Fragestellungen der Studie:

  • Welche Rolle spielen das Hören und Lesen von Texten in unterschiedlichen Sprachen für den Wortschatzerwerb von Kindern mit Migrationshintergrund?

Rezension zur Studie

Sander, A., Ohle-Peters, A., Hardy, I. & McElvany, N. (2018). Die Effektivität schriftlicher und kombiniert auditiv-schriftlicher Wortschatzfördermaßnahmen bei Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21(5), 951–971.FIS Bildung

Hohe Kompetenzen in der Schulsprache sind von großer Bedeutung für den Bildungserfolg. Dies betrifft in besonderem Maße die Schülerinnen oder Schüler, die im Alltag eine andere Familiensprache als die Schulsprache benutzen. Wenngleich der implizite Wortschatzerwerb durch das Lesen von Texten eine effektive Möglichkeit der Sprachförderung darstellt, ist unklar, ob Kinder mit nicht deutscher Herkunftssprache stärker profitieren, wenn sie die Texte zusätzlich in ihrer Familiensprache präsentiert bekommen und das Textlesen mit einer auditiven Darbietung kombiniert wird.

Sander et al. teilten 120 Schülerinnen und Schüler der 4. Jahrgangsstufe, die als Familiensprache nur oder auch türkisch sprachen, in drei Interventionsgruppen, denen zwei Texte in unterschiedlicher Realisierung vorgelegt wurden: Gruppe A las die Texte aufeinanderfolgend zweimal auf Deutsch, Gruppe B las die Texte zunächst in türkischer und anschließend in deutscher Sprache und Gruppe C hörte die (eingelesenen) Texte auf Türkisch und las sie anschließend auf Deutsch.

Im Ergebnis verbessert sich der Wortschatz in allen drei Gruppen, allerdings zeigt sich keine Überlegenheit der auditiv-schriftlichen Fördermaßnahme (Gruppe C), auch nicht bei geschlechtsspezifischer Betrachtung. Vielmehr ergibt sich ein tendenziell größerer Zuwachs in Gruppe A, in der der Text zweimal in deutscher Sprache gelesen wurde.

Sollten sich – angesichts der geringen Gruppengrößen, der nicht immer gegebenen statistischen Signifikanz von Befunden, des nicht ermittelten Ausmaßes der Sprachkompetenz in der Familiensprache und allgemeiner Probleme beim Einsatz von Multiple-Choice-Tests – die Befunde von Sander et al. bei dringend notwendigen ergänzenden Studien bestätigen, dann wären sie ein wichtiger Schritt bei der Auswahl richtiger Methoden für die Entwicklung der Sprachkompetenz von Kindern mit nicht deutscher Familiensprache und für die Verringerung herkunftsbedingter Disparitäten. Allerdings ist zu beachten, dass sich die Wertschätzung und der Einbezug von nicht deutschen Herkunftssprachen der Schülerinnen und Schüler unabhängig vom Wortschatzerwerb durchaus positiv auf das schulische Lernen auswirken kann.

Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was zum Beispiel in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.

Reflexionsfragen für Lehrkräfte:

  • Welche Rolle messe ich dem Wortschatzaufbau bei meinen Schülerinnen und Schülern für deren Lernzuwachs zu?
  • Sehe ich selbst Möglichkeiten, den Wortschatzaufbau zu unterstützen? Welche Methoden wende ich hierbei an? Spielt dabei ein kontextgestützter Wortschatzaufbau eine Rolle?
  • Welche Erfahrungen habe ich mit unterschiedlichen Methoden der Förderung des Wortschatzaufbaus gemacht? Welche Hinweise habe ich darauf, ob die von mir eingesetzten Methoden erfolgreich sind beziehungsweise wie erfolgreich diese sind?

Reflexionsfragen für Schulleitungen:

  • Wie wird an meiner Schule in allen Stufen und Fächern bildungsprachlicher und fachlicher Wortschatz aufgebaut? Wird ein systematischer und spiral aufgebauter Lernzuwachs ermöglicht?
  • Welche Synergieeffekte zwischen Schulsprache, Fremdsprachen, Herkunftssprachen werden an meiner Schule genutzt oder könnten an meiner Schule genutzt werden? Gibt es ein Gesamtsprachenkonzept oder Gesamtsprachencurriculum, das Wortschatzvermittlung einbettet?
  • Ist der systematische sukzessive Aufbau des Fachwortschatzes Bestandteil der Fachkonferenzarbeit jedes einzelnen Fachs?

Hohe Kompetenzen in der Schulsprache sind – weit über den Deutschunterricht hinaus – eine unverzichtbare Bedingung für den Bildungserfolg, da sie für den Kompetenzaufbau in einem weiten Feld schulischer Domänen eine unverzichtbare Voraussetzung darstellen. Hierbei kommt dem Wortschatz in der Schulsprache eine sehr große Bedeutung zu. Von diesen beiden Annahmen ausgehend, richten Sander et al. ihren Blick auf den schulsprachlichen Wortschatz und hier wiederum auf den Wortschatzumfang: Dieser käme als Ansatzpunkt zur Erklärung für Ursachen von Bildungsungleichheiten infrage, an der Wortschatzentwicklung könnten aber auch Maßnahmen zur Reduktion dieser Bildungsungleichheiten ansetzen.

Sander et al. verweisen auf ältere Untersuchungen, nach denen eine Erweiterung des Wortschatzes erfolgen kann, indem unbekannte Wörter in einem ansonsten gut verständlichen Textkontext präsentiert werden, sodass die Wortbedeutung aus dem umgebenden Text erschlossen werden kann. Hierbei könne sich allerdings für Personen, die mit einer anderen Familiensprache aufgewachsen sind, das Problem ergeben, dass ihnen häufig ein geringerer Wortschatz in der Schulsprache zur Verfügung stehe. Dieses Problem dürfte sich bei Schülerinnen oder Schülern mit Migrationshintergrund häufig stellen.

Den größten Anteil an Schülerinnen oder Schülern mit Migrationshintergrund stellten in Deutschland derzeit Lernende mit türkischer Familiensprache. Im statistischen Mittel nehme diese Gruppe im deutschen Bildungssystem eine ungünstige Stellung ein: niedrigere Bildungsabschlüsse, schwächere Leistungstestergebnisse und schlechtere Schulnoten seien in dieser Personengruppe überrepräsentiert, Chancen des Übertritts ins Gymnasium seien demgegenüber geringer. Die Berücksichtigung des sozioökonomischen Status der Betroffenen und der kulturellen Ressourcen erkläre diese Unterschiede nur teilweise, so dass Sprachkompetenzunterschiede in den Fokus der Betrachtung rückten, und bei diesen wiederum die Wortschatzentwicklung.

Aus dieser Situation leiten der Autor und die Autorinnen die Überlegung ab, die Familiensprache Türkisch als Hilfsmittel für die Erweiterung des Wortschatzes in der Schulsprache einzusetzen, indem die zum Wortschatzaufbau benötigten Texte sowohl in der Familien- als auch in der Schulsprache präsentiert werden. Zwar erbrachte eine frühere Untersuchung, in der die Familiensprache für die Wortschatzentwicklung berücksichtigt wurde, keinen zusätzlichen Vorteil für den Wortschatzerwerb im Deutschen (McElvany et al., 2017), allerdings seien dabei türkischsprachigen Grundschulkindern schriftliche Texte sowohl auf Türkisch als auch auf Deutsch vorgegeben worden. Da viele türkischsprachige Kinder aber häufig nur über geringe schriftsprachliche Türkischkenntnisse verfügten, weil sie die türkische Sprache meistens auditiv rezipierten, stehe der Versuch noch aus, die türkischen Texte mündlich zu vermitteln, um hierdurch den Wortschatzerwerb anzuregen.

Sander et al. ist allerdings bewusst, dass mündlich vermittelte Texte problematisch sein können: Nur im Fall einer schriftsprachlichen Textdarbietung bestehe regelhaft die Möglichkeit, durch wiederholtes Lesen eine vertiefte Analyse des Textkontextes zu erreichen, während mündliche Textangebote dies nicht ohne Weiteres ermöglichten.

Auf dieser Basis und unter Berücksichtigung des Forschungsstandes entwickeln Sander et al. drei Forschungsfragen:

  1. Welche Kombination der zweimaligen Darbietungsform von Texten (schriftlich vs. mündlich, muttersprachlich vs. schulsprachlich) führt zu einem höheren Zugewinn beim Wortschatz?
    Zum einen nehmen Sander et al. an, dass der Wortschatzzuwachs besser gelingt, wenn der türkische Text mündlich präsentiert wird, da die Kinder die mündliche Familiensprache gewohnt sind, wohingegen die Lesekompetenz in dieser Sprache eher gering ist.
    Zum anderen vermuten Sander et al. den größeren Wortschatzzuwachs, wenn die Textdarbietung in der Reihenfolge auditiv/türkisch à schriftlich/deutsch erfolgt, da durch den Einsatz der Muttersprache generell ein besseres Textverständnis zu vermuten ist.
  2. Weisen die im Rahmen der Untersuchung der Frage 1 ermittelten Ergebnisse geschlechtsspezifische Unterschiede auf?
    Sander et al. vermuten auf der Basis des Forschungsstandes, nach dem Jungen eine geringere Lesemotivation aufweisen, dass Jungen im Fall auditiv präsentierter Texte einen höheren Wortschatzgewinn haben als bei rein schriftlicher Darbietung.
  3. Beeinflussen das situationsspezifische Textverständnis und die allgemeine Lesekompetenz den Wortschatzzuwachs?
    Sander et al. gehen davon aus, dass das Textverständnis ein wichtiger Indikator dafür ist, ob ein Kontext aufgebaut werden konnte, der zur Erschließung der Bedeutung noch unbekannter Wörter führen kann. Dementsprechend lernten Kinder mehr Wörter, wenn das Textverständnis groß sei. Insofern ließe sich anhand der Kenntnis der Lesekompetenz der Wortschatzzuwachs vorhersagen.

Der Untersuchung liegen die Daten von zwei Erhebungen der Interventionsstudie „InterMut“ („Potenzial der Muttersprache zur Verringerung von Bildungsungleichheit – Wortschatzerwerb von Kindern nichtdeutscher Familiensprache vor zentralen Übergängen des Bildungssystems“) aus den Jahren 2012 und 2014 zum Wortschatzerwerb von Grundschulkindern der 4. Jahrgangsstufe zugrunde.

Stichprobe
Im Rahmen einer ersten Erhebung an 27 Klassen aus 12 Grundschulen wurden 15 schriftliche Texte zur Wortschatzförderung eingesetzt, welche die Lernenden in einem Zeitraum von je fünf Minuten pro Text im Deutschunterricht lasen. In einer zwei Jahre später durchgeführten Erhebung wurden zwei der Texte aus der ersten Erhebung in 17 Klassen von acht Grundschulen schriftlich und auditiv verwendet.

Für die Untersuchung verwendeten Sander et al. die Daten von 120 Kindern (56,7 % weiblich) mit türkischer Familiensprache im Durchschnittsalter von 9,71 Jahren. Der HISEI-Wert („highest international socio-economic index of occupational status“) als Indikator für den sozioökonomischen Status auf der Grundlage der elterlichen Berufe fiel erwartungsgemäß niedrig aus.

Die Kinder verteilten sich in den beiden Erhebungen auf drei Gruppen, in denen die identischen Texte in unterschiedlicher Sprache und Realisierung präsentiert wurden:

Erhebung 1:

  • Gruppe A (n = 52): Präsentation der Texte in der Abfolge schriftlich/deutsch → schriftlich/deutsch
  • Gruppe B (n = 33): Präsentation der Texte in der Abfolge schriftlich/türkisch → schriftlich/deutsch

Erhebung 2:

  • Gruppe C (n = 35): Präsentation der Texte in der Abfolge auditiv/türkisch → schriftlich/deutsch

 

Erhebungsinstrumente
Das Textmaterial umfasste zwei altersgerechte, narrative Texte im Umfang von ca. 300 Wörtern, die von einem Übersetzungsbüro ins Türkische übertragen und von einer Sprecherin auf Türkisch eingelesen wurden. Die Erhebung erfolgte im Klassenkontext durch geschulte Testleiterinnen oder Testleiter.

Im Rahmen eines Wortschatztests wurde vor und nach der Wahrnehmung der Texte jeweils anhand von 18 Begriffen der Wortschatz überprüft. Auf dem Testbogen wurden für jeden dieser Begriffe fünf Wörter als Synonym vorgeschlagen und die Kinder ordneten den Begriffen Synonyme zu. Für jede richtige Zuordnung wurde ein Punkt vergeben, sodass 18 Punkte zu erreichen waren. Aufgrund geringer Trennschärfe wurde der Test auf 15 Begriffe reduziert.

Um das Textverständnis zu prüfen, wurden von den Kindern nach dem ersten Lese- oder Hördurchgang zwei Fragen pro Text beantwortet, indem aus vier vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ausgewählt wurde. Hierdurch waren maximal vier Punkte zu erreichen. Aufgrund der stark linksschiefen Verteilung wurde die Auswertung dichotomisiert in „alle Fragen richtig beantwortet“ vs. „nicht alle Fragen richtig beantwortet“.

Die Lesekompetenz (für die deutsche Sprache) wurde durch insgesamt 15 Fragen und Aufgaben festgestellt, die sich auf kurze Texte bezogen, von denen die Kinder aus jeweils vier unterschiedlichen Antworten und Satzergänzungen die passende auswählen. Dementsprechend waren bei dieser Aufgabe maximal 15 Punkte zu erreichen.

Als Hintergrundvariablen wurden demographische Angaben (Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Status auf Grundlage der Berufe der Eltern) sowie das Interesse an Texten (10 Items), das Vorwissen über die Textinhalte (8 Items) und kognitiv-figurale Grundfähigkeiten (25 Items aus dem kognitiven Fähigkeitstest (KFT) von Heller und Perleth (2000) erfasst.

Auswertung
Zunächst wurde mithilfe von Varianzanalysen für die Hintergrundvariablen festgestellt, ob von einer Vergleichbarkeit der Untersuchungsgruppen auszugehen ist. Anschließend wurde sowohl für die Gesamtgruppe als auch für die drei Gruppen (A, B, C) die Lernwirksamkeit der jeweiligen Maßnahme festgestellt (t-Test). Ein dritter Schritt umfasste Kovarianzanalysen in Bezug auf die drei Forschungsfragen mit dem Wortschatz-Posttest als abhängiger Variable und dem Wortschatz-Prätest und Alter als Kovariaten.

Im Rahmen der Voranalyse wurde festgestellt, dass sich die Kohorten der zwei Erhebungszeitpunkte signifikant im Hinblick auf das Alter und die kognitiv-figuralen Grundfähigkeiten unterscheiden, nicht jedoch in Bezug auf Geschlecht, sozioökonomischen Status (HISEI), Vorwissen und Interesse am Text. Der Test der kognitiven Fähigkeiten (KFT) wurde in den weiteren Auswertungen nicht als Kovariate berücksichtigt, da er sich unter Kontrolle des Wortschatz-Prätests nicht als signifikanter Prädikator des Wortschatz-Posttests erwies und sich das Ergebnismuster nicht änderte. In den Konstrukten zur Beantwortung der Forschungsfragen (Wortschatztest, Textverständnis, Lesekompetenz) bestehen keine statistisch signifikanten Unterschiede.

Die Wortschatztests ergeben beim Vergleich von Prä- zu Posttest im Mittel einen Anstieg von 2.29 auf 3.44 richtig zugeordnete Synonyme. Das zeigt, dass es gelungen ist, Zielwörter zu identifizieren, die den Kindern zuvor unbekannt waren, und dass im Mittel etwa ein Wort in den Wortschatz aufgenommen wurde.

Effekt der Textdarbietungsmodalitäten
Es zeigt sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen B (Abfolge schriftlich/türkisch → schriftlich/deutsch) und C (Abfolge auditiv/türkisch → schriftlich/deutsch). Dementsprechend erzielt die auditiv/schriftliche Darbietung kein besseres Resultat als die ausschließlich schriftliche.

Geschlechtereffekte
Sowohl für Jungen als auch für Mädchen können statistisch signifikante Wortschatzzuwächse nachgewiesen werden. Lediglich in Gruppe B ist der Zuwachs bei den Jungen nicht signifikant. Zwar ist rein deskriptiv bei Gruppe C ein höherer Zuwachs bei den Jungen zu erkennen als bei den Mädchen, während in Gruppe B der Zuwachs bei Jungen und Mädchen ähnlich stark ist. Allerdings sind Vorteile des auditiv-schriftlichen Verfahrens für Jungen nicht statistisch signifikant zu belegen.

Effekt von Textverständnis und Lesekompetenz
Der erwartete positive Effekt des Textverständnisses für die Ausbildung des Wortschatzes wird bestätigt und gilt offenbar für alle untersuchten Darbietungsformen. Auch die Vorhersage des Wortschatzes auf Basis der Lesekompetenz wird bestätigt.

Angesichts der großen Bedeutung der Sprachkompetenz für den Bildungserfolg ist die Suche nach Methoden (auditiv/schriftlich, mit/ohne Unterstützung durch die Familiensprache), um den Wortschatz aufzubauen, ein Beitrag zur Herstellung von Bildungsgerechtigkeit. Die Tatsache, dass ein erheblicher Teil der Schulkinder eine andere Familiensprache als Deutsch hat, lässt auch den Versuch, die Bildungssprache zum Wortschatzaufbau zu nutzen, zweckdienlich erscheinen. Vor diesem Hintergrund ist die Untersuchung von Sander et al. zu begrüßen, da sie auf eine Möglichkeit abzielt, Bildungsungerechtigkeit zu überwinden und Kindern die Chance zu einer vollen Entwicklung ihres Potenzials zu geben. Auch die damit verbundenen Fragen nach einer Geschlechtsdifferenzierung und dem Einfluss des Textverständnisses beim Wortschatzerwerb sind sinnvoll.

Design
Hinsichtlich des Forschungsdesigns treten allerdings eine Reihe von Problemen auf. Die untersuchten Gruppen sind mit 33 bis 52 Probanden nicht gerade groß, sodass bereits einzelne Ausreißer Ergebnisse verzerren können. Das gilt vor allem dann, wenn die Gruppen weiter – zum Beispiel nach Geschlecht – unterteilt werden und dann zum Teil nur noch 13 Mitglieder haben.

Die Gruppen sind zudem offenbar nur in begrenztem Umfang homogen; so wurden signifikante Unterschiede hinsichtlich der kognitiven figuralen Grundfähigkeiten der Kinder festgestellt, ohne dass mögliche Konsequenzen dieses Befundes für das Untersuchungsergebnis diskutiert werden. Auch erfolgen alle Tests als Zuordnungsaufgabe zu vorgegebenen Lösungen, das heißt letztlich als Varianten von Multiple-Choice-Verfahren. Sie tragen somit alle Schwächen dieses Verfahrens: Diese reichen von der Gelegenheit, richtige Lösungen durch bloßes Raten zu erzielen, bis zur Möglichkeit, falsche Antworten von vorneherein dadurch auszuschließen, dass die von einem Kind erwogenen Lösungen im angebotenen Antwortkorpus zufälligerweise nicht enthalten sind. Darüber hinaus wird die Sprachkompetenz der Schülerinnen und Schüler jenseits des Wortschatzes weder für die Schul- noch für die Familiensprache ermittelt. So kann zum Beispiel die Erschließung des Wortkontextes, die für den Wortschatzaufbau notwendig ist, auch an der mangelnden Vertrautheit mit syntaktischen Strukturen oder an Sätzen, die zu lang oder zu komplex für das Kind sind, scheitern. Darüber hinaus fällt auf, dass die für die theoretische Begründung des Untersuchungsdesigns wesentliche Behauptung, dass für die Kinder in ihrem Alltag eine schriftliche Darbietung ihrer Familiensprache eine geringe Rolle spiele, zwar postuliert, aber nicht empirisch abgesichert wird. Zudem wird ein Effekt auf den Wortschatzzuwachs in der türkischen Sprache nicht untersucht, der gerade im Hinblick auf die Wertschätzung und Bildung von Mehrsprachigkeit in diesem Zusammenhang interessant gewesen wäre.

Ergebnisse
Sander et al. heben hervor, dass alle untersuchten Wortschatzförderansätze effektiv sind. Allerdings sei der erwartete größere Erfolg im Fall einer auditiv-familiensprachlichen Darbietungsweise (Gruppe C) nicht zu belegen. Die festgestellten Effektstärken sprächen eher für eine größere Wirksamkeit zweimaligen Textlesens in der Schulsprache (Gruppe A). Die tendenziell erkennbare Überlegenheit der bei Gruppe A angewandten Methode sei aber nicht statistisch signifikant abgesichert. Die Autorinnen und der Autor führen das darauf zurück, dass die Kinder eventuell damit überfordert sind, die auditive Rezeption im Hinblick auf den spezifischen Wortschatzerwerb umzusetzen. Sie folgern, dass Wortschatzerwerb durch Lesetexte eine alltägliche, effektive und mit geringem Aufwand verbundene Möglichkeit des Wortschatzaufbaus sei.

Der von Sander et al. anhand von Effektstärken postulierte höhere Wortschatzgewinn bei zweimaliger schriftlicher Textpräsentation auf Deutsch ist für den Rezensenten anhand des mitgeteilten statistischen Materials allerdings nicht eindeutig.

Obwohl sich in der Untersuchung von Sander et al. keine nachweisbare zusätzliche Wirksamkeit einer (schriftlichen oder mündlichen) Einbeziehung der Familiensprache für den Wortschatzerwerb im Deutschen zeigt, sollten Effekte der mehrsprachigen Sprachförderung, die in der Forschung durchaus sichtbar sind, für unterrichtliche und schulische Planungen berücksichtigt werden.

Das gilt zum einen für das fachliche Lernen; so können zum Beispiel Schüler-Meyer, Prediger, Wagner und Weinert (2019) in ihrer Studie zum Einbezug mehrsprachiger Ressourcen im Mathematikunterricht zeigen, dass sich bei Lernenden, die Kompetenzen in der deutschen und in der türkischen Sprache besitzen, insbesondere die gemischte Nutzung von Deutsch und Türkisch positiv auf den Lernzuwachs in der Bruchrechnung auswirkt.

Es gilt aber auch für den allgemeinen Sprachgebrauch: In einer vergleichenden Untersuchung zweier Fallgruppen aus 1. Klassen deutet sich an, dass mehrsprachig aufwachsende Kinder bildungssprachliche Elemente in Grammatik und Wortschatz zwar weniger produktiv verwenden, dass sie aber über vergleichsweise größere metasprachliche Fähigkeiten zum Beispiel im Nachfragen nach unbekannten Wörtern oder im Aufklären von Missverständnissen verfügen (Hövelbrink, 2014).

Zudem bestätigen sich Vorteile für das Erlernen von Fremdsprachen: Die Längsschnittstudie DESI („Deutsch Englisch Schülerleistungen International“) zeigt anhand der Sprachkompetenzen von etwa 11.000 Schülerinnen und Schülern in den Fächern Deutsch und Englisch zu Beginn und am Ende der Jahrgangsstufe 9 bessere Fremdsprachenkompetenzen im Englischen bei Jugendlichen, die mehrsprachig aufgewachsen sind (Hesse, Göbel & Hartig, 2008).

Daher sollten daraus, dass in der Untersuchung von Sander et al. ein direkt messbarer Wortschatzzuwachs im Deutschen ausbleibt, keine voreiligen Schlüsse in Bezug auf die Chancen mehrsprachiger Sprachförderung gezogen werden.

Den fehlenden Unterschied zwischen Jungen und Mädchen beim Wortschatzerwerb im Rahmen kombiniert auditiver und schriftlicher Textpräsentation erklären Sander et al. durch ältere Befunde, welche für die untersuchte Grundschulpopulation keine geschlechtsspezifischen Differenzen beim Hörverstehen feststellten. Dass sich auch bei verschiedenen methodischen Vorgehensweisen keine bedeutsamen Unterschiede zeigen, ist für Theorie und Praxis von Interesse.

Auch ihre Ergebnisse bezüglich der Zusammenhänge von Textverständnis und Lesekompetenz für den Wortschatzzuwachs werten die Autorinnen und Autoren als Bestätigung der Befunde älterer Forschungen.

Sander et al. sehen auch Limitationen ihrer Untersuchung: So wäre für die Feststellung der Auswirkungen der auditiven Textdarbietung auf Türkisch eine vorherige Erfassung des Hörverständnisses der Kinder im Türkischen sinnvoll gewesen. Auch liefere die Untersuchung nur Befunde zur Wirkung einer kurzen Intervention, die keine Aussagen zu längerfristigen Entwicklungen von Textverständnis und Wortschatzzuwachs zuließen.

Abschließend stellt die Autorengruppe mögliche zukünftige Forschungen dar, die zum Beispiel Ansätze expliziten und impliziten Wortschatzerwerbs verknüpfen oder rein hörbasierte beziehungsweise simultane Lese-Hör-Textdarbietungen untersuchen könnten.

Sollten sich die Befunde von Sander et al. in zukünftigen Untersuchungen bestätigen und weiter konkretisieren lassen, dann ergäben sich darüber hinaus eventuell auch Konsequenzen für eine Individualisierung der Förderung, zum Beispiel im Hinblick auf die Eignung oder Nichteignung von Methoden für bestimmte Lernziele.

Diese Rezension wurde erstellt von:
Dr. Heinz Sander, Vera Eberl,

- Dr. Heinz Sander ist Lehrer am Gymnasium der Stadt Kerpen – Europaschule und Privatdozent an der Universität zu Köln

- Vera Eberl ist pädagogische Mitarbeiterin an der Qualitäts- und Unterstützungsagentur – Landesinstitut für Schule (QUA-LiS NRW), Soest. Arbeitsschwerpunkte: Sprachliche Bildung, Mehrsprachigkeit, Kooperation von Wissenschaft und Praxis

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