Fragestellungen der Studie:
Rezension zur Studie
Mathiebe, M. (2019). Zum Zusammenhang von Wortschatz und Schreibkompetenz. In I. Kaplan & I. Petersen (Hrsg.), Rechtschreibkompetenzen messen, beurteilen und fördern (S. 57–77). Münster, New York: Waxmann.Die Rolle des Wortschatzes wird in Modellen zum Schreibprozess und zur Schreibkompetenz oft nicht angemessen abgebildet und bisher ist unklar, inwieweit lexikalische Fähigkeiten zur Schreibkompetenz beitragen und welche sprachlichen Phänomene als Indikatoren dienen können. Moti Mathiebe fokussiert bildungssprachliche Aspekte und geht zwei Fragen nach:
Zur Klärung der Forschungsfragen wurden Berichts- und Instruktionstexte ausgewertet, die 277 Schülerinnen und Schüler der 5. und 9. Klasse in Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen unter Anleitung nach Bildvorlagen verfasst hatten. Als bildungssprachlich-lexikalische Mittel wurden der Anteil an Wortwiederholungen, der Gebrauch komplexer Wörter, erweiterter Nominalphrasen, nicht-bildungssprachlicher Verben und die sachlich und stilistisch angemessene Verwendung von Textbausteinen berücksichtigt. Darüber hinaus wurde die globale Textqualität kriteriengestützt eingeschätzt.
Sowohl bei den Instruktions- als auch bei den Berichtstexten zeigt sich ein verstärkter Einsatz bildungssprachlicher Mittel in der höheren Klassenstufe und im Gymnasium. Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als alleiniger Familiensprache verwenden mehr komplexe Wörter in Berichtstexten und weniger umgangssprachliche Wörter in Instruktionstexten, sie äußern sich häufiger inhaltlich explizit und gebrauchen mehr sprachlich angemessene obligatorische Textbausteine. Zudem besteht für fast alle bildungssprachlichen Mittel ein statistisch signifikanter Zusammenhang mit der globalen Textqualität, so dass sie als Indikatoren für Schreibkompetenz gelten können.
Mathiebe gelingt es, ihre Forschungsfragen im Rahmen einer – von Kleinigkeiten abgesehen – sinnvoll strukturierten Studie zu beantworten – wenngleich die Ergebnisse den Schulpraktiker kaum überraschen dürften. Die Ableitung von konkreten Unterrichtsmaßnahmen fällt jedoch schwer, da viele Variablen bei der Herausbildung lexikalischer Fähigkeiten offenbleiben. Somit wird das Forschungsdesiderat zur Modellierung des Schreibprozesses und der ihn steuernden Prozesse nicht aufgelöst und es besteht weiterer Forschungsbedarf zum Thema Bildungssprache.
Nachfolgende Reflexionsfragen sind ein Angebot, die Befunde der rezensierten Studie auf das eigene Handeln als Lehrkraft oder Schulleitungsmitglied zu beziehen und zu überlegen, inwiefern sich Anregungen für die eigene Handlungspraxis ergeben. Die Befunde der rezensierten Studien sind nicht immer generalisierbar, was z. B. in einer begrenzten Stichprobe begründet ist. Aber auch in diesen Fällen können die Ergebnisse interessante Hinweise liefern, um über die eigene pädagogische und schulentwicklerische Praxis zu reflektieren.
Reflexionsfragen für Lehrkräfte:
Reflexionsfragen für Schulleitungen:
Angesichts der Vielzahl von Modellen, die darauf abzielen, den Schreibprozess sowie die ihn jeweils steuernden Komponenten abzubilden, äußert die Autorin den zunächst überraschenden Befund, dass der Formulierungsprozess selbst dabei bislang kaum berücksichtigt wird, die Lexik wird gar nicht betrachtet. Gleichzeitig würden Versuche, für die Schreibkompetenz in der Didaktik anwendbare Modelle zu konstruieren, dem Wortschatz und der allgemeiner gehaltenen Ausdrucksfähigkeit zwar einen großen Raum einräumen, allerdings gebe es noch keine Erkenntnisse zur Hierarchisierung und zum Zusammenwirken der einzelnen Komponenten der Schreibkompetenz. Auch stehe eine empirische Absicherung der Modelle nach wie vor aus.
Dieser Ausgangssituation entsprechend leitet die Autorin Forschungsbedarf ab, zumal Schulleistungsstudien der Sekundarstufe I zu den lexikalischen Leistungen alarmierend schlechte Befunde belegen würden.
