD = 0.74) gab es eine noch geringere Befürwortung bei den Gymnasien. Auffällig ist der Unterschied bei den Geschlechtern: Schülerinnen stimmen lediglich mit einem Wert von 2.27 den Aussagen zu Autoritarismus und Rechtsextremismus zu, bei Schülern wurde eine höhere Zustimmung (2.57 bei SD = 0.79) festgestellt. 325 Schülerinnen und Schüler nahmen keine Einschätzung ihrer politischen Einstellung vor, davon glaubten 53 %, keine sachgerechte Einordnung vornehmen zu können, 13 % konnten mit den Begriffen rechts und links nichts anfangen, 35 % wollten nicht antworten.

Es zeigte sich eine geringe Bereitschaft zum gesellschaftlichen Engagement (2.31 bei SD 0.69), als Motive für das Engagement wurden intrinsische Motive höher (3.71, SD = 0,82) bewertet als extrinsische (2.41, SD = 0.79). Dabei stimmten Gymnasialschülerinnen und -schüler den Aussagen zur Bereitschaft zum Engagement und zur intrinsischen Motivation stärker zu als die Befragten von Gesamt- und Gemeinschaftsschulen; Schülerinnen zeigten zudem eine größere Bereitschaft zum Engagement und eine ausgeprägtere Zustimmung zur intrinsischen Motivation als ihre Mitschüler.

Befunde der Regressionsanalysen

Mit den Regressionsanalysen wollte das Autorenteam zeigen, welchen Effekt Merkmale wie Geschlecht, Schulform etc. auf die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zur Demokratie und zur Partizipation haben.

Herzberg et al. stellen einen signifikanten Effekt des Geschlechts auf den Skalen „Wertschätzung anderer Schüler“ und „Akzeptanz anderer“ fest. Ebenso ist ein Schulformeffekt erkennbar: Es besteht – im Vergleich zu den Regelschulen – eine positivere Einstellung bei den Gymnasien beziehungsweise den Gesamt- und Gemeinschaftsschulen gegenüber Ausländern und größere Akzeptanz anderer. Ein positiver Effekt besteht auch für die Gymnasien hinsichtlich der Wertschätzung anderer Schüler beziehungsweise Schülerinnen. Rechtsextreme Tendenzen führen zu einem negativen Einfluss bei allen Einstellungen gegenüber Mitmenschen.

Der schulische Faktor „Politische Offenheit / Akzeptanz von Schülermeinungen“ verbindet sich dagegen mit positiven Einstellungen gegenüber Mitmenschen, der Faktor „Mitbestimmungsmöglichkeit im Unterricht“ zeigt schwache positive Korrelationen mit der Wertschätzung anderer Schülerinnen und Schüler und der Einstellung zu Ausländern.

Die Regressionsanalysen zur politischen Einstellung und Partizipation zeigen, dass politische Orientierung, Mitbestimmungsmöglichkeit im Unterricht und politische Offenheit einen Einfluss auf Autoritarismus und rechtsextreme Tendenzen bei Schülerinnen und Schülern haben. Im Einzelnen veranschaulichen die Befunde, dass Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums signifikant häufiger Bereitschaft zum Engagement zeigen als Schülerinnen und Schüler der Gesamt-/Gemeinschaftsschule. Schülerinnen haben häufiger intrinsische, politische Motive für Engagement als Schüler.

Herzberg et al. stellen fest, dass sich die Ergebnisse ihrer Studie weitgehend mit den Befunden anderer Untersuchungen decken. Als Limitationen benennen sie, dass durch die Konstruktion der Untersuchung bereits häufig Wertvorstellungen in diese einfließen würden: So wurden die Schülerinnen und Schüler etwa gefragt, ob sie es „gut“ fänden, wenn Vertreter bestimmter gesellschaftlicher Gruppen (Rentnerinnen und Rentner, Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer) in ihre Nachbarschaft ziehen würden – eine bloß neutrale oder auch gleichgültige Akzeptanz wurde somit nicht erfasst. Zudem sehen Herzberg et al. die Gefahr einer Stereotypisierung, welche komplexen Einstellung zu Demokratie und Werten nur unvollkommen gerecht werden kann.

Die Ergebnisse der Studie wurden abschließend für die einzelnen Schulen vergleichend aufbereitet, diesen zurückgemeldet und gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Schule interpretiert und im Hinblick auf bestehende Probleme diskutiert, so dass sich im weiteren Projektverlauf Perspektiven für Unterstützungsangebote ergeben können. Leider machen Herzberg et al. zu diesem sicherlich spannenden Teil des Projekts nur sehr spärliche Angaben: Welche konkreten Unterstützungsangebote aufgrund welcher Daten und welcher konkreten schulischen Situationen erarbeitet wurden, wird nicht einmal an einzelnen Beispielen verdeutlicht. Sie gehen jedoch davon aus, dass der sich durch Ihr Projekt entwickelnde Diskurs Anregungen auch für die Lehramtsausbildung bieten sollte.

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Die Untersuchung von Herzberg et al. zeigt Stärken und Schwächen. Auf der einen Seite liefert sie Befunde zu Themen wie der Einstellung von Schülerinnen und Schülern Mittelthüringens zu ihren Mitbürgern, ihrer grundsätzlichen politischen Orientierung und der Bereitschaft zu Formen des Engagements und verbindet diese mit Geschlecht, Schulform, politischer Selbsteinschätzung und Unterrichtsfaktoren (Mitbestimmungsmöglichkeiten, politische Offenheit). Auch merken Herzberg et al. an, dass die Befunde der Studie sich weitgehend mit bereits bekannten Befunden früherer Untersuchungen decken würden. Interessant wäre es, wenn man von den abstrahierten Skalen zu den konkreten Fragen zurückgehen würde: So umfasst die Skala „Bereitschaft zum Engagement“ folgende unterschiedliche Items: „Klassensprecher/-in in der Schule werden“, „Aus politischen, ethischen oder Umweltgründen bestimmte Waren nicht mehr kaufen“, „Ein Haus oder eine Straße besetzen“ und „Eigene politische Interessen mit Gewalt durchsetzen“. Hier würden sich gegebenenfalls auch im Hinblick darauf, mit welcher Gewaltbereitschaft Engagement verbunden sein könnte, Einsichten für die jeweils untersuchten Schulen ergeben. Auch an anderen Punkten, etwa im Hinblick auf die Skala „Akzeptanz anderer“, ließen sich durch einen Rückbezug auf die konkreten Fragen vielleicht differenzierte (und damit für die Feststellung von Problemlagen und die Erarbeitung von Lösungsstrategien einsetzbare) Befunde gewinnen.

Die Jugendforschung deutet die Jugend seit Langem (auch) als Zeitraum, in dem man sich von der eigenen Familie absetzt (vgl. die von Havighurst (1948) postulierten „developmental tasks“) und dabei auch den in der Familie vorgelebten, oft als „durchschnittlich“ oder „geregelt“ empfundenen Lebensstil als unpassend empfindet. Herzberg et al. untersuchen die Akzeptanz von „Durchschnittsbürgern“ der Mehrheitsgesellschaft durch die Schülerinnen und Schüler allerdings nicht, sondern betrachten hier ausschließlich die Einstellung zu Menschen, die in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft einen besonderen Status aufweisen. Der Punkt „Akzeptanz von Mitmenschen“ ist also möglicherweise von dem Autorenteam zu eng gefasst worden. In diesem Zusammenhang ist auch das Erhebungsalter interessant: Die befragten Jugendlichen kamen aus den Klassenstufen 9, 10 und 11. Leider gibt es keine Aussagen dazu, ob beziehungsweise inwieweit sich die Einstellungen in den unterschiedlichen Altersgruppen unterscheiden: So bestehen zwischen einem Jugendlichen der 9. und einem der 11. Klasse zweifellos Unterschiede in Bezug auf Lebenserfahrung, Reflexionsvermögen, im Unterricht besprochene Themen usw., dies wird aber in der Untersuchung von Herzberg et al. nicht thematisiert. Auch wird nicht deutlich, wie viele Schülerinnen und Schüler – etwa durch einen Migrationshintergrund – evtl. selbst einer der Gruppen angehören, gegenüber denen eine Einstellung oder eine Assimilationsanforderung abgefragt wird.

Auch die Feststellung der Neigung zu „rechtsextremen Einstellungen“ ist teilweise fragwürdig: In der Untersuchung werden nur eindeutig rechtsextreme Merkmale abgefragt, aber nicht solche, an denen sich rechte mit anderen (etwa linksextremen oder fundamental-religiös begründeten) Radikalismen berühren oder überschneiden, etwa eine Verachtung für demokratisch begründete Institutionen, Werte, Autoritäten und gesellschaftliche Eliten oder unter demokratischen Rahmenbedingungen ermittelte wissenschaftliche Befunde sowie eine Anfälligkeit für Verschwörungstheorien.

Darüber hinaus wäre eine differenzierte Betrachtung von rechtsextremen Tendenzen interessant gewesen. Beispielsweise hätte man zusätzlich antisemitische Haltungen ermitteln können, schließlich war diese in der deutschen Geschichte auf das Engste mit Rechtsextremismus verbunden.

Wie bei allen durch Abfragen erhobenen Daten ist zudem die Stabilität der Antworten in konkreten Lebenssituationen unsicher: Werden im Alltag und eventuell unter gesellschaftlichem Erwartungsdruck beziehungsweise Gruppendruck tatsächlich die gleichen Antworten gegeben wie auf einem anonym ausgefüllten Fragebogen?

Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Studie spezifische Aussagen zu Demokratiekompetenzen von Schülerinnen und Schülern für den regionalen Kontext Mittelthüringens liefert, repräsentativ für ganz Deutschland sind die Ergebnisse aber nicht. Die Konstruktion des Fragebogens lässt einige methodische Schwächen erkennen, die die Aussagekraft einiger Ergebnisse etwas einschränken.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Heinz Sander, Lehrer am Gymnasium der Stadt Kerpen – Europaschule und Privatdozent an der Universität zu Köln

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