Fragestellungen der Studie:

  • Welche Effekte hat Schule auf Einstellungen zur EU und ihre Bewertung?
  • Wie differenziert ist bei Schülerinnen und Schülern das Vertrauen in staatliche und überstaatliche Institutionen im Verhältnis zum politischen Wissen entwickelt?

Rezension zur Studie

Hahn-Laudenberg, K. & Abs, H. J. (2020). Schule als Kontext für die Entstehung von supranationaler politischer Unterstützung bei 14-Jährigen in Europa. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 23(6), 1125-1147.FIS Bildung

Schule soll die Akzeptanz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern und Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, die politischen Verhältnisse zu analysieren und mitzugestalten. Dies umfasst auch die Förderung von politischer Unterstützung für die EU und die Befähigung, ihre Strukturen, Prozesse und ihr Wirken einzuschätzen. Daher stellt sich die Frage, inwiefern schulische Bedingungen und das erworbene politische Wissen mit schülerseitigen Einstellungen zur EU und der Bewertung ihrer Performanz in Zusammenhang stehen.

Hahn-Laudenberg und Abs analysieren hierzu Daten der International Civic and Citizenship Education Study (ICCS 2016), in der unter anderem 46.500 Schülerinnen und Schüler der 8. Jahrgangsstufe in 14 EU-Staaten befragt und getestet wurden, in Deutschland nahmen 1.451 Schülerinnen und Schüler aus NRW teil.

Wenngleich das Vertrauen in das europäische Parlament über alle Länder hinweg statistisch verknüpft ist mit dem Vertrauen in die nationalen Parlamente (r = .63), ergeben sich Hinweise auf differenzierte Einstellungen. Beispielsweise vertrauen Schülerinnen und Schüler mit mehr politischem Wissen in Ländern mit höherer Korruptionswahrnehmung den nationalen staatlichen Institutionen weniger als die anderen Schülerinnen und Schüler, das Vertrauen in überstaatliche Institutionen unterscheidet sich bei ihnen hingegen nicht oder fällt sogar größer aus.

In einer Pfadanalyse erweist sich für NRW, dass eine höhere Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehungen und mehr Lerngelegenheiten zur EU einhergehen mit größerem Vertrauen in überstaatliche Institutionen und mit stärkerer Zustimmung zur Kooperation zwischen den europäischen Staaten. Da sich neben den beiden letztgenannten Einstellungen auch die Sozialbeziehungen und Lerngelegenheiten direkt auf die Einschätzungen der EU-Performanz auswirken, erscheint es geboten, diese Effekte durch die Erarbeitung kontroverser Fragestellungen im Unterricht auszubalancieren. Gemäß der Pfadanalyse beeinflusst das politische Wissen die Einschätzung der EU-Performanz nicht direkt, doch je größer es ist, umso eher wird europäische Kooperation befürwortet.

Die Studie integriert Erklärungsansätze der politischen Kulturforschung in pädagogische und politikdidaktische Fragestellungen. Ihre Befunde sensibilisieren für die Bedeutung politischen Wissens und für die Gratwanderung in der schulischen Praxis zwischen der Förderung von funktionaler Integration und Autonomie. Da es sich um Sekundärforschung handelt, passt das Untersuchungsdesign nicht optimal zur Fragestellung; auch aus diesem Grund bleiben die Ergebnisse teilweise mehrdeutig.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte

  • Inwiefern trägt mein Unterricht dazu bei, differenzierte Einstellungen zu supranationalen und nationalen Institutionen zu fördern?
  • Welche Lerngelegenheiten zu Europa bietet mein Unterricht und welches politische Wissen wird gefördert?
  • Wie kann mein Unterricht eine reflektierte und ggf. kritische Ausbildung politischer Einstellungen ermöglichen?
  • Inwiefern fördert mein pädagogisches Handeln die Beziehung zwischen Lehrkraft und Schülerinnen und Schülern?

Reflexionsfragen für Schulleitungen

  • Inwiefern fördert die Praxis an meiner Schule differenzierte politische Einstellungen der Schülerinnen und Schüler?
  • Welche Aktivitäten kann ich initiieren, um Lerngelegenheiten zu Europa zu ermöglichen und differenzierte politische Einstellungen zu fördern?
  • Auf welche Weise kann ich die Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern stärken?

Hahn-Laudenberg und Abs legen ihrer Untersuchung eine strukturfunktionalistische Perspektive auf Gesellschaft zugrunde, nach der die Integration der Mitglieder einer Gesellschaft die Voraussetzung für den dauerhaften Bestand ihrer Institutionen bildet. In Bezug auf Fend (2006) unterstreichen sie, dass Schule nicht nur politisches Wissen vermittelt, sondern auch eine gesellschaftliche Integrationsfunktion hat. Darüber hinaus betonen sie, dass die zunehmende Internationalisierung von Politik es erforderlich macht, Integration auch aus einer internationalen Perspektive zu betrachten. Für Schulsysteme in Europa spiele dabei die Europäische Union (EU) mit ihren supranationalen Institutionen eine große Rolle, da Schülerinnen und Schüler als spätere Wählerinnen und Wähler die europäische Politik mitbeeinflussten, die vielfältigen Regelungen der EU den Alltag der Lernenden beträfen und europäische Förderprogramme (z. B. Erasmus+) ihnen Mobilität ermöglichten. Vor diesem Hintergrund geht das Autorenteam in seiner Studie der Frage nach, „inwiefern schulische Erfahrungen und das in Schule vermittelte, konzeptionelle politische Wissen zu einer europäischen politischen Kultur beitragen“ (S. 1127).

Theorie und Forschungsstand

Hahn-Laudenberg und Abs konstatieren mit Verweis auf Parson (1976) und Helsper (1996), dass Schule durch eine doppelte Verpflichtung gekennzeichnet ist, die die sogenannte Autonomieantinomie widerspiegelt. Auf der einen Seite habe Schule eine Stabilitätsfunktion in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem sie ein vorgegebenes Regelsystem umsetze, und auf der anderen Seite trage sie zur möglichen Veränderung des politischen Systems bei, indem sie die Selbstbestimmung der Schülerinnen und Schüler fördere. Auf dieser Annahme aufbauend differenziert das Autorenteam dieses theoretische Grundgerüst weiter aus mit Hilfe der Theorie der politischen Unterstützung aus der Kulturforschung, die für Demokratien Einstellungen zu den drei Dimensionen Kultur, Struktur und Prozess unterscheidet.

Hahn-Laudenberg und Abs weisen darauf hin, dass die politischen Einstellungen zu diesen Dimensionen in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen, aber jeweils unterschiedliche systemische Konsequenzen hervorbringen. Der Fortbestand eines demokratischen Systems im eigenen Land werde durch die Bindung an demokratische Werte gewährleistet (Kulturdimension). Durch die politische Unterstützung des demokratischen Regimes im eigenen Land entstehe eine Persistenz des Typs des demokratischen Regimes (Strukturdimension). Das demokratische Regime wiederum erfahre Vertrauen durch die gesellschaftliche Unterstützung politischer Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, welches durch die Wieder- und Abwahl ausgesprochen werde (Prozessdimension).

In Bezug auf die Theorie des „critical citizen“ von Norris (1999, 2011) hält das Autorenteam fest, dass Allgemeinbildung und das Verständnis für politische Prozesse zentral für das Vertrauen in politische Institutionen sind, weil sie zur Unterstützung demokratischer Werte beitragen und eine differenziertere Bewertung der Politik ermöglichen. Diese Annahme wird laut Hahn-Laudenberg und Abs auch durch Analysen internationaler Umfragen gestützt.

Vom Autorenteam wird zunächst kritisch hinterfragt, ob die Theorie der politischen Unterstützung auf supranationale Institutionen wie die EU anwendbar ist, da sie ursprünglich für die Analyse der politischen Kultur in demokratischen Nationalstaaten entwickelt wurde. Vor dem Hintergrund dieser Zweifel konstatieren sie, dass zwar „nicht alle Merkmale und Prinzipien von demokratischen Nationalstaaten […] im Kontext der EU Anwendung finden“, dennoch „[…] sich aus der supranationalen politischen Organisation spezifische Effekte ergeben [können], die eine instrumentelle Legitimation dieser spezifischen europäischen Regierungsform erlauben“ (S. 1129).

Um zu untersuchen, wie sich die politische Unterstützung der nationalen und supranationalen Ebene zueinander verhalten und „welche Bedeutung sowohl der jeweiligen politischen Performanz und(!) als auch dem individuellen politischen Verständnis zukommt“ (ebd.), greift das Autorenteam auf zwei Hypothesen der Politikwissenschaft zur politischen Unterstützung zurück. Zum einen verweisen sie auf die Kongruenzhypothese, die von einer hohen Übereinstimmung der individuellen Bewertung nationaler und supranationaler Institutionen ausgeht. Dies werde einerseits auf geringe Kenntnisse über die politischen Prozesse der EU und andererseits auf grundsätzliches soziales Vertrauen zurückgeführt. Zum anderen beschreibe die Kompensationshypothese eine entgegengesetzte Beeinflussung der Bewertung der beiden Systeme. Je geringer das Vertrauen in das nationale politische System, desto höher sei die Unterstützung der supranationalen Ebene.

Die Frage, ob Theorien politischer Unterstützung auf den schulischen Kontext übertragbar sind, wollen Hahn-Laudenberg und Abs in ihrer Studie normativ und empirisch beantworten. Die normative Diskussion in der Schultheorie verhandele, wie in der Schule ein Gleichgewicht zwischen funktionaler Integration und Autonomie hergestellt werden könne. Die strukturfunktionalistische Sozialisationstheorie betone die Integrationsfunktion der Schule und werde dafür kritisiert, dass sie die Autonomieansprüche des Einzelnen vernachlässige. Diesen Gegensatz will das Autorenteam mit Argumenten von Honneth (2012) auflösen, nach dem „ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen die Autonomie der Heranwachsenden zur Sicherung seines Fortbestands legitim einschränken darf“ (S. 1130). Die Berücksichtigung beider Aufgaben von Schule finde sich in den Grundsätzen des Beutelsbacher Konsenses wieder, nach denen der politischen Bildung die Aufgabe der Befähigung zur politischen Einflussnahme und die Aufgabe der Akzeptanz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zukomme.

Das Autorenteam führt mit Verweis auf Berichte und Empfehlungen der EU aus, dass von den Institutionen der EU explizit der Bedarf thematisiert wird, politische Bildung zu fördern, die der supranationalen Unterstützung dienlich ist. Die EU werde aber dahingehend kritisiert, dass diese Bildungsprogrammatik ein unkritisches Verständnis europäischer Bürgerschaft fördere. Notwendig seien hingegen eine kritische Reflexion von politischen Prozessen und Strukturen der EU im Unterricht. Angesichts dieser Feststellungen ergeben sich für Hahn-Laudenberg und Abs direkte Anknüpfungspunkte didaktischer Ansätze an die Theorien politischer Unterstützung.

Im Hinblick auf den empirischen Forschungsstand fasst das Autorenteam wie folgt zusammen: Einige Studien würden drauf verweisen, dass die Anwendung von Modellen der politischen Kulturforschung auf den schulischen Kontext schwierig sei, da Jugendliche in diesem Alter noch keine differenzierten politischen Einstellungen ausgebildet hätten. Andere Untersuchungen wiederum würden differenzierte politische Einstellungen in diesem Alter belegen, die unter anderem auf Sozialisationseffekte und die Qualität der erlebten sozialen Beziehungen zurückgeführt würden. Weitere Analysen zeigten einen Zusammenhang zwischen Vertrauen in Institutionen und politischem Wissen, wobei allerdings das Vertrauen nicht von politischem Wissen abhänge, sondern stärker von der Vertrauenswürdigkeit eines politischen Systems. Insgesamt aber würden die Erkenntnisse die Relevanz von Schule als Instanz für politische Bildung bestätigen. Im Hinblick auf die EU konstatieren Hahn-Laudenberg und Abs unter Verweis auf empirische Forschungsbefunde, „dass Lernangebote zur EU und zum politischen Wissen über die EU zu einer stärkeren Identifikation und zu mehr politischer Unterstützung beitragen“ (S. 1132).

Vor dem Hintergrund des dargelegten Forschungsstandes wird in der Studie folgenden Fragestellung nachgegangen:

  • Wie differenziert ist bei Schülerinnen und Schülern das Vertrauen in staatliche und überstaatliche Institutionen im Verhältnis zum politischen Wissen entwickelt?

  • Inwiefern sind schulisch gestaltbare Kontexte relevant für die Erklärung von Unterschieden in der politischen Unterstützung der EU bei Schülerinnen und Schülern?

Stichprobe

Datengrundlage der rezensierten Studie ist die International Civic and Citizenship Study (ICCS) aus dem Jahr 2016. Sie ist eine international vergleichende Large-Scale-Studie im Querschnittsdesign, mit der untersucht wurde, inwieweit 14-Jährige auf ihre Rolle als Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie vorbereitet sind.

Die Stichprobenziehung, die in jedem teilnehmenden Bildungssystem mit einer mehrstufigen Zufallsauswahl erfolgte, umfasste weltweit 24 Bildungssysteme (davon 14 Mitgliedsstaaten der EU) mit etwa 94.000 Schülerinnen und Schülern. In Deutschland wurde die Studie ausschließlich in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Nordrhein-Westfalen beteiligte sich mit einer Stichprobe von 1.451 Schülerinnen und Schülern der 8. Jahrgangsstufe (Altersdurchschnitt = 14,29) aus 59 Schulen.

Hahn-Laudenberg und Abs merken an dieser Stelle an, dass durch die freiwillige Teilnahme an der Studie in NRW nur 35 % der avisierten Schulklassen erhoben werden konnten und deshalb die Ergebnisse für das Schulsystem in NRW als eingeschränkt repräsentativ zu betrachten sind.

Instrumente

Das politische Wissen und Argumentieren der Schülerinnen und Schüler wurde mit einem Test erhoben, der 88 offene und geschlossene Aufgaben umfasste, die auf acht Testhefte verteilt wurden.

Um den schulischen Kontext, Erfahrungen und Einstellungen zu erfassen, wurde ein Fragebogen eingesetzt, der in europäischen Bildungssystemen durch ein regionales Modul ergänzt wurde, um europaspezifische schulische Lerngelegenheiten und Einstellungen zu erfassen.

Die abhängigen Variablen – die sich in Abhängigkeit von einer oder mehreren unabhängigen Variablen verändern – bilden die Einstellungen der Schülerinnen und Schüler zur EU. Für die Analysen wurden vier Skalen mit Items aus dem europäischen Fragebogen verwendet, in dem Einstellungen zur Performanz der EU mit fünf Aussagen, Einstellungen zur Supranationalität mit acht Aussagen, das Vertrauen in staatliche Institutionen mit sechs Aussagen und das Vertrauen in überstaatliche Institutionen mit drei Aussagen erfasst wurden. Das Antwortformat war jeweils eine vierstufige Likert-Skala.

Als unabhängige Variablen neben dem politischen Wissen wurde die Skala europabezogene Lerngelegenheiten mit vier Aussagen erfasst sowie die Skala Qualität der Beziehungen zwischen Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften, welche anhand von fünf Aussagen erhoben wurde.

Auswertungsverfahren

Hahn-Laudenberg und Abs untersuchten zunächst anhand von Mittelwerten das Ausmaß des politischen Vertrauens in nationalstaatliche und überstaatliche Institutionen der beteiligten Bildungssysteme. Der Zusammenhang zwischen politischem Wissen und Vertrauen wurde auf beiden Ebenen mit Hilfe von Korrelationen analysiert und mit dem Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) als externem Maßstab der politischen Performanz in Beziehung gesetzt. Die Effekte von schulischen Lerngelegenheiten, schulischen Sozialbeziehungen und politischem Wissen auf Einstellungen und Vertrauen in überstaatliche Institutionen sowie die Effekte dieser Variablen auf die Einstellungen zur Performanz der EU wurden in einem Pfadmodell analysiert. Durch diese Methode werden kausale Beziehungen zwischen Variablen modelliert und geprüft.

Wie differenziert ist bei Schülerinnen und Schülern das Vertrauen in staatliche und überstaatliche Institutionen im Verhältnis zum politischen Wissen entwickelt?

Im Hinblick auf die erste Forschungsfrage resümieren Hahn-Laudenberg und Abs, dass in elf von 14 Bildungssystemen in der EU Schülerinnen und Schüler signifikant häufiger angeben, dem europäischen Parlament zu vertrauen als dem nationalen Parlament.

Das Vertrauen in nationale und europäische Parlamente korreliert bei Schülerinnen und Schülern über alle Länder hinweg deutlich positiv (r = .63; über alle Bildungssysteme). Mit diesem Ergebnis sieht das Autorenteam die Kongruenzhypothese bestätigt. Der Zusammenhang von Vertrauen gegenüber dem nationalen und europäischen Parlament bei Schülerinnen und Schülern mit mehr politischem Wissen ist signifikant etwas geringer (r = .61) als in der Gruppe mit geringerem politischem Wissen (r = .68). Das belegt für Hahn-Laudenberg und Abs, dass Schülerinnen und Schüler mit mehr politischem Wissen zwischen Vertrauen in nationale politische Institutionen und Vertrauen in überstaatliche politische Institutionen differenzieren.

Die Korrelationen zwischen politischem Wissen und Vertrauen in überstaatliche Institutionen sowie (national-)staatliche Institutionen zeigen für alle Länder nur schwache Zusammenhänge. Die Diskrepanz zwischen dem Vertrauen in das nationale Parlament und dem Vertrauen in das EU-Parlament korreliert ebenso wie die Diskrepanz zwischen den Korrelationen zum politischen Wissen negativ mit dem Korruptionswahrnehmungsindex CPI (r = -.64; r = -.80). Nach Hahn-Laudenberg und Abs bedeutet dies, dass in Staaten mit einer geringer eingeschätzten Vertrauenswürdigkeit der politischen Systeme sich in Abhängigkeit vom politischen Wissen Unterschiede in Bezug auf das Vertrauen in nationale und überstaatliche Institutionen zeigen.

 

Inwiefern sind schulisch gestaltbare Kontexte relevant für die Erklärung von Unterschieden in der politischen Unterstützung der EU bei Schülerinnen und Schülern?

Hinsichtlich der zweiten Forschungsfrage können Hahn-Laudenberg und Abs mit ihrem Pfadmodell empirisch für NRW zeigen, dass es signifikante Zusammenhänge zwischen schulischen Bedingungen, politischem Wissen und EU-bezogenen Einstellungen gibt. Im Einzelnen hält das Autorenteam fest, dass sowohl die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehungen als auch die Lerngelegenheiten zur EU für die EU-bezogenen Einstellungen von Bedeutung sind. Hinsichtlich der Bedeutung des politischen Wissens zeigen die Ergebnisse, dass Schülerinnen und Schüler mit größerem politischem Wissen stärker eine supranationale Zusammenarbeit befürworten als Schülerinnen und Schüler mit geringerem politischem Wissen. Auf das Vertrauen in überstaatliche Institutionen hat das politische Wissen allerdings nur einen schwachen und auf Einstellungen zur EU-Performanz keinen direkten Effekt.

Einstellungen zur EU-Performanz können teilweise mit einer positiven Wahrnehmung des Schüler-Lehrer-Verhältnisses und wahrgenommenen Lerngelegenheiten zu Europa erklärt werden. Ebenso haben das institutionelle Vertrauen und die Zustimmung zur Supranationalität einen Effekt auf die EU-Performanzbewertung.

Hintergrund

Ein demokratischer Staat hat nur Bestand und Stabilität, solange die Bürgerinnen und Bürger sich dauerhaft an demokratische Werte binden und das demokratische Regime unterstützen. Welche Einstellungen Kinder und Jugendliche in Bezug auf Demokratie und Bürgerschaft entwickeln, ist daher von besonderer Relevanz für die Zukunft von Demokratien.

Mit der Untersuchung des Verhältnisses von schulischen Bedingungen und politischem Wissen zu Einstellungen gegenüber Supranationalität, überstaatlichem Institutionenvertrauen und zur eingeschätzten Performanz der EU bei Schülerinnen und Schülern leisten Hahn-Laudenberg und Abs einen wichtigen Beitrag in diesem Forschungsgebiet, insbesondere weil die politische Kulturforschung schulische Bildungskontexte bislang wenig differenziert betrachtet hat und dieser Beitrag den Einfluss schulischer Kontexte auf Indikatoren der politischen Unterstützung auf der europäischen Ebene in den Fokus rückt.

Der theoretische Hintergrund der empirischen Studie wird vom Autorenteam verständlich erklärt und argumentativ an die Fragestellungen angebunden. Der Beitrag berücksichtigt eine Reihe anderer Forschungsarbeiten, die der Herleitung der Forschungsfrage dienen und bei der Diskussion der Befunde erneut aufgegriffen werden.

Die Anwendung der Theorie politischer Unterstützung auf die Europäische Union ist jedoch nur bedingt stimmig: Die europäische Kommission als Exekutive der EU kann nicht vom Volk im „klassischen Sinne“ abgewählt werden, da die EU-Mitgliedsstaaten ihre Kommissionsmitglieder an die EU entsenden und die Kommissionspräsidentin oder der Kommissionspräsident nach der Europawahl letztlich vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit vorgeschlagen wird. Dieses Demokratiedefizit entzieht dem Modell der politischen Unterstützung in Demokratien nach Fuchs (2002) die Prozessebene, in der die Unterstützung politischer Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger durch die Wieder- und Abwahl ausgedrückt wird.

Design

Das Autorenteam gibt keine Auskunft darüber, warum nur die Hälfte der EU-Staaten (2016 noch EU-28) an der internationalen Schülervergleichsstudie als europäische Vergleichsgruppe teilgenommen hat, im Jahr 2009 waren es noch 26 Staaten aus Europa, die an ICCS teilnahmen. Daher ist fraglich, ob die Ergebnisse für Europa repräsentativ sind. Außerdem ist die deutsche Stichprobe selbst für allgemeine Schulen in NRW lediglich eingeschränkt repräsentativ, da nur 35 % der avisierten Schulklassen erhoben werden konnten.

Die Verfahren zur Konstruktion der Erhebungsinstrumente in den Teilnehmerländern wurden bereits in anderen international vergleichenden Schulleistungsstudien (u. a. TIMSS, IGLU) erprobt und entsprechen hohen wissenschaftlichen Ansprüchen. Die Berücksichtigung von studienexternen Indikatoren (hier Korruptionswahrnehmungsindex) trägt zur Validität der Ergebnisse bei, jedoch wird leider nicht erklärt, wie dieser Indikator berechnet wird.

Der sekundäranalytische Ansatz der Studie, das heißt der Rückgriff auf bereits erhobene Daten zum Zweck der Untersuchung eigener Forschungsfragen, ist mit Inkonsistenzen und Lücken verbunden. Beispielsweise sollen mit der Skala „Vertrauen in überstaatliche Institutionen“ EU-bezogene Einstellungen erfasst werden, allerdings bezieht sich eins der drei Items auf die Vereinten Nationen (UN). Weiterhin bleibt für die Leserinnen und Leser im Unklaren, warum bei dem Vergleich des institutionellen Vertrauens nur das nationale und das Europäische Parlament noch einmal gesondert betrachtet werden, andere politische Institutionen aber nicht. Die einseitig gerichteten Beziehungen im zugrunde gelegten Pfadmodell erscheinen nicht durchgängig plausibel, beispielsweise ist anzunehmen, dass die wahrgenommene EU-Performanz ihrerseits die EU-bezogenen Einstellungen beeinflusst, was eher für bidirektionale Zusammenhänge spricht. Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, dass im Modell unberücksichtigte (außerschulische) Drittvariablen die ermittelten Zusammenhänge verursachen; beispielsweise erklärt möglicherweise das durch familiäre Sozialisation entwickelte soziale Vertrauen den Zusammenhang zwischen Lehrer-Schüler-Beziehung und dem Vertrauen in überstaatliche Institutionen.

Ergebnisse

Hahn-Laudenberg und Abs grenzen die Aussagekraft der Ergebnisse selbst ein, unter anderem da im Hinblick auf das untersuchte politische Vertrauen andere Vertrauensdimensionen wie das nationale institutionelle Vertrauen in ihrem Pfadmodell nicht berücksichtigt wurden. Laut dem Autorenteam können anhand der Studienergebnisse dennoch die Kongruenz- und Kompensationshypothese bestätigt werden. Ein hoher Zusammenhang des Vertrauens in nationale und supranationale Institutionen ist unter anderem mit geringen Kenntnissen über die Prozesse der EU erklärbar (limited information mechanism), was der Kongruenzhypothese entspricht. Der ermittelte Unterschied zwischen Schülerinnen und Schülern mit hohem und geringem politischem Wissen bezüglich der Verknüpfung des Vertrauens in nationale und supranationale Institutionen (r = .61 vs. r = .68) ist zwar aufgrund der großen Stichprobe statistisch signifikant, aber die Differenz fällt gering aus. Dies kann daher nur als schwache Bestätigung des limited information mechanism betrachtet werden, zudem bleibt unklar, inwiefern das Ausmaß an politischem Wissen für die Differenz ursächlich ist und ob nicht möglicherweise Drittvariablen (z. B. soziokultureller Hintergrund) oder methodische Aspekte (z. B. geringere Varianz der Vertrauenswerte bei größerem Wissen) die unterschiedliche Höhe der Korrelationen bedingen. Im Hinblick auf die Kompensationshypothese ist die Ergebnispräsentation wenig transparent und schwer nachvollziehbar. Abgesehen von den methodischen Vorbehalten gegen die pfadanalytische Auswertung zur Relevanz schulischer Kontexte sowie politischen Wissens für die politische Unterstützung der EU (s. o.) sind die dort ermittelten Koeffizienten gering (< .25). Hahn-Laudenberg und Abs konstatieren, dass das Ergebnis aufgrund der relativ geringen Effektstärken vorsichtig interpretiert werden sollte.

Insgesamt lässt sich resümieren, dass die Befunde die Relevanz schulischer Bildungskontexte für die Entwicklung von politischen Einstellungen und institutionellem Vertrauen unterstreichen und dass sie für den charakteristischen „Balanceakt“ in der schulischen Praxis sensibilisieren: funktionale Integration in die Gesellschaft durch die Verinnerlichung bestimmter Werte und Normen auf der einen Seite und Förderung der Autonomie durch die Vermittlung eines kritischen Bewusstseins auf der anderen Seite.

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Diese Rezension wurde erstellt von:
Arne Düllberg, Pädagogischer Mitarbeiter an der Qualitäts- und UnterstützungsAgentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW), Soest. Arbeitsschwerpunkte: Wissensmanagement in der Schulentwicklung, Kooperation von Wissenschaft und Praxis.

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