Allerdings gestalte sich die Untersuchung des Wortschatzes angesichts der Vielzahl von sprachsystematischen Eigenschaften eines Wortes (Isolierbarkeit, Bedeutungscharakter, Morphemstruktur, Funktion als Phrasenkern, kommunikative Funktion, Mittel zur Gefühls-/Intentionsübermittlung …) problematisch und lasse sich nur anhand der konkreten Textproduktion beim erfolgreichen Sprachhandeln rekonstruieren. Auch müsse aufgrund der bisherigen sprachwissenschaftlichen Erkenntnisse zum Aufbau des Wortschatzes damit gerechnet werden, dass dieser sich von einem zunächst rein quantitativen Prozess (Vermehrung der Einträge im mentalen Lexikon) ab dem Schuleintritt verstärkt zu einem qualitativen Prozess wandele: Die Nuancierungen bereits bestehender Lexikon-Einträge würden vertieft und generell entwickelten sich die Möglichkeiten, sich im Rahmen einer „Bildungssprache“ abstrakter und sachangemessener auszudrücken.
Auf der Basis dieses Forschungsstandes formuliert die Autorin Fragestellungen und Hypothesen:
Durch die Beantwortung dieser Fragen erwartet die Autorin Erträge sowohl für
Die Studie der Autorin schließt sich an das Forschungsprojekt „Diagnose und Förderung von Teilkomponenten der Schreibkompetenz“ an, welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.
Stichprobe
Der Untersuchung lagen die Daten von 277 Schülerinnen und Schülern zugrunde. Diese besuchten die Klassenstufen 5 (82 männlich, 64 weiblich) oder 9 (72 männlich, 59 weiblich) und repräsentierten damit Durchschnittsalter von 11,1 bzw. 15,7 Jahren. Dabei wurden Lernende von Haupt- (n = 82), Realschulen (n = 89) und Gymnasien (n = 106) erfasst, von denen 135 zu Hause ausschließlich deutsch sprachen, während 142 dort auch (n = 136) oder ausschließlich (n = 6) eine andere Sprache verwendeten. Die Autorin merkt an, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit einer anderen als der deutschen Familiensprache in der Klassenstufe 5 signifikant größer ist als in der Klassenstufe 9 und bewertet dies als ungünstige Ausgangslage ihrer Untersuchung.
Erhebungsinstrumente
Die Schülerinnen und Schüler verfassten an zwei Tagen zwei Texte, wofür sie jeweils zehn bis 15 Minuten Zeit hatten. Zum einen verfertigten sie als Instruktionstext ein Rezept für ein Nudelgericht, zum anderen schrieben sie einen Berichtstext über einen Unfall. In beiden Texten nahmen sie Bezug auf visuelle Vorlagen: Im Fall des Instruktionstextes orientierten sie sich an einer sechsteiligen Bildabfolge, welche die wesentlichen Handlungsschritte des Nudelkochens wiedergab, beim Berichtstext erfolgte die Vorgabe durch eine Abbildung der Unfallsituation (und der Position, welche der bzw. die Berichtende dabei einnehmen sollte).
Auswertung
Die von den Schülerinnen und Schülern produzierten Texte wurden elektronisch transkribiert. Dabei erfolgte eine orthographische Korrektur, Grammatik- und Interpunktionsfehler wurden jedoch beibehalten. Im Anschluss wurden die Texte mit Hilfe des Programms „TreeTagger“ in Lemmata (und die zugehörigen Wortarten) zerlegt.
Für die anschließende Auswertung setzte die Autorin Maße ein, welche bereits in empirischen Arbeiten zur Überprüfung linguistischer Merkmale in Texten eingesetzt wurden. Dabei fokussiert sich die Untersuchung auf bildungssprachliche Aspekte des Textes. Einerseits fand eine Quantifizierung der bildungssprachlichen Mittel pro Text statt, zweitens erfolgte eine Abschätzung der sprachlichen Angemessenheit dieser Mittel. Während die bloße Quantifizierung objektiv auf der Basis linguistischer Kenntnisse erfolgen kann, erfordert die Abschätzung der Angemessenheit Expertise im Bereich der Schreibkompetenz und Linguistik und wurde daher zunächst durch jeweils zwei Personen vorgenommen. Allerdings zeigten Tests bei Punkt 5 der unten genannten sprachlichen Merkmale, dass hier auch eine zuverlässige Einschätzung von einer Person allein durchgeführt werden konnte, so dass in diesem Fall in 80 % der Texte auf eine zweite Beurteilung verzichtet wurde.
