Fragestellungen der Studie:

  • Differenzieren im Mathematikunterricht: Wie schätzen Lehrkräfte die Verfügbarkeit von Materialien, ihre Kompetenzen und ihren Fortbildungsbedarf ein?

Rezension zur Studie

Leuders, T. (2017). Subjektive Fortbildungsbedarfe zum differenzierenden Mathematikunterricht. Wie schätzen Lehrkräfte ihr Wissen, Können und die verfügbaren Materialien ein? Bildung und Erziehung, 70(4), 415–425.FIS Bildung

Der Umgang mit Heterogenität im Mathematikunterricht und die damit verbundene Notwendigkeit zur Differenzierung sind aktuelle Themen der Schul- und Unterrichtsentwicklung. Mit diesen geht ein Bedarf an entsprechenden Fortbildungen für Lehrkräfte einher.

Leuders erhebt in vorliegender Studie Fortbildungsbedarfe von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe im Bereich des Differenzierens. Die zentrale Fragestellung lautet: Welchen Fortbildungsbedarf sehen Lehrkräfte in verschiedenen Bereichen des Differenzierens?

In der Fragebogenerhebung wurden 62 Mathematiklehrkräfte aus verschiedenen Schularten der Sekundarstufe als Teilnehmende einer verpflichtenden Fortbildung befragt. Die Lehrkräfte schätzten jeweils ihr Wissen, ihr Können und die Verfügbarkeit von Materialien in verschiedenen Bereichen des Differenzierens im Mathematikunterricht ein.

Die befragten Lehrkräfte schätzen sich kompetent ein in den Bereichen Allgemeine Ansätze des Differenzierens, mathematische Zugangsweisen, differenzierende Aufgabenformate und Umgang mit Fehlern. In den Bereichen differenzierende Leistungsbewertung und Umgang mit Rechenschwierigkeiten sehen sich die Lehrkräfte eher nicht kompetent. In den Bereichen Inklusion und Sprache schätzt sich die Mehrheit der Lehrkräfte nicht kompetent ein.

Die Untersuchung gibt einen Überblick über den subjektiven Fortbildungsbedarf von Lehrkräften in verschiedenen Bereichen des Differenzierens im Mathematikunterricht. Dieser Bedarf wird vor allem in den Bereichen Inklusion und Sprache sowie differenzierende Leistungsbewertung und Umgang mit Rechenschwierigkeiten wahrgenommen. Die Ergebnisse können dazu genutzt werden, passgenaue Fortbildungen anzubieten. 

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Arten der Differenzierung setzen mein Kollegium und ich bereits im Unterricht ein? 
  • Welches Unterrichtsmaterial unterstützt mich und mein Kollegium bei der Differenzierung? 
  • Wie könnte die Auswahl, der Besuch und die Multiplikation von Fortbildungen im Kollegium sinnvoll gestaltet werden?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Wie kann ein Austausch über bereits praktizierte Differenzierungsmaßnahmen im Kollegium sinnvoll stattfinden?
  • Welche Themen der Schul- und Unterrichtsentwicklung sind für meine Schule wichtig?
  • Auf welche Art können Fortbildungen die Schul- und Unterrichtsentwicklung meiner Schule unterstützen?

Der Umgang mit Heterogenität ist an vielen Schulen Gegenstand der Schul- und Unterrichtsentwicklung. In diesem Zusammenhang entsteht ein Bedarf an passgenauen Fortbildungen zum Thema Differenzierung. Fortbildungsangebote sollten begründet sein und die subjektiven und objektiven Fortbildungsbedarfe von Lehrkräften abdecken. Mit subjektiven Fortbildungsbedarfen ist die Einschätzung von Lehrkräften über ihren eigenen Fortbildungsbedarf gemeint. Objektive Fortbildungsbedarfe hingegen lassen sich aus einer verbesserungswürdigen Unterrichtspraxis ableiten. In der rezensierten Studie werden subjektive Fortbildungsbedarfe zum Differenzieren im Mathematikunterricht in verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe ermittelt.

Der von Lehrkräften in Bezug auf Differenzierung empfundene Bedarf an Fortbildungen ist groß: So sehen in einer Studie von Richter et al. (2012) 60 % der Grundschullehrkräfte einen Bedarf zu Fragen der Binnendifferenzierung und individuellen Förderung. Jedoch besuchten nur 20 % der befragten Lehrkräfte entsprechende Fortbildungen. Dies wurde größtenteils auf die hohe berufliche Belastung zurückgeführt. Auch Sekundarstufenlehrkräfte sehen Fortbildungen als wichtigen Gelingensfaktor zur Umsetzung individueller Förderung im Unterricht, empfinden diese jedoch als zusätzliche Belastung (Solzbacher, 2008).

In einem Rahmenmodell stellen Leuders und Prediger (2016) verschiedene Bereiche des Differenzierens im Mathematikunterricht dar, die in der vorliegenden Studie als Grundlage zur genaueren Erfassung von Fortbildungsbedarfen von Lehrkräften dienen: 

  • Allgemeine Ansätze des Differenzierens (übergreifende Unterrichtsformen mit differenzierendem Charakter wie z. B. Aufgabenformen, Arbeitspläne, Förderunterricht etc.)
  • Mathematische Zugangsweisen (z. B. durch verschiedene Lösungswege oder durch variable Darstellung)
  • Differenzierende Aufgabenformate (z. B. Parallelaufgaben)
  • Sprache im Mathematikunterricht (Herausforderungen und Fördermaßnahmen bei verbalen Aufgabenstellungen)
  • Verstehensprobleme beim Rechnen, Rechenschwierigkeiten (vor allem beim grundlegenden Zahl- und Operationsverständnis)
  • Differenzierende Leistungsbewertung (z. B. individualnormorientierte Bewertung)
  • Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
  • Angemessene Förderung von Mädchen und Jungen
  • Umgang mit typischen Fehlern und Verstehensproblemen (inhaltsspezifisch fokussierte Diagnose und Förderung)

Fragestellung und Methode 
In der vorgestellten Studie werden Fortbildungsbedarfe im Bereich des Differenzierens von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe erfasst und dargestellt. Folgende Fragen werden untersucht:

  • Welchen Fortbildungsbedarf sehen Lehrkräfte in verschiedenen Bereichen des Differenzierens? 
  • Wie schätzen Lehrkräfte in verschiedenen Bereichen des Differenzierens ihr Wissen, ihr Können sowie die Verfügbarkeit geeigneter Materialien ein?
  • Lassen sich Unterschiede in Bezug auf Fortbildungsbedarfe zwischen den Lehrkräften verschiedener Schulformen finden?

Als Teilnehmende einer für die Schulen verpflichtenden Fortbildung zur Einführung der neuen Bildungspläne in Baden-Württemberg wurden 62 Mathematiklehrkräfte eines Schulamtsbezirks anonym befragt, davon stammten 28 aus Realschulen, 19 aus Gemeinschaftsschulen, 9 aus Werkrealschulen und 6 aus Schulverbünden.

Die Befragung fand mit Hilfe eines Fragebogens mit vierstufiger Likert-Skala statt. In dieser gab es die Auswahlmöglichkeiten „stimme nicht zu“ (1), „stimme weniger zu“ (2), „stimme eher zu“ (3), „stimme voll zu“ (4). 

Innerhalb der im Abschnitt „Hintergrund“ genannten Bereiche des Differenzierens wurden die Dimensionen Wissen, Können (Selbstwirksamkeit) und die Verfügbarkeit von Material unterschieden sowie Unterschiede zwischen den Schularten untersucht. Die Auswertung der drei Bereiche erfolgte deskriptiv. Zusätzlich wurde eine explorative Faktorenanalyse zur Überprüfung der Kohärenz der Antworten durchgeführt.

Die Dimension Können wird in der Studie zur Erfassung der Fortbildungsbedarfe zugrunde gelegt. Hier findet Leuders hohe Werte in den Bereichen Allgemeine Ansätze, mathematische Zugangsweisen, differenzierende Aufgabenformate und Umgang mit Fehlern. Jeweils mindestens 75 % der befragten Lehrkräfte schätzen sich in diesen Bereichen kompetent in Bezug auf einen differenzierenden Unterricht ein.

In den Bereichen differenzierende Leistungsbewertung und Umgang mit Rechenschwierigkeiten schätzen sich etwas weniger als die Hälfte der Befragten kompetent ein, einen differenzierenden Mathematikunterricht anbieten zu können.

Geringe Werte findet der Autor in den Bereichen Inklusion und Sprache. Über 80 % der Befragten schätzen sich im Bereich Inklusion in Bezug auf eine Differenzierung im Mathematikunterricht nicht oder eher nicht kompetent ein und über 60 % der Befragten im Bereich Sprache.

Im Vergleich der Dimensionen Wissen, Können und Verfügbarkeit von Materialien zeigt sich keine aussagekräftige Diskrepanz in der subjektiven Wahrnehmung der Lehrkräfte zwischen selbsteingeschätztem Wissen und selbsteingeschätztem Können. Allenfalls in den Bereichen Sprache, Inklusion und Gender schätzen Lehrkräfte ihr Wissen geringer ein als ihr Können. Die Verfügbarkeit von Materialien wird von den Lehrkräften in allen erhobenen Bereichen, besonders jedoch in den Bereichen Sprache, Gender und mathematische Zugangsweisen, weniger positiv eingeschätzt als ihr Wissen und Können. Die Streuung der Antworten (Standardabweichung) ist dabei gering.

Im Vergleich der Schulformen Realschule und Gemeinschaftsschule findet der Autor folgende Ergebnisse: In den Bereichen differenzierende Leistungsbewertung und Umgang mit Rechenschwierigkeiten schätzen die Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen ihr Können höher ein als die Lehrkräfte an Realschulen. Ansonsten sind die Unterschiede zwischen den Schularten gering.

Hintergrund
Leuders stellt zu Beginn des Beitrags Studien vor, in denen die Diskrepanz zwischen Fortbildungsbedarfen und tatsächlichen Fortbildungsbesuchen deutlich wird. Damit wird die Bedeutung dieses Themas für die Planung von Fortbildungen deutlich. Die verschiedenen Bereiche des Differenzierens im Mathematikunterricht, die als Grundlage der Befragung dienen, wurden aus einem zuvor entwickelten Rahmenmodell (Leuders & Prediger, 2016) abgeleitet und in der Studie kurz dargestellt. 

Design
Die befragten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Fortbildung stellen nach Leuders eine Positivauswahl dar. Das heißt, es handelt sich vermutlich um eher interessierte und aufgeschlossene Lehrkräfte der zur Teilnahme verpflichteten Schulen. Eine Erhebung in gesamten Mathematikfachschaften könnte dementsprechend negativer ausfallen. Ebenso könnte die geringe Streuung in den Antworten auf die Positivauswahl der Lehrkräfte zurückzuführen sein.

Positiv hervorzuheben sind die Visualisierungen der Ergebnisse im Säulendiagramm. Tabellarische Darstellungen mit Zahlenwerten könnten hier ergänzt werden.

Die Ergebnisdarstellung beruht zum größten Teil auf deskriptiver Beschreibung der Befragungsergebnisse. Die Auswertungsmethoden sind nicht in allen Teilen nachvollziehbar dargestellt. Bei der Unterscheidung nach Wissen, Können und Material wird von statistischen Unterschieden berichtet, ohne das zugrunde liegende statistische Verfahren oder das Signifikanzniveau zu explizieren.

Die Ergebnisse der Fragebogenerhebung könnten mit individuellen Aussagen von Lehrkräften in offenen Fragen abgeglichen werden, um die Fragebogendaten besser interpretieren zu können. Die vorhandenen Möglichkeiten für offene Antworten wurden in der Erhebung von den Lehrkräften jedoch kaum genutzt. Es gilt, die in der Studie erhobene subjektive Wahrnehmung mit objektiven Fortbildungsbedarfen abzugleichen. Außerdem besteht die Möglichkeit, dass Fortbildungsbedarfe von Lehrkräften selbst nicht formuliert werden, da diese sich der Breite der Differenzierungsmöglichkeiten nicht bewusst sind.

Die Studie beruht auf Selbsteinschätzungen der Lehrkräfte. Der Autor merkt selbst an, dass die Selbsteinschätzung des eigenen Könnens nicht ohne Weiteres mit der objektiven Kompetenz und der tatsächlichen Notwendigkeit zur Differenzierung gleichgesetzt werden kann.

Ergebnisse
Im erwähnten Rahmenmodell (Leuders & Prediger, 2016) wird der Bereich Gender als ein Bereich des Differenzierens im Mathematikunterricht ausgewiesen und somit auch dieser Studie zugrunde gelegt. Die Lehrkräfte schätzen sich in diesem Bereich nicht kompetent ein, wie den in der Studie dargestellten Daten entnommen werden kann:

Über 70 % der Befragten stimmen der Aussage, sich sicher zu sein, Mädchen und Jungen im Fach Mathematik differenziert fördern zu können, nicht oder weniger zu. Und keine Person stimmt der Aussage voll zu.

Unklar ist, warum Leuders auf diesen Bereich in seiner ausformulierten Ergebnisdarstellung nicht eingeht, obwohl dieser nach dem Bereich Inklusion am kritischsten gesehen wird.

Die befragten Lehrkräfte stammen aus Gemeinschaftsschulen, Werkrealschulen, Realschulen und Schulverbünden. Die Schulverbünde werden nicht näher erläutert. Da es sich um eine Fortbildung zur Einführung der neuen Bildungspläne in Baden-Württemberg handelt, kann davon ausgegangen werden, dass alle teilnehmenden Lehrkräfte aus der Sekundarstufe I stammen. Ob die Ergebnisse auf den Fortbildungsbedarf von Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe II oder auf andere Bundesländer übertragbar sind, ist deshalb unklar.

Die Unterschiede in den Dimensionen Wissen, Können und Material stellten sich als gering heraus, so dass diese Unterscheidung forschungsmethodisch keinen Mehrwert erbringt und in folgenden Studien vernachlässigt werden kann.

Im Stand der Forschung wurde dargestellt, dass Lehrkräfte durchaus einen Bedarf an Fortbildungen sehen, diese jedoch aufgrund empfundener hoher beruflicher Belastungen nicht wahrnehmen (Richter et al., 2012; Solzbacher, 2008). Neben den in der vorliegenden Studie erhobenen Bedarfen an Fortbildungen sollte zusätzlich eruiert werden, unter welchen Umständen die passgenauen Fortbildungen von interessierten Lehrkräften besucht werden. Welche äußeren Faktoren (wie beispielsweise der zeitliche Rahmen der Fortbildung) können hier entscheidend sein? Welche Bedingungen können den Besuch von Fortbildungen für Lehrkräfte erleichtern (beispielsweise die Arbeit im Tandem, zeitliche Entlastung oder Ähnliches)?

Selbst wenn Lehrkräfte passgenaue Fortbildungen besuchen, ist der Transfer in die Unterrichtspraxis noch ein langer Weg, der durch entsprechend konzipierte Fortbildungen mit entsprechenden Unterstützungssystemen (z. B. Prozessbegleitung über einen längeren Zeitraum) flankiert werden sollte (Wahl, 2013).

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Anne Bender, Lehrerin an der Friedrich Realschule in Karlsruhe-Durlach sowie in der Lehrerbildung am Staatlichen Seminar für Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Arbeitsschwerpunkte: selbstgesteuertes Lernen, Projektarbeit, Erwachsenenbildung

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