Bei der Auswertung wurden folgende Merkmale berücksichtigt:
Ob sich Unterschiede im Hinblick auf die Häufigkeit der Verwendung der in den Texten festgestellten bildungssprachlichen Merkmale und die Klassenstufen, die Schularten und die familiensprachliche Situation belegen lassen, wurde mittels Varianzanalysen untersucht.
Darüber hinaus wurde eine globale Abschätzung der Qualität der produzierten Texte vorgenommen. Von zwei linguistisch geschulten Personen wurde in Ja/nein-Entscheidungen beurteilt, ob Texte
Die Frage, inwiefern die festgestellten sprachlichen Variablen mit der globalen Qualität zusammenhängen, wurde mit der Erstellung bivariater Korrelationen untersucht. Teilweise musste dabei der Einfluss der Textlänge berücksichtigt werden, in diesen Fällen wurden Partialkorrelationen errechnet.
Befunde für die sprachlichen Variablen:
Es besteht in fast allen Fällen ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen der globalen Textqualität und den untersuchten sprachlichen Mitteln: Lexikalische Vielfalt, Einsatz inhaltlich wichtiger Textbausteine, Einsatz sprachlich angemessener Textbausteine gehen mit höheren Werten bei der Einschätzung der Textqualität einher. Der Einsatz von Mitteln der Wortbildung korreliert in Klasse 5 positiv mit der Textqualität, in Klassenstufe 9 gilt dies immerhin für die Berichtstexte. Ausschließlich in Klasse 5 besteht eine positive Korrelation zwischen dem Einsatz erweiterter Nominalphrasen und der Textqualität. Die zu erwartende negative Korrelation zwischen der Textqualität und dem Gebrauch unangemessener Vollverben ist für Klassenstufe 9 für beide Texttypen zu belegen, in Klasse 5 aber lediglich für Instruktionstexte.
Die Autorin hebt hervor, dass die Studie erwartungskonform den verstärkten Einsatz bildungssprachlich-lexikalischer Mittel mit steigender Klassenstufe anzeigt und auch die erwarteten Zusammenhänge mit den Schularten belegt. Einflüsse der Familiensprache zeigen sich meist nur dann, wenn die Angemessenheit sprachlicher Mittel untersucht wird.
Allerdings verweist die Autorin darauf, dass die Verteilung der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der Familiensprache in Klasse 5 und 9 ungünstig war, und mahnt für zukünftige Studien eine diesbezüglich ausgewogenere Auswahl der Probandinnen und Probanden an. Auch hält sie es für geboten, stärker die Passung der verwendeten Mittel zu Aufgabenstellung und Kontext zu untersuchen, da sie sich hieraus bessere Implikationen für geeignete Fördermaßnahmen verspricht. So weist Mathiebe darauf hin, dass die Verwendung erweiterter Nominalphrasen in der Aufgabe zur Erstellung des Berichtstextes bereits durch das hierfür vorgegebene Bildmaterial angeregt worden ist: Die für den Unfallbericht auszuwertende Abbildung habe Autos in unterschiedlichen Farben dargestellt, so dass erweiterte Nominalphrasen kaum zu vermeiden gewesen seien. Auch sei zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Textsorten auch verschiedene bildungssprachlich-lexikalische Mittel evozierten und diese wiederum in unterschiedlichem Ausmaß je nach der Textsorte mit der Textqualität zusammenhängen könnten. Daraus ergebe sich, dass eine realistische Abschätzung der Schreibkompetenz nur bei der Auswertung mehrerer unterschiedlicher Textprodukte möglich sei. Auch sei es notwendig, für Untersuchungen der lexikalischen Ebene den Wortschatzbegriff zu erweitern, zum einen um Aspekte der Bildungssprache, die gegebenenfalls auch über einzelne Lexeme hinausgehen müssten, zum anderen um ein Angemessenheitskriterium im Hinblick auf die Passung zum Kontext des Textes.
Darüber hinaus mahnt die Autorin an, dass nach wie vor für die Konstruktvalidierung von „Bildungssprache“ noch weitere Untersuchungen geboten sind, etwa in den Bereichen Mündlichkeit, bei komplexen Schreibaufgaben (z. B. argumentative Texte) und auch im Hinblick auf weitere Altersgruppen der Probandinnen und Probanden.
Angesichts der Tatsache, dass der Wortschatz einen unverzichtbaren Bestandteil der Sprache darstellt, überrascht es, dass dieser in den Modellen zum Schreibprozess bislang lediglich eine verschwindende Rolle spielt. Die Untersuchung der Autorin liefert damit notwendige Erkenntnisse zu einem weitgehenden Forschungsdesiderat. Das gilt umso mehr, als Mathiebe nicht rein schematisch Daten gewinnt, sondern einen Bezug dieser Daten zu dem Konstrukt Bildungssprache/globale Textqualität herstellt. Letztlich sichert sie damit Kriterien ab, welche für die Erfassung des Konstruktes Bildungssprache herangezogen werden können. Auch wenn es möglicherweise weitere, von der Autorin nicht erfasste Kennzeichen für die Bildungssprache auf lexikalischer Ebene gibt, stellt die Arbeit einen wichtigen Schritt dar, um das Konstrukt Bildungssprache präziser als bisher abzugrenzen.
Die Differenzierung der Ergebnisse nach Klassenstufe, Schulform und Familiensprache ist aus mehreren Gründen zwiespältig zu betrachten: Uneingeschränkt positiv hervorzuheben ist, dass die Befunde Zusammenhänge zwischen diesen drei Faktoren und den lexikalischen Kompetenzen aufzeigen – wenngleich zumindest die Zusammenhänge von Klassenstufe, Schulform und lexikalischen Fähigkeiten den Schulpraktiker kaum überraschen dürften. Zu den von der Autorin aufgeworfenen Fragestellungen liefert die Untersuchung also überzeugende Antworten, was auch im Hinblick auf die Einbeziehung der globalen Textqualität gilt.
Problematisch wird es allerdings, wenn man versucht, Ursache-Wirkungs-Schemata zu rekonstruieren, was aber dringend geboten ist, wenn man daran interessiert ist, den Schreibprozess in Verbindung mit den ihn steuernden Faktoren zu bringen und damit auch sinnvolle Ableitungen für die Schreibdidaktik machen zu können:
Worauf beruht zum Beispiel der stärkere Gebrauch bildungssprachlicher Mittel mit steigender Klassenstufe? Auf einer allgemein längeren Erfahrung des Schülers oder der Schülerin mit der Sprache? Auf einer zunehmenden Komplexität des im Unterricht angebotenen Textmaterials? Auf einer gegebenenfalls biologisch begründeten stärkeren geistigen Reife der Schülerinnen und Schüler? Auf einer Reaktion des Schülers/der Schülerin auf mit dem Lebensalter steigende sprachliche Anforderungen von Schule und Gesellschaft an ihn/sie?
Welche Bedeutung für eine Modellierung der Schreibkompetenz kommt der Verteilung sprachlich unterschiedlich kompetenter Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Schulformen zu? Ist eine solche Differenzierung eine wenig veränderbare Gegebenheit oder gibt es Verfahren, die lexikalischen Kompetenzen spürbar zu steigern? Müssen sich diese Verfahren nach den Schulformen unterscheiden?
Ist es sinnvoll, beim Blick auf die Familie ausschließlich auf die Familiensprache zu fokussieren? Gibt es hier nicht auch andere Aspekte (sozioökonomische Situation, Affinität zu Bildungs- und Kulturangeboten …), die von Bedeutung sein könnten?
Schließlich gerät das Kind selbst aus dem Blick. Welche konkreten sprachlichen Angebote stehen ihm für die Entwicklung von Bildungssprache zur Verfügung? Sind sein Umfeld oder es selbst sprachlich engagiert oder gleichgültig? Wie wählt es aus den Sprachangeboten aus – nimmt es zum Beispiel freiwillig verstärkt bildungssprachliche Angebote zur Kenntnis (liest es z. B. in seiner Freizeit?)?
Damit kann die Untersuchung von Mathiebe zwar insofern als gelungen gelten, dass sie die von ihr aufgeworfenen Fragestellungen auf methodisch gelungene Weise beantwortet. Allerdings müsste die Autorin begründen, warum sie in die Untersuchung lexikalischer Mittel auch die sachliche und stilistische Verwendung von Textbausteinen einbezieht, und auch eine höhere Probandenzahl wäre zur Absicherung der Ergebnisse sinnvoll gewesen. Andererseits bleiben trotz der Untersuchung von Mathiebe noch viele Fragen zur Entwicklung der Bildungssprache offen, so dass deren Einbeziehung in Modelle zur Textproduktion derzeit nur begrenzt möglich ist. Auch ist noch nicht klar zu erkennen, inwiefern sich die Ergebnisse der Untersuchung konkret didaktisch ausnutzen lassen. In den beiden zuletzt genannten Punkten deutet sich umfangreicher Forschungsbedarf an.